Welche Grenzen kennt die offene Gesellschaft?

Stefan Blankertz

 

Flüchtlings- und Migrationskrise

Welche Grenzen kennt die offene Gesellschaft?[1]

Zwischen
rechtspopulistischem und linkskonservativem
Konstruktivismus

 

1

Im Sommer dieses Jahres habe ich mit Michael von Prollius ein kleines Büchlein zum Gedenken an den 17. Juni 1953 herausgegeben,[2] dem »Tag der Freiheit«, an dem im kommunistischen Ostdeutschland ein Volksaufstand militärisch niedergeschlagen wurde. Das Thema, zu dem sich die eingeladenen Autoren aus dem Umkreis der Hayek-Gesellschaft jeweils 17 Zeilen einfallen lassen sollten, lautete (schlitzohrig, wie wir sind) »Grenzen«. Ich denke bei der Kombination aus »DDR« und »Grenzen« an die innerdeutsche Grenze 1961 bis 1989, an den Straftatbestand der »Republikflucht«, an die Mauer und an den Schießbefehl. Für mich ist »Sicherung der Staatsgrenze« emotional und intellektuell negativ besetzt und unvereinbar mit dem liberalen Gedanken einer »offenen Gesellschaft«. Nicht so bei den übrigen Autoren, die meisten alt genug, dass sie wie ich die Mauer noch live miterlebt haben. Für sie geht es beim Thema »Grenzen« ausschließlich um die gewaltsame Abwehr von unerwünschter Migration durch den Staat.

 

2

Ludwig von Mises schrieb in seinem Essay »Liberalismus« 1927, der »Zwangs- und Unterdrückungsapparat« des Staats, also jedes Staats ob DDR oder BRD, müsse »zum Liberalismus durch die Macht der einmütigen Volksüberzeugung gezwungen werden«.[3] Ohne Widerstand ­regiert Gewalt unangefochten, leite ich hieraus ab: Widerstand ist aller Ethik Anfang. Der Staat sei, schreibt Mises dann allerdings ausgerechnet 1944, »das nützlichste Instrument im menschlichen Streben nach Schaffung des Glücks für den Menschen«,[4] doch bloß, sofern er vor dem Wuchern bewahrt werden könne. Das »nützliche Instrument« steht in der klassisch-liberalen Konzeption für Nachtwächterdienste: Der Staat macht nichts weiter, als Freiheit und Eigentum zu schützen. Aber auch 1944 bleibt uns Mises – wie bereits 1927 – die Antworten schuldig,

1)  warum der Staat über die Funktion als Nachtwächter hin­auswächst und

2)  wie, d. h. mit welchen Mitteln er auf Nachtwächterdienste zu beschränken sei.

Wenn Mises dem Wortlaut seiner Texte nach tatsächlich nicht wie ich ein Anarchist war,[5] so steht doch ganz unzweifelhaft fest, dass er die Verhinderung von Migration durch Grenzschutz nicht zu den Aufgaben des Nachtwächterstaats zählte: »Die Versuche, die Politik der Ein­wanderungs­­beschränkung vom wirtschaftlichen Standpunkt aus zu rechtfertigen«, statuierte er 1927, »sind von vornherein ganz aussichtslos. Die Einwanderungsbeschränkungen ver­ringern, darüber kann nicht der geringste Zweifel bestehen, die Ergiebigkeit der menschlichen Arbeit. Wenn die Gewerkschaften in den Vereinigten Staaten oder in Australien die Einwanderung behindern, so kämpfen sie nicht nur gegen die Interessen der Arbeiter der übrigen Länder der Erde, sondern auch gegen die Interessen aller übrigen Menschen, um sich einen Sondervorteil her­auszuschlagen. Dabei bleibt es noch durchaus ungewiss, ob nicht die Steigerung der allgemeinen Ergiebigkeit der menschlichen Arbeit, die durch die Herstellung der vollen Freizügigkeit bewirkt werden könnte, so groß wäre, dass sie auch für die Mitglieder amerikanischer und australischer Gewerkschaften die Einbuße, die sie durch Zuwanderung der fremden Arbeiter erfahren könnten, vollkommen wettmachen müsste.«[6]

