Aus den Akten Pinker vs. Anarchie 8: Eine neue Anarchie

von Stefan Blankertz

Die prä-staatliche Herrschaftslosigkeit der Ur-Anarchie erhielt verwandtschaftlicher Beistand aufrecht. Wo das Netzwerk der Verwandtschaft endete, geriet die Ur-Anarchie ins Trudeln. Darum kann eine post-staatliche Anarchie nicht in der bloßen Wiederherstellung der Ur-Anarchie bestehen. Die neue Anarchie muss alle Elemente des ur-anarchischen Rechts enthalten, sie aber auf einer höheren Stufe der Komplexität und Stringenz verwirklichen. Die Elemente des prä-staatlichen Rechts,[1] uns extra- und sub-staatlich wohlbekannt, sind:

Eigentum. »Dass […] von keiner Produktion, also auch von keiner Gesellschaft die Rede sein kann, wo keine Form des Eigentums existiert, ist eine Tautologie. Eine Aneignung, die sich nichts zu eigen macht, ist eine contradictio in subjecto.«[2] Dies wusste kein geringer als Karl Marx (anders als sein Freund Friedrich Engels). Eigentum übersteigt den bloßen Besitz durch die Anerkennung von – bzw. die Rücksichtnahme auf – dessen Rechtmäßigkeit. Die Unterscheidung zwischen »ich kann alles, was ich begehre, in Besitz nehmen« und »außer das, was bereits jemand Anderes in Besitz hat«, die Thomas Hobbes ebenso wie Jean-Jacques Rousseau erst als staatlich gesatzt für möglich hielten, ist – natürlich – tausende Jahre älter als der Staat. Sie hebt an mit der menschlichen Gesellschaft,[3] mit der Produktion oder der Arbeit. Alles, was jemand findet, anfertigt, erjagt oder eintauscht, ist sein Eigentum. Niemand Anderes darf es sich ohne dessen Zustimmung aneignen, sonst droht Konflikt. Das Erstaneignungsrecht ist so alt und so tief verwurzelt, es ist so einleuchtend und so bar einer sinnvollen Alternative, dass keiner es im heute sogenannten privaten Umfeld verletzen kann, ohne Empörung auszulösen: Das Gefundene oder Gefertigte, das Erjagte oder Erworbene gehört dem Finder, Produzenten, Jäger oder Käufer, es gehorcht ihm, es hängt ihm an, es kleidet ihn als sein Eigen wie eine zweite Natur, eine soziale Haut. Nur unter der Bedingung fortgesetzter Gewalteinwirkung oder später -androhung kann sich eine Person oder eine Gruppe von Personen es als ihr »Recht« herausnehmen, vom Finder, Produzenten, Jäger oder Händler alles oder einen Anteil seines Eigentums ohne Zustimmung und ohne Gegenleistung zu verlangen. Gegen die Existenz von Eigentum spricht – natürlich – nicht, wenn Produkte, die aus einer Kooperation wie etwa der gemeinsamen Jagd hervorgegangen sind, allen Beteiligten nach gewissen Regeln zustehen, Regeln, die möglicherweise dem Überkommenen geschuldet sind und nicht jedes Mal aufs Neue ausgehandelt zu werden brauchen. Gegen die Existenz von Eigentum spricht – ebenso natürlich – nicht, wenn Produkte, besonders Mittel der Produktion, einem (familiären) Verband gemeinsam gehören und insofern auch nicht individuell veräußert oder vererbt werden können.[4] Gegen die Existenz von Eigentum spricht – natürlich – auch nicht, wenn es an die Stelle von unmittelbarem Warentausch oder Tausch Ware gegen Geld eine »Geschenkwirtschaft« tritt, solange niemand sich ohne Zustimmung des Produzenten der Produkte bedienen kann, selbst wenn die gegenseitigen Geschenkleistungen ritualisiert sind und »erwartet« werden. Gegen die Existenz von Eigentum spricht – natürlich – schließlich nicht, wenn gewisse Mittel der Produktion alle Mitgliedern eines Habitats gemeinsam nutzten, solange nicht auch Fremden der gleiche Zugang zu ihnen zusteht. Entscheidend ist, dass eine Person oder eine definierte Gruppe das gesonderte, exklusive Verfügungs-, Ge- bzw. Verbrauchs-, Veräußerungs- und Nutzungsrecht (»Sondereigentum«) inne hat. Ein solches Eigentumsrecht entsteht allerdings pragmatisch;[5] es ist – natürlich – nicht hervorgegangen aus den Hirnen eines Gremiums von Logikexperten, die für alle denkbaren Fälle und für alle denkbaren Zeiten eine wasserdichte Definition liefern wollten. Solange Ressourcen im Überfluss vorhanden sind und eine Inbesitznahme keine Minderung des Zugriffs später Kommender bedeutet, macht es wenig Sinn, Eigentum an ihnen anzumelden, so wie es Thomas Reid[6] noch für die Luft statuierte. Vor allem gilt dies für den Boden vor der Erfindung des Ackerbaus in der neolithischen Revolution. Nomaden haben keine Verwendung für ein stabiles Grundeigentum, höchstens gilt die allgemeine Regel der Erstaneignung, d.h. ein Habitat, das ein Clan – vorübergehend – aktuell nutzt, kann nicht von einem anderen beansprucht werden. Das Grundeigentum bedarf einer Präzisierung des Erstaneignungsrechts durch die Tatsache der Nutzung. Der Morgen etwa ist die Fläche, die ein Bauer von morgens bis mittags zu pflügen vermochte; darum auch »Tagewerk« genannt. Wiederum ist es nur einer gewaltbereiten Bande möglich, sich das »Vorrecht« auf eine größere Fläche zu sichern.