Nun pflegen die heutigen rechtspopulistischen Verteidiger »geschlossener Grenzen« an dieser Stelle einzuwerfen, die Flüchtlinge seien doch wohl nicht die erwarteten und eventuell in Deutschland fehlenden, staatlich gut ausgebildeten und lizenzierten Ärzte und Ingenieure. Aber von Ärzten und Ingenieuren hatte Mises nicht gesprochen, von staatlicher Lizenzierung schon gar nicht. Und selbst wenn Ärzte und Ingenieure kämen, würden man ihnen in Deutschland nicht die Lizenz aushändigen, ihr Können einzubringen, aus genau dem Grund, den Mises bezogen auf die Gewerkschaften genannt hat, also um aus berufsständischen Rücksichten Sondervorteile zu erhalten. Es ist ganz eindeutig der planwirtschaftliche Ansatz, es sind die wirtschaftlichen Interventionen, die dahin führen, dass Zuwanderung als wirtschaftlich nachteilhaft angesehen werden kann. Die Behauptung, Mises habe diesen Standpunkt in einer Situation vertreten, in welcher es noch keinen Sozialstaat gab, trifft ebenso wenig zu wie die, er habe ihn bloß vertreten, sofern der völlig freie Markt bereits erreicht sei.

 

3

Weniger bekannt als die wirtschaftspolitische Verteidigung der Freizügigkeit ist die intensive und differenzierte Aus­einandersetzung mit dem Nationalismus, die Ludwig von Mises in vielen Schriften leistet, so auch in »Liberalismus«. Der Liberalismus verbinde sich zunächst, analysierte Mises, mit dem nationalen Gedanken und zwar gerichtet gegen ­einen Staatsbegriff, der seine Legitimität aus den Gegebenheiten militärischer Eroberungen oder fürstlicher Heirats­politik ableite. Gegen Staatsgrenzen, die sich an den Inter­essen der »fürstlichen Despoten« orientieren und die den »militärischen und rechtshistorischen Erwägungen« entspringen,[7] setze der Liberalismus das Selbstbestimmungsrecht. Mises schränkte ein, das »Selbstbestimmungsrecht, von dem wir sprechen, ist jedoch nicht Selbstbestimmungsrecht der Nationen, sondern Selbstbestimmungsrecht der Bewohner«.[8]

Den Unterschied verdeutlichte Mises am Sezessionsrecht: »Wenn die Bewohner eines Gebietes, sei es eines einzelnen Dorfes, eines Landstriches oder einer Reihe von zusammenhängenden Landstrichen, durch unbeeinflusst vorgenommene Abstimmungen zu erkennen gegeben haben, dass sie nicht in dem Verband jenes Staates zu bleiben wünschen, dem sie augenblicklich angehören, sondern einen selbstständigen Staat bilden wollen oder einem anderen Staate zuzugehören wünschen, so ist diesem Wunsche Rechnung zu tragen. Nur dies allein kann Bürgerkriege, Revolutionen und Kriege zwischen den Staaten wirksam verhindern.«[9] Mises schränkte hier das Sezessionsrecht ausdrücklich nicht ein bezogen auf die ethnischen, sprachlichen oder religiösen Zugehörigkeiten. Das heißt, »es handelt sich nicht um das Selbstbestimmungsrecht einer national geschlossenen Einheit«.[10] Weder dürfe ein Nationalstaat die Sezession eines Gebietes unterbinden, auch wenn es zur gleichen geschichtlichen, ethnischen, sprachlichen oder religiösen Einheit ­gehöre, noch dürfe er »Teile der Nation, die einem anderen Staatsgebiet angehören, wider ihren Willen aus ihrem Staatsverband loslösen und dem eigenen Staat einverleiben«.[11] Die Bewohner müssen entscheiden können, zu welchem Staat sie gehören; der Staat dürfe nicht entscheiden, wer zu seinem Gebiet gehöre oder nicht gehöre, auch der Nationalstaat nicht. Die Radikalität dieses Sezessionsrechts bei Mises ist es, die konsequent gedacht zu Murray N. Rothbards Anarcho­kapitalismus führt.[12]

 

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Auch dem Problem von Wanderungsbewegungen widmete Mises sich. Wie er gezeigt hatte, sind schon bislang kaum ethnisch homogene Siedlungsräume erhalten geblieben und durch den Kapitalismus sowie den durch ihn erzeugten all­gemeinen Wohlstand werden, wie er voraussagte, diese Bewegungen verstärkt. Allerdings meinte Mises 1927, dass bei völliger Freizügigkeit »sich von Europas übervölkerten Gebieten die Einwanderer in dichten Scharen nach Australien und Amerika ergießen« werden.[13] Er sah die Ängste voraus, die heute sich in Vokabeln wie Integration und Um­volkung[14] zeigen: »Sie werden so zahlreich kommen, dass mit ihrer nationalen Assimilation [!] nicht mehr zu rechnen sein wird.«[15] In der Analyse von Mises brauchen wir, um sie auf Heute zu übertragen, bloß wenige Worte auszutauschen: »Auf der einen Seite stehen Dutzende, ja Hunderte von ­Millionen Europäer und Asiaten, die gezwungen sind, unter ungünstigeren Produktionsbedingungen zu arbeiten, als es jene sind, die sie in den verschlossenen Gebieten finden ­können. Sie verlangen Öffnung der Grenzen des verbotenen Paradieses, weil sie sich davon Erhöhung der Ergiebigkeit ­ihrer Arbeit und damit höheren Wohlstand versprechen. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die so glücklich sind, das Land mit den günstigeren Produktionsbedingungen bereits ihr eigen zu nennen. Sie wollen – soweit sie Arbeiter und nicht Besitzer von Produktionsmitteln sind – den höheren Lohn, den ihnen diese Stellung gewährleistet, nicht fahren lassen. Einmütig aber fürchtet die ganze Nation die Über­flutung durch die Fremden.«[16]  Eine exakte Beschreibung, wenn wir an die Stelle der Europäer (und Asiaten), die an die Tore von Australien und von (Nord-) Amerika klopfen, die Migranten aus dem afrikanischen Kontinent setzen, die vor den Toren der Festung Europa stehen.

Mises erhob sich nicht über diese Ängste, rückte aber auch nicht ab von der Grundforderung des Liberalismus, dass jeder Mensch das Recht habe, »sich dort aufzuhalten, wo er es wünscht«.[17] »Bei der Machtfülle, die dem Staate heute zu Gebote steht, muss die nationale Minderheit von der andersnationalen Mehrheit das Schlimmste [!] befürchten.«[18] Im Rahmen von Etatismus gibt es keine Lösung. Diese Einsicht jedoch rechtfertigt keine ­Begrenzung von Migration durch den Staat, weil mit ihr es »so scheint«, als ob es »eine andere als die gewaltsame ­Lösung durch Krieg« nicht gebe.[19] Versuche, die Einwanderungsbeschränkung zu rechtfertigen, sind Mises zufolge also nicht nur vom wirtschaftlichen, sondern auch vom gesellschaftlichen Standpunkt aus gesehen »von vornherein ganz aussichtslos«. Eine »Durchführung des ­Liberalismus würde es« indessen »ermöglichen, das Wanderproblem, das heute un­lösbar erscheint, zum Verschwinden zu bringen.«[20]

 

5

Die im Zuge von Ethnopluralismus[21] und »identitärer Bewegung« wieder aufgeworfene Fragestellung der Wahrung von ethnischer Homogenität eines historisch angestammten Siedlungsgebiets, von in Umvolkung mündende Migration bedroht, ist damit allerdings noch nicht erledigt. In der Flüchtlings- und Migrationsfrage verlagert sich die Debatte zunehmend von der Frage, wie die wirtschaftlichen Folgen zu bewältigen seien, hin zu Auffassungen, dass es ein Recht auf soziale Homogenität gebe. Beide Seiten vertreten ihre Rechts-Auffassungen mit zunehmender verbaler Härte, begleitet von der Drohung, dass man die jeweils andere Seite nach Möglichkeit mundtot macht. Mit der Frage des »Rechts auf soziale Homogenität« meine ich die Auffassung, in einem Gebiet, das ein Nationalstaat oder eine supranationale staatliche Organisation wie die Europäische Union beherrscht, gebe es das Recht oder den Anspruch der Bevölkerung dar­auf, dass etwa hinsichtlich ökologischer und juristischer Standards, hinsichtlich der Verteilung von Wohlstand, hinsichtlich der ethnischen und religiösen Zusammensetzung der Mitmenschen eine weitreichende Einheitlichkeit mittels Staatsgewalt hergestellt  werde. Die Formulierung habe ich bewusst so gewählt, dass sie beiden Seiten der Debatte gleich schlecht schmecken wird.