Die Existenz von Eigentum ist die Voraussetzung dafür, dass ein nicht-staatliches Recht sich herausbilden kann, denn nur eine solche ermöglicht es, überhaupt soetwas wie einen »Schaden« festzustellen und damit ein Opfer auszumachen. Opfer ist jemand, dessen Eigentum ein Schaden zugefügt wird. Darunter fallen auch Körperverletzung und Tötung; sie verlangen nach »Schadenersatz«. Insofern entspricht Murray Rothbards abstrakter und für viele heute befremdlich klingender Begriff des »Selbsteigentums« exakt der ethnologisch festgestellten Entwicklung des Rechts.[7] Eigentum bedeutet demnach die rechtmäßige Verfügung über sich und das Produkt der eigenen Arbeit sowie das Recht auf Schadenersatz, wenn es zu Beeinträchtigungen von diesem Besitz ohne die Einwilligung des Eigentümers kommt. An dieser Stelle leitet der Begriff des (Selbst-) Eigentums über zu dem zweiten Kennzeichen prä-staatlichen anarchischen Rechts, der Freiwilligkeit.

Freiwilligkeit. Den Begriff der Freiwilligkeit ziehe ich gegenüber anderen in der Ethnologie gebräuchlichen Begriffen vor wie Gegenseitigkeit (Reziprozität) und vor allem Gleichheit. Freiwilligkeit ist auch ein weiter gefasster und nicht so formalisierter Begriff wie der des Vertrags; wobei der Vertrag sowohl Freiwilligkeit als auch Eigentum voraussetzt. Freiwilligkeit – oder Selbstbestimmung – ist wohlgemerkt auch identisch mit Individualismus. Insofern keine Zentralinstanz mit Erzwingungsstab ihre Anweisungen oder Urteilssprüche durchzusetzen vermag, bleibt Zugehörigkeit und Gefolgschaft freiwillig, selbst wenn es aufgrund von Tradition oder auch Umständen schwer fällt, eine Sezession zu vollziehen. Ebenso ist der Ausschluss eine Funktion von Freiwilligkeit, insofern man eine Gruppe, die gezwungen wäre, ein Mitglied gegen ihren Willen zu dulden, nicht mehr als freiwillige kennzeichnen dürfte. Die Gleichheit ist eine der gleichen Freiheit, nicht eine numerische materielle Gleichheit oder eine Gleichheit an Autorität, Einfluss bzw. Macht. Freiwilligkeit hat Eigentum zur Voraussetzung. Bei einer als ultima ratio eingesetzten Sezession bzw. bei einem als ultima ratio eingesetzten Ausschluss ist entscheidend, was die Person oder Gruppe, die die Trennung vollzieht bzw. die ausgeschlossen wird, mit sich führen darf. Aber auch in jedem Akt von Tauch oder Geschenk bedarf es der Trennlinie, was ohne die Zustimmung eines eventuellen Eigentümers in Besitz genommen werden kann und was eine Einwilligung sowie eventuell eine Gegenleistung erfordert. Freiwilligkeit bedeutet auf der anderen Seite auch, dass eine Gruppe eine Person als ultima ratio ausschließt, wenn man keine Einigung erzielt. Das Eigentum definiert dann, auf welche Güter die Gruppe keinen Zugriff hat, wenn der Ausgeschlossene die Gruppe verlässt und sein Eigentum mitnimmt.