Kritik an Bestrebungen nationaler Homogenisierung finden wir schon bei Mises ausformuliert, vor allem den Passagen, in denen er sich mit nationalen Minderheiten befasst. Auch dem ärgsten Nationalisten könne es doch nicht verborgen bleiben, dass selten eine natürliche ethnische Homogenität vorliegt. In allen Staaten, auch denen, die sich als Nationalstaaten konstituieren, sind entweder Minderheiten eingeschlossen oder die Grenzlinien stehen nicht fest. Mises verortete das Problem vor allem in der Sprache, vermutlich weil er die ­belgischen und andere Sprachenkonflikte Europas im Blick hatte. Nicht etwa die von den Minderheiten sich bedroht fühlenden Mehrheiten erheischten das Mitleid von Mises, vielmehr die Drangsale der Minderheiten. »Es ist fürchterlich, in einem Staate zu leben, in dem man auf Schritt und Tritt der – sich unter dem Scheine der Gerechtigkeit ver­bergenden – Verfolgung durch eine herrschende Mehrheit ausgesetzt ist.«[22] Zentrales »Mittel der nationalen Vergewaltigung« ist für Mises die staatliche Zwangsschule,[23] in der die Mehrheitskultur (bei ihm: Sprache der Mehrheit) gelehrt werde. Hier wird klar ersichtlich, dass Mises nicht nur keine Angst vor Parallelgesellschaften hatte, sie im Gegenteil in das Recht auf Sezession mit einschloss. Ohne Schulpflicht müsste »keine Sprachinsel es sich« mehr »gefallen lassen, sich bloß darum national vergewaltigen zu lassen, weil sie mit dem Hauptstamm des eigenen Volkes durch keine von Volksgenossen besiedelte Landbrücke in Verbindung steht«.[24] An die Stelle des Sprachenkonflikts in national gemischten Ländern können hier ebensogut die Konflikte über Religion oder Kultur eingesetzt werden: Zwangsbeschulung ist mit Frieden inkompatibel, egal um welchen Konflikt es ­inhaltlich geht.

Der Linkskonservativismus[25] sieht sich als der Sachwalter der Toleranz, der Vielfalt, der Buntheit, des Multikulti und der größeren Bandbreite als bloß zwei Geschlechter, der Ehe nicht nur mit einem gegengeschlechtlichen Partner. Diese Regenbogen-Rhetorik verdeckt allerdings das Streben des Linkskonservativismus nach Homogenität in vielerlei Hinsicht. Regulierungen. Anti-Diskriminierungsgesetze. Keine Vertragsfreiheit. Zwangsschule für alle. Auf diese Homo­genität habe der abstrakte Bürger der Europäischen Union ein (An-) Recht, sagt der Linkskonservativismus, darum müsse es gegen jeden einzelnen konkreten Bürger mit Staatsgewalt durchgesetzt werden. Kein Demokrat dürfe das je in Frage stellen. Die beschworene Vielfalt des Linkskonservativismus reduziert sich letztendlich darauf, dass jemand unter mehr als zwei Geschlechtern auswählen darf, wenn er die Strafe für Schulverweigerung kassiert oder irgendeinen der über sein Leben entscheidenden Online-Anträge bei irgendeiner wuchernden Bürokratie stellt. Der EU-Amtsschimmel staubt nicht mehr, dafür aber kennt er auch kein Pardon bei Abweichungen. Der Rechtsgrund sowohl für die geforderte Homogenität als auch die »Vielfalt« im Sinne des Linkskonservativismus ist die angebliche Legitimierung durch die Mehrheit, auch und ­gerade wenn fraglich ist, ob die Mehrheit tatsächlich noch hinter der linkskonservativen Agenda steht: »Das Wir ent­scheidet.«[26]

Der Rechtspopulismus lehnt die Reklame für Multikulti, für die »bunte Republik« und die Gender- und Ehevielfalt dagegen ab. Er erklärt es für das Recht des abstrakten Volks, ethnisch und religiös homogen zu bleiben oder wieder zu werden. Hier hält er eine staatlich forcierte Homogenität für Recht, auf anderen Gebieten, wo der Linkskonservativismus auf Homo­genität besteht, weist er diese zum Teil zurück.

Beide Seiten der Debatten haben demnach Politikbereiche, in denen sie Vielfalt fordern, in anderen fordern sie indessen Homogenität. Das zentrale Motiv bei den Homogenitäts-Forderungen beider Seiten ist die durch Ludwig von Mises so bezeichnete anti-kapitalistische Mentalität. Sie fordern nämlich den Einsatz von Staatsgewalt genau dort, wo sich ­ihre Vorstellungen nicht durch freiwillige Kooperation auf dem Markt durchsetzen lassen.

Nehmen wir einen konkreten Fall: Ein Hausbesitzer lehnt es ab, einen Wohnungssuchenden mit Migrationshintergrund als Mieter zu akzeptieren. Linkskonservative werden aufschreien, es müsse ein Anti-Diskriminierungsgesetz her, um den Hausbesitzer an dieser skandalösen Diskriminierung zu hindern. Der Rechtspopulismus hingegen wird das Recht dieses Haus­besitzers verteidigen, seine Mieter nach den ihm genehmen Kriterien auszusuchen. Doch verteidigt er ebenso das Recht eines Hausbesitzers, der Wohnungssuchende mit Migrations­hintergrund nicht abweist oder gar bevorzugt an sie vermietet? Nein, hier zieht der Rechts­populismus es vor, nicht auf die Diskriminierungswilligkeit der Haus­besitzer zu vertrauen, sondern die Migranten bereits an der Staatsgrenze abzuweisen und die Hausbesitzer hiermit der Wahl der ihnen genehmen Mieter zu entheben.

Werfen wir nun einen Blick auf die Mieter. Wenn ein Mieter es lieber hätte, in einem ethnisch homogenen Haus oder gar in einem ethnisch homogenen Viertel zu leben, so müsste er, wenn sein Vermieter einen ethnisch fremden Wohnungs­suchenden als Mieter akzeptiert, ausziehen und sich einen Hausbesitzer suchen, der ein ethnisch homogenes Umfeld zusichert. Wer das nicht auf sich nehmen will oder befürchtet, einen solchen Hausbesitzer nicht zu finden, kann dann eine Partei wählen, die verspricht, per Grenzschutz erst gar keine Migranten mehr ins Land zu lassen.

 

6

Die Beispiele des Hausbesitzers und des Mieters habe ich mit Bedacht gewählt, um hinzuleiten auf das spezielle Thema der »gated communities«, ein Thema, dass bisher über den Status von einer libertären Insider-Diskussion nicht hinaus gekommen ist. Die Übertragung real existierender »gated (oder: convenant, oder: residential) communities« ins libertäre Ideal des Anarchokapitalismus geht zurück auf Hans Hermann Hoppe:[27] In einer auf Eigentumsrecht basierenden Gesellschaft legen die Grundeigentümer ihren Boden zusammen und frieden ihn ein. Das Verhältnis zwischen den Grundeigentümern und jenes zu Bewohnern der »gated community«, die keine Eigentümer sind, ist per Vertrag geregelt. Es gibt kein Problem mit Einwanderung, da jede »gated community« ihre vertraglichen Regeln über den möglichen Zuzug von Personen hat, die von außerhalb kommen und in die »gated community« auf­genommen werden wollen. Da solche »gated communities« es nicht gibt, sei das nächstbeste die Vorstellung, dass ein Land, etwa die Bundesrepublik Deutschland, als eine Art von »gated community« betrachtet werde. Und darum sei es die Pflicht von den Politikern, die gleichsam anstelle der Eigentümerversammlung einer »gated community« handeln, dass sie die Grenzen gegen Einwanderung schließen.[28]