Exkurs Sklaverei. Nichts ist dem Prinzip der Freiwilligkeit so sehr entgegengesetzt wie die Sklaverei, jene Vorstellung, Eigentum an Menschen erwerben zu können. Dennoch wird auch bezogen auf prä-staatliche Gesellschaften bisweilen von einer Existenz der Sklaverei gesprochen. Christian Sigrist etwa berichtet, gestützt auf Laura und Paul Bohannan, davon, Patriarchen der Tiv hätten asoziale, rückfällige Hofinsassen in die Sklaverei verkauft.[8] Bei den Lele, im 16. und 17. Jahrhundert selbst aus dem Norden auf der Flucht vor Sklavenhändlern in ein Gebiet des heutigen Zaire eingewandert, macht man aus Kriegsgefangenen Haussklaven, die sogar nach Belieben getötet werden dürfen.[9] Generell lässt sich sagen, dass Sklaverei in prä-staatlichen Gesellschaften dann vorkommt, wenn sie in Kontakt mit sklavenhaltenden Staaten gekommen und unter kriegerischen Druck geraten sind sowie sich angeregt durch Kriegshandlungen frühfeudalistische, proto-staatliche Strukturen beginnen herauszubilden. Sklaverei hat bei ihnen eher den Charakter von Strafe und Wiedergutmachung und steht rechtlich gesehen darum der »Schuldknechtschaft« näher als der Sklaverei. Selten werden Sklaven in prä-staatlichen Gesellschaften als Sachen behandelt wie bei den Griechen, Römern und Arabern oder bei den weißen Nordamerikanern bis 1865, die man nach eigenem Gutdünken verkauft oder in manchen Jurisdiktionen auch tötet.[10] Meist integrieren prä-staatliche Gesellschaften dagegen die Sklaven schnell durch Adoption in den Clan und dann unterscheidet ihr Status sich von den anderen Mitgliedern nicht mehr. – Die »Schuldknechtschaft« hat sich ihren schlechten Ruf redlich durch ihre brutale Verwirklichung in Sklavenhalterstaaten und im Feudalismus erworben, doch ob staatliche »Schuldtürme« oder staatliche Gefängnisse, durch welche weder Schuldner noch Gläubiger einen Nutzen haben, ein Fortschritt darstellen, sei bezweifelt. In Mediationen, die einen Opfer-Täter-Ausgleich anstreben, werden heute auch wieder anstelle von kompensatorischen Geldzahlungen personale Dienstleistungen des Täters an seinem Opfer als Möglichkeit eingesetzt. Im langwierigen und schwierigen Versöhnungsprozess in Ruanda nach dem staatlich organisierten Genozid an den Tutsi 1994 und der auf ihn folgenden Übernahme der Staatsgewalt durch die Tutsi-Rebellen gilt es als eine Option, dass Täter ihren beispielsweise verstümmelten Opfern zur Hand gehen, wenn beide Seiten damit einverstanden sind. Solche Fälle würde wohl niemand als »Sklaverei« oder verdammenswerte »Schuldknechtschaft« bezeichnen. – Keiner kann oder darf, keiner sollte erwarten, dass die prä-staatliche Ur-Anarchie eine perfekte Umsetzung von heutigen Prinzipien und Idealen darstellte. Eine Forderung, rückwärtsgewandt von einer Zivilisation mit mehrtausendjähriger Erfahrung in logischem, wissenschaftlichem, erkenntnistheoretischem, sozialem Nachdenken an kulturelle Umfelder, in denen wie bei den Yanomani eins, zwei, viele gezählt wird, ist barer Unsinn. Die Etatisten können ja umgekehrt auch nicht auf eine wunderbare Geschichte ihres zivilisierenden Leviathans verweisen, wie wir gesehen haben; ganz im Gegenteil, am Beginn der Staatsentstehung findet sich nicht, wie von Pinker behauptet,[11] die initiale Gewaltreduzierung, sondern die initiale Entgrenzung der Gewalt. Vielmehr ist hervozuheben, dass die prä-staatlichen »Barbaren« der Zivilisation vorzurechnen vermögen, was Recht, Sitte und Anstand bedeuten. Das gilt auch für das Thema des nächsten Exkurses:

Exkurs Geschlechterrollen. Ebenso wie die Sklaverei verstößt ein prinzipieller Ausschluss der Frauen von Eigentum oder etwa die Anerkennung von Ehen ohne Einwilligung der Frauen den Prinzipien von (Selbst-) Eigentum und Freiwilligkeit. Die Stellung der Frauen in prä-staatlichen Gesellschaft ist neben kulturellen Besonderheiten einer jeden Ethnie auch stark durch die Ökonomie ihrer Reproduktion geprägt. In Gesellschaften, die fast ausschließlich auf die – von Männern durchgeführte – Jagd angewiesen sind, ist die Stellung der Frauen tendenziell schlecht, so wie beispielsweise bei den Eskimo. Raubehen kommen vor und werden anerkannt. Bei dem rituellen Frauentausch werden die Frauen nicht gefragt, die Männer machen ihn unter sich aus. Dennoch verfügen Frauen über die häuslichen Produktionsmittel, sie dürfen sich trotz einer bei ihrer Geburt ausgesprochenen »Verlobung« später gegen diese Bindung entscheiden, und sie können bei öffentlichen Beratungen ihre Meinung sagen sowie Schamaninnen werden.[12] Bei den Schwächen des ansonsten von ihm als der Idee des Rechtsstaats überlegen beschriebenen Praxis des Rechts der Somali fasst Michael van Notten bündig zusammen, es sei nicht in der Lage, die Rechte der Frauen adäquat zu schützen; zu den Verstößen, die das Recht der Somali zulasse, zählt er den regelmäßig eintretenden Verlust auf Erbanspruch gegenüber ihren Eltern bei Heirat, eine mögliche Genitalverstümmelung und eine mögliche Zwangsverheiratung. Männer, die ihre Ehefrauen schlagen, sind allerdings zu hohen Kompensationszahlungen verpflichtet, höher als bei einer Verletzung anderer Männer.[13] Doch das Recht der Somali ist nur noch eingeschränkt als prä-staatlich zu bezeichnen; seit langem unterliegt es einem islamischen[14] Einfluss – es ist damit bestenfalls extra- oder eher sub-staatlich. Auf der anderen Seite der Skala stehen die !Kung, wie die Anthropologin Patricia Draper berichtet: »Wenn sie gefragt werden, sagen die !Kung zwar, es gäbe Männer- und Frauenarbeit und sie hielten die meisten individuellen Tätigkeiten für geschlechtspezifisch, jedenfalls prinzipiell. Praktisch gesehen sind Erwachsene beiderlei Geschlechts aber überraschend bereit, dem anderen Geschlecht zugeschriebene Tätigkeiten zu übernehmen. Oft schien es mir so, dass Männer sich noch bereiter finden als Frauen, die geschlechtsspezifischen Grenzen zu überschreiten.«[15] Übrigens hat der Leviathan sich nicht beeilt, den Status oder die Rechte von Frauen zu verbessern, ganz im Gegenteil. Über lange Zeit war der Feminismus genuin anti-herrschaftlich, prominente Vertreterinnen wie Emma Goldmann verstanden sich explizit als Anarchistinnen. Die herrschaftliche Vereinnahmung des Feminismus heute ist eine der Tragödien der linken Bewegung.[16]

Opferschutz. Das prä-staatliche Recht geht vom Opfer aus, das einen Schaden geltend macht, eine Beschädigung an seinem Eigentum, für die es Restitution (Rückgabe) oder Kompensation (Ausgleich) erlangen will. Anders kann es nicht sein, denn es gibt ja keine zentrale Instanz, die ein abweichendes oder schädigendes Verhalten unabhängig von der Tatsache verfolgt, dass es einen Geschädigten gibt und dass das Opfer vom Täter eine Wiedergutmachung fordert. Im sub-staatlichen Rechtsempfinden ist das heute nicht anders als vor zehntausend Jahren und das, obwohl der Staat seit Jahrtausenden ein anderes Prinzip verfolgt, nämlich Anklage unabhängig vom Opfer, bisweilen gar ohne Opfer, und Bestrafung zugunsten der öffentlichen Hand bzw. ganz nutzlos wie etwa durch einen Gefängnisaufenthalt[17] oder eine Hinrichtung. Aber wem leuchtet ein, dass es einen Fortschritt der Zivilisierung und Gerechtigkeit darstellt, wenn Bußgeld an den Staat anstatt Wiedergutmachung an den Geschädigten gezahlt werden muss oder wenn man den Täter einsperrt, anstatt ihn zu zwingen, Wiedergutmachung zu leisten?[18] Und doch verbinden sich mit »Selbstjustiz«, »sich Genugtuung verschaffen« oder auch »Schuldknechtschaft« vornehmlich Bilder grausamer und ungerechter Rache. Die heute dem natürlichen Rechtsempfinden entgegengesetzte fast völlige Außerachtlassung der Opfer durch die staatliche Justiz ist ein klares Anzeichen für die Übermacht des Staats, dessen Ansturm die Ur-Anarchie mit ihrem Recht nicht standgehalten hat.