Zweifellos stellt es unter der Bedingung einer freien, offenen Gesellschaft eine Möglichkeit dar, dass Grundeigentümer ihren Boden in der beschriebenen Weise zusammenlegen und nach außen hin abschotten. Die Behauptung aber, unter der Bedingung von Freiheit werde es die Regel sein, dass »gated communities« entstehen bzw. einen großen Teil des Gebietes ausmachen, das Freiheit und Eigentum respektiert, ist, gelinde gesagt, gewagt. Sie unterscheidet sich strukturell nicht von linken Vorstellungen, dass die Menschen unter der Bedingung von Freiheit ihr Eigentum aufgeben und in kommunitären Verbänden werden leben wollen, dass es also zur allgemeinen, womöglich freiwilligen Vergesellschaftung der Produktions- oder sogar Konsummittel komme.[29] Liberale, zionistische und libertäre Sozialisten träumten Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts davon, der Sozialismus entstehe, indem eine Gruppe von Grundeigentümern den Boden gemein macht und dann zusammen bewirtschaftet.[30] Neben verschiedenen anderen Siedlungsbewegungen, die allesamt scheiterten – grandios einige, kläglich viele –, ist der umfassendste dieser Versuche das Kibbutz-System in Israel.[31] Es gibt auch konservative und religiöse Umsetzungen dieser Idee, etwa die Gemeinschaft der Amische.[32] Wenn solche Gemeinschaften sich nicht wieder aufgelöst haben, bleiben sie Randphänomene der Gesellschaft. Kapitalismus ist und bleibt kosmopolitisch.

 

7

Sowohl die linke als auch die rechte Erklärung fürs Scheitern der »gated communities« ist tatsächlich der Kapitalismus: die Verführung durch den umliegenden, meist ökonomisch viel stärker prosperierenden Kapitalismus, der mit fortschrittlichen und günstigen Waren, Weltoffenheit, persönlicher Bewegungsfreiheit, erleichterter Arbeit und jeder Menge Freizeit zu Sünde, Sittenverfall und Lotterleben lockt. Die ach so tugendsame, freiheitlich und menschenfreundlich gedachte Utopie schlägt an dieser Stelle meist um in repressive Fantasien oder aber in die Einsicht, dass das kommunitäre Ideal in sich unstimmig sei. Diese Einsicht führte etwa Josiah Warren,[33] der Mitte des 19. Jahrhunderts an einer gescheiterten Owenitischen Siedlungsinitiative[34] teilgenommen hatte, dazu, als erster »individualistischer Anarchist« in die Geschichte der USA einzugehen.

Die Auflösung von theokratischen »gated communities« durch den Kapitalismus ist eine frühe Erfahrung in den USA, noch bevor es die sozialistische Bewegung gab. Murray Rothbard beschreibt im fulminanten, mit Leonard Liggio verfassten ersten Band von »Conceived in Liberty«, seiner vier-bändigen »Geschichte der Amerikanischen Revolution«, unter dem vielsagenden Titel »Economics Begins to Dissolve the Theocracy«, wie die Ökonomie des freien Handels die theokratischen Versuche der Puritaner auflösen, Monopole, Lohn- und Preiskontrollen, und subventionierte Produktion zu errichten.[35] Von den USA lernen, heißt … siegen lernen.

Der Begriff der »gated community« setzt sich nur sprachlich, nicht inhaltlich ab von früheren linken oder rechten Vorstellungen, in eine Situation von Kleinstaaterei – oder bestenfalls Frühfeudalismus – zurückzuführen. Die sprachliche Anlehnung ist die an eine für viele Länder der Welt geläufige Form des Wohnens, Lebens oder Einkaufens in abgeschirmten Komplexen. Die USA etwa kennen solche »gated communities«, und je nach Schätzung und je nach Definition leben zwischen knapp zehn bis rund zwanzig Millionen Menschen in ihnen. Das ist eine große Zahl, auf die Gesamtbevölkerung bezogen jedoch eine kleine Minderheit. Ein Hauptgrund für die Verbreitung dieser bestehenden »gated communities« ist die Angst vor Kriminalität, das heißt, die real existierenden »gated communities« sind eine Antwort auf ein eklatantes Staatsversagen. Wenn wir also davon ausgehen, dass unter der Bedingung der Wiederherstellung von Freiheit und Eigentum das Sicherheitsniveau höher liegt als heute, dann liegt die Vermutung nahe, dass eher weniger als mehr »gated communities« entstehen oder fortbestehen werden. Markets dissolve any theocrazy.