Die Vorstellung, dass sich das prä-staatliche Recht automatisch oder mechanisch durchgesetzt habe, ist naiv und führt zu der – beispielsweise bei Pinker immer wieder anzutreffenden – bösartigen Unterstellung, jede interne Tötung in einer prä-staatlichen Gesellschaft sei Mord.[19] Andersherum: Das Recht und die Anarchie ließen prä-staatlich sich bloß durch Widerstand aufrecht erhalten. Die prä-staatliche Organisation des Widerstands durch das verwandtschaftliche Netzwerk (segmentäre Opposition) stößt an die Grenzen der inter-ethnischen Konflikte, sobald sie sich nicht mehr durch Flucht der unterlegenen Partei als ultima ratio regeln lassen. Sie neigt darum zur Xenophobie, um die Gefahr einer »internen Eroberung« abzuwenden, und zum Aberglauben, sobald sie interne Machtbestrebungen als Angriff durch »Zauberei« wertet und ahndet, teils mit Todesfolge.

Die Möglichkeit einer post-staatlichen neuen Anarchie unter der Bedingung von hoch-komplexen und hoch-integrierten, globalisierten Handelsbeziehungen sowie stark verbreiteter kultureller Inhomogenität mit gegenseitiger Durchdringung hat der Anarchokapitalismus[20] formuliert, nämlich eine nicht-monopolisierte Rechtsprechung durch Schlichter und Mediatoren, sowie Bereitstellung von Schutz und Regulierung von Konflikten mit Hilfe nicht-monopolisierter Unternehmen oder anderer freiwilliger Organisationen, Vereine und Genossenschaften. Prinzipien wären:

– Die Anrufung eines »Gerichts« ist freiwillig und vertragsbasiert; die Prozesse werden von den Konfliktparteien finanziert. Es kommt zu keinem Prozess ohne Ankläger, der einen Schaden geltend macht.

– Die Regulierung aller Konflikte geschieht unter dem Primat der Einigung oder der »Wiedergutmachung« (Restitution und Kompensation).

– Die Mitgliedschaft in einer Sicherheits-, Verteidigungs-, oder (Rechts-) Schutz-Organisation (»Agentur«) ist freiwillig, bei Unzufriedenheit aus welchen Gründen auch immer darf jeder austreten.

– Rechtsinstanzen (»Richter«, »Polizisten«) sind ihrerseits für Schäden haftbar, die sie bei der Durchsetzung des Rechts eventuell verursachen.

Würde dies darauf hinauslaufen, dass ein Monopolist wiederum sich herauskristallisiert? Falls es einer Agentur gelingen sollte, ihre Dienstleistung höchster Sicherheit zu niedrigsten Beiträgen anzubieten, könnte sie Alleinanbieter in einer Region oder gar auf der ganzen Erde werden. Das wäre unproblematisch, solange die Möglichkeit bestehen bliebe, auszutreten, wenn sie nach der (fehlbaren) Ansicht von Kunden die Leistung reduziert oder die Beiträge über Gebühr erhöht. Nicht nur durch die ökonomischen Analysen von Ludwig von Mises, sondern auch durch die empirischen Studien des Marxisten Gabriel Kolko wissen wir allerdings, dass historisch gesehen wirtschaftliche Monopolisierung über Interventionen des Staats von statten ging und nicht sich auf dem freien Markt ergaben.[21]

Würde dies darauf hinauslaufen, dass ein Alleinanbieter sich gegen Austritte wehrt und Personen dann ggf. mit Gewalt am Austritt hindert (Vermafiaisierung)? Das ist nicht undenkbar. Aus dieser Möglichkeit jedoch ein »Recht« herzuleiten, die Phasen der Herausbildung eines Alleinanbieters bis hin zur Konstituierung eines proto-staatlichen Zwangsmonopols zu überspringen und unvermittelt einen Staat mit gewaltsamer Rechtsprechung und Sicherheit zu errichten,[22] ist unlauter, denn es handelt sich um eine hypothetische Möglichkeit, nicht eine erwiesene Notwendigkeit mit Zwangsläufigkeit. Ob die Monopolisierung tatsächlich eintritt, hängt auch davon ab, ob es hinreichenden Widerstand gegen eine eventuelle Re-Etatisierung gibt. Keine Sozialstruktur kann automatisch oder mechanische, also ohne Widerstand sich reproduzieren. Auch die Demokratie funktioniert ja nicht ohne eine Mindestzahl an Demokraten.[23] Die idealtypische Mehrheit (d.h. meinungsbestimmende gesellschaftliche Gruppe) kann sie abschaffen.[24] Die neue, post-staatliche Anarchie verfügt jedoch über deutlich mehr Widerstand als die Demokratie: Es gäbe keine zentrale, zur Erzwingung von Gefolgschaft berechtigte und fähige Instanz, die eine an Re-Etatisierung interessierte Gruppe erobern könnte, wie es etwa geschehen ist in den USA während der Zeit des Bürgerkriegs: Ohne vorhandenen Zentralstaat wäre die Verweigerung der Sezession unmöglich gewesen oder zumindest deutlich schwerer gefallen. Lincoln hätte ohne Zwangsrekrutierung und Steuergelder dagestanden wie einst Geronimo, nämlich ohne Truppen.[25] Und die Sklavenhalter? Wie hätten sie sich ohne vorhandenen Zentralstaat des Entlaufens der Sklaven erwehren können?

Würde dies darauf hinauslaufen, dass Selbstjustiz mit Chaos, Mord und Todschlag um sich greift? Selbstjustiz wird sich im Rahmen des Rechts bewegen müssen, denn sobald jemand die Restitution oder Kompensation überstiege, würde das Opfer (bzw. seine Angehörigen oder andere Rechtsvertreter) via Agentur oder Gericht sich wehren können. Das Rechtsbewusstsein würde steigen, da die Rechtssicherheit steigt. Organe der Rechtssicherung würden nicht Angst verbreiten, sondern das, was sie versprechen: Gefühle der Sicherheit. »Einen eindeutigen friedensstiftenden Effekt kapitalistischer Variablen«[26] wie internationaler Handel und Offenheit für Weltwirtschaft gesteht auch Steven Pinker zu, wenn er es auch verfehlt zu kapieren, dass der Kapitalismus den Gegensatz zum Staat bildet, während er in der Sonne der Anarchie blüht – und unter dem Schatten des Leviathans verdorrt.

Würde dies darauf hinauslaufen, dass ewige Fehden stattfinden? Genau nicht, weil eine Rechtverfolgung, die das Maß von Wiedergutmachung nicht einhält, ihrerseits als Rechtsverletzung geahndet werden dürfte. Wie im Frieden der Ur-Anarchie des prä-staatlichen Rechts gäbe es wenig Anreize zur Fehde oder für mafiöse Strukturen.

Würde dies darauf hinauslaufen, dass Nachbarstaaten eine anarchokapitalistische Enklave schnell übermannen? Das hängt von drei Faktoren ab: 1. Wie zivilisiert (oder unzivilisiert) sind die Nachbarstaaten? 2. Wie gut (oder schlecht) verstehen sich die Menschen und ihre Organisationen in der post-staatlichen Enklave auf Verhandlungen mit den aggressiven Nachbarstaaten? 3. Wie wehrfähig und -bereit sind sie, wenn die Nachbarstaaten doch angreifen? Aber auch kein Staat ist per se in der Lage, seine Bürger vor Eroberung durch Fremde zu schützen, so zum Beispiel hat, wie wir sahen, das mit großem Blutzoll errichtete Reich Shakas die Zulu nicht vor der Kolonialisierung bewahrt.[27] Umgekehrt: 1999 fragte ich Michael von Notten auf der Konferenz der »International Society for Individual Liberty« in Costa Rica rhetorisch, ob nicht die Weigerung der Somali, sich einem Zentralstaat zu unterwerfen, den Nachbarstaat Äthiopien animieren könnte, sich Land und Leute einzuverleiben. Michael lächelte und sagte: »We [sic!] Somali are warriors. And ›they‹[28] know it.«

Incipit Anarchia.

[1] Andere Regularien des prä-staatlichen gesellschaftlichen Lebens, die bis heute ebenso heilsam wie bisweilen auch peinsam fortwirken, etwa Sitten, Gebräuche, sozialer Druck, Moral, Tabus, sind hier nicht das Thema, solange sie keine Sanktionen durch die Staatsgewalt erheischen.

[2] Karl Marx, Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie (1857), MEW 13, S. 619. Üblicherweise heißt es »contradictio in adiecto«, um den »Widerspruch in sich« zu kennzeichnen; mit Hegel lässt sich »zwischen dem spekulativen, vernünftigen und notwendigen Widerspruch (contradictio in adiecto) und dem empirischen, verständigen und unmöglichen Widerspruch (contradictio in subiecto)« unterscheiden (Andries Sarlemijn, Hegels Dialektik, Berlin 1971, S. 88). Die MEW übersetzen schlicht »ein Widersinn«.

[3] Auch extreme methodische Individualisten wie Ludwig von Mises und Murray Rothbard kommen nicht umhin zuzugestehen, dass das Eigentum ein genuin soziales Verhältnis ist. In ihrem Ausgangpunkt, der sogenannten Robinson-Crusoe-Ökonomie, vermag Robinson Crusoe alles in Besitz zu nehmen, was er kann. Erst mit der Ankunft von Freitag ergibt sich aus dem sozialen Verhältnis die Notwendigkeit der Rücksichtnahme auf Rechtmäßigkeit.

[4] Da Uwe Wesel Eigentum tendenziell mit Individualeigentum gleichsetzt, gilt ihm nebem dem Tausch das Erbrecht als wichtiger Indikator dafür, ob es in einer Gesellschaft einen Eigentumsbegriff gebe (Frühformen des Rechts in vorstaatlichen Gesellschaften, Frankfurt/M. 1985, S. 106). Den Begriff »Sondereigentum«, den Ludwig von Mises verwendet, halte ich für exakter und geeigneter als den des Individualeigentums.

[5] Lassen wir uns das von einem (anarchistischen) Kommunisten bestätigen: »Nehmen wir eine Bauerngemeinde irgendwo […]. Besitzt die Gemeinde beispielsweise einen kleinen Wald, dann hat jeder das Recht, sich vom Kleinholz zu nehmen, solange es reicht, und soviel er will, dabei von nichts anderem kontrolliert als von der öffentlichen Meinung seiner Nachbarn. Das Stammholz, von dem es nie genug gibt, wird rationiert. Das gleiche gilt für die Gemeindeanger. Solange sie für die Gemeinde ausreichen, kontrolliert niemand, wie viel die Kühe eines Hofes fressen oder wie viele Kühe ein Hof auf dem Anger hat. Nur dann werden die Anger aufgeteilt oder rationiert, wenn sie nicht ausreichen. […] Wenn Sie die Länder Osteuropas besuchen, in denen es beliebig viele große Wälder gibt und wo an Ackerflächen kein Mangel herrscht, werden Sie sehen, wie die Bauern in den Wäldern nach Bedarf Bäume fällen und soviel Äcker wie nötig bestellen, ohne dass sie daran dächten, die Holzstämme zu rationieren oder das Ackerland in Parzellen aufzuteilen. Man wird das Stammholz freilich rationieren und das Land den Bedürfnissen der einzelnen Höfe entsprechend aufteilen, sobald es am einen oder anderen fehlt, wie es in Russland bereits der Fall ist. Mit einem Wort: man nimmt beliebig viel von dem, was man in Hülle und Fülle besitzt; man rationiert das, was zugemessen oder aufgeteilt werden muss« (Peter Kropotkin, Eroberung des Brotes [1892], München 1973, S., S. 131f). Dass Marx dies begriff, steht meines Erachtens fest (Stefan Blankertz, Mit Marx gegen Marx, Berlin 2014). Dass Kropotkin ebenfalls einen Eigentumsbegriff voraussetzt, wenn auch implizit, zeige ich in: Stefan Blankertz, Minimalinvasiv, Berlin 2015, S. 125ff.

[6] 1764 Nachfolger von Adam Smith auf dem Lehrstuhl für Moralphilosophie in Glasgow.

[7] Gängiger (aber theoretisch weniger folgerichtig) wäre die Übersetzung von »self-ownership« mit »Selbstbestimmung«.

[8] Christian Sigrist, Regulierte Anarchie (1967), Frankfurt/M. 1979, S. 154.

[9] Uwe Wesel, Frühformen des Rechts in vorstaatlichen Gesellschaften, Frankfurt/M. 1985, S. 283.

[10] In South Carolina (USA) etwa verabschiedet der Leviathan 1740 ein Gesetz (die »Negro Act«), nach der die Tötung eines Sklaven lediglich ein Vergehen, also keine Straftat darstellt. Sklaven, die gemeinschaftlich entlaufen, dürfen mit dem Tod bestraft werden. Das Gesetz regelt u.a. auch, welche Kleidung Sklaven tragen müssen, dass sie nicht lesen und schreiben lernen dürfen und ihnen keine Versammlungsfreiheit zusteht.

[11] Pinker, S. 800.

[12] Uwe Wesel, Frühformen des Rechts in vorstaatlichen Gesellschaften, Frankfurt/M. 1985, S. 116, S. 121.

[13] Michael van Notten, The Law of the Somalis, Trenton, NJ 2005 (posthum), S. 104f.

[14] Mohammed hat das Problem des Christentums, interpretationsbedürftig auf dessen sprachlich-kulturell inhomogener Grundlage zu stehen, gelöst, indem er die Thora dem Koran nicht im Original anfügte, sondern durch Nacherzählung der für ihn entscheidenden Partien assimilierte. Darum ist der Islam deutlich widerstandsloser in die Ideologie von Herrschaft zu überführen als das Christentum.

[15] Patricia Draper, !Kung Women: Contrasts in Sexual Egalitarianism in Foraging and Sedentary Contexts (1975), in: Anthropology, Faculty Publications. Paper 45. www.digitalcommons.unl.edu/anthropologyfacpub/45, S. 87.

[16] Den Mechanismus der Selbstintegration beschreibe ich anhand linker wie rechter außerparlamentarischer Opposition in: Stefan Blankertz, Die neue APO: Gefahren der Selbstintegration, Berlin 2016.

[17] In der eher linken Bewegung zur Abschaffung der Gefängnisse, die in den 1970er und 1980er Jahren einige Aufmerksamkeit erlangte, gab es interessante Ansätze. Der norwegische Kriminologe Nils Christie sprach davon, Konflikte als Eigentum zu betrachten (Conflicts as Property, in: The British Journal of Criminology, 17, 1977): »Lawyers are particularly good in stealing conflicts« (S. 4). Arno Pilgram und Heinz Steinert rezipierten die Argumentation von Christie (Plädoyer für bessere Gründe für die Abschaffung der Gefängnisse und für Besseres als die Abschaffung der Gefängnisse, in: Helmut Ortner [Hg.], Freiheit statt Strafe, Frankfurt/M. 1981), plädierten für eine »Wiedervergesellschaftung der Konflikte« (S. 147ff) mit dem wesentlichen Ziel, »den Schaden zu kompensieren« (S. 151).

[18] Steven Pinker, S. 126: »Heinrich I. definierte Mord nun als Vergehen gegen den Staat. […] Dieses System hatte die großartige Eigenschaft, dass das wergild […] nicht an die Familie des Opfers ging, sondern an den König.« Was daran ist »großartig«, außer dass es die Kasse des Staats auf Kosten des Opfers füllt? Differenzierter Uwe Wesel (Geschichte des Rechts in Europa, München 2010): »Eine Verbesserung im kanonischen Recht war – zunächst – die Entwicklung des oft geschmähten Inquisitionsprozesses. […] [Legaten] sollten die Vorwürfe, Verdächtigungen prüfen, dann aber selbst über die Einleitung des Verfahrens entscheiden und sie nicht denjenigen überlassen, die die Vorwürfe erhoben haben. [S. 239.] [Der Inquisitionsprozess] ist im Grunde ein Fortschritt gewesen, wie beschreiben, aber einer mit grausigen Folgen. [S. 241.] Öffentliches Strafrecht [entsteht] durch Umwandlung der alten Bußen in neue Geldstrafen für die Fürstenkassen. [S. 277.] Privatstrafrecht ist das Recht von Stammesgesellschaften, die am Anfang jedes Mal egalitär sind. Öffentliches Strafrecht ist das Recht von Herrschaftsgesellschaften. […] Strafrecht entsteht mit Staatlichkeit. […] Staatlichkeit ist der Grund von Strafrecht. […] Strafrecht entsteht durch Herrschaft. [S. 281.]« Verbesserungen und Fortschritte, auf die die Menschheit gut und gern hätte verzichten mögen.

[19] Pinker, S. 101 u.ö.

[20] Murray Rothbard, Für eine neue Freiheit (1973/78), zwei Bände, Berlin 2015; vgl. für das Folgende besonders Band 2, S. 239ff. Stefan Blankertz, Anarchokapitalismus, Berlin 2015, S. 61ff.

[21] Gabriel Kolko, The Triumph of Conservatism, New York 1963.

[22] … wie es Robert Nozick macht …

[23] »Demokratie ist nicht etwas, das nur von außen in eine Gesellschaft kommen kann.« Pinker, S. 425.

[24] Stefan Blankertz, Katastrophe der Befreiung: Faschismus und Demokratie, Berlin 2015, S. 85ff.

[25] Vgl. Akte 4.

[26] Pinker, S. 431.

[27] Vgl. Akte 7.

[28] … the Ethiopians …, natürlich.