 

8

Die theoretische Grundlage für die »gated communities« übrigens liefert ein politischer Denker, der in Kreisen, die Freiheit und Eigentum verteidigen, überwiegend einen echt miesen Ruf genießt: namentlich Jean-Jacques Rousseau. In seinem »Contrat Social« hat er 1762 das Zustandekommen einer »gated community« genau beschrieben: Freie Eigentümer ihrer selbst und ihres Grundes versammeln sich und schließen einen Vertrag, um Freiheit und Eigentum durch geeignete Maßnahmen und Institutionen zu sichern. Dieser Vertrag umfasse bloß die ihn unterzeichnenden Personen; nicht-zustimmende Personen können nicht Teil des Sozialvertrags sein; sie haben weder Mitspracherecht noch dürfen sie den Regeln der Gemeinschaft unterworfen und etwa zum Dienst an der Gemeinschaft verpflichtet werden.[36] Rousseau war sich im Klaren darüber, dass eine solche Gemeinschaft nur in kleinem Rahmen existieren könne, er dachte an Gemeinden, Dörfer, Städte, nicht dagegen Nationen. Stolz bezeichnete er sich als »Bürger von Genf«. Und Rousseau war auch derjenige, der schon sehr genau den die »Tugend« vernichtenden Einfluss des Kapitalismus beschrieben hat: Anstatt fleißig und bescheiden zu sein, nicht an das eigene Vergnügen zu denken, sondern sich für die Gemeinschaft aufzuopfern, ergehen sich die jungen Menschen, wenn sie etwa dem großstädtischen Paris ausgesetzt sind, in Wohlleben und Sünde.[37]

Für die Legitimation der Konstitution eines modernen National- und Flächenstaats taugt Rousseau bloß mittels einer ideologischen Umdeutung seiner Theorie. Gleiches gilt für die Analogie zwischen einer »gated community« und heutigem Sozialstaat. Sofern der existierende Staat etwa der Bundesrepublik Deutschland als eine »gated community« definiert werden sollte, müssen auch die Entscheidungen der Eigentümerversammlung als rechtmäßig angesehen werden. Und was entspricht einer Eigentümer- oder Aktionärs­versammlung mehr als der deutsche Bundestag? Da es trotz wachsenden Unmuts über die »Flüchtlingswelle« doch eher unwahrscheinlich ist, dass diese »Eigentümerversammlung« mehrheitlich dafür stimmen wird, die BRD neuerlich mit einem anti-faschistischen, pardon, anti-islamistischen Schutzwall zu umgeben, müssen Verfechter der Analogie zwischen »gated community« und Staat, sofern intellektuelle Redlichkeit ihre Richtschnur ist, sich ins Schicksal fügen. Oder zu echten Verteidigern des Kapitalismus werden.

 

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Beim gegenwärtigen Hang zu zugespitzten Memen in Twitterkürze beantworte ich die mir vom Veranstalter vorgelegte Frage: »Welche Grenzen kennt die offene Gesellschaft? Keine.«

 

[1] Vortrag auf Einladung des Hayek-Clubs Hannover am 12. 09. 2017. Aus dem Fundus zu meinem neuen Buch, Politik macht Ohnmacht: Demokratie zwischen Rechtspopulismus und Linkskonservativismus (Berlin 2017, edition g. 108 https://www.murray-rothbard-institut.de/publikationen/stefan-blankertz-politik-macht-ohnmacht/) resp. dem Buch Die neue APO: Ge­fahren der Selbstintegration (Berlin 2016, edition g. 123 https://www.murray-rothbard-institut.de/publikationen/stefan-blankertz-die-neue-apo/).

[2] Michael von Prollius und Stefan Blankertz (Hg.), 17 Zeilen für die Freiheit 2017, Norderstedt 2017 http://www.bod.de/buchshop/17-zeilen-fuer-die-freiheit-2017-9783744834728.

[3] Ludwig von Mises, Liberalismus (1927), St. Augustin 1993, S. 60. Vgl. auch: »Der Staats­apparat ist ein Zwangs- und Unterdrückungsapparat. Das Wesen der Staatstätigkeit ist es, Menschen […] zu zwingen, sich anders zu verhalten, als sie sich aus freiem Antrieb verhalten würden.« Ludwig von Mises, Omnipotent Government: The Rise of the Total State and Total War, 1944), Auburn 2010, S. 46.

[4] Omnipotent Government, a.a.O., S. 47.

[5] »Liberalismus ist nicht Anarchismus […]. Der Liberalismus ist sich darüber ganz klar, daß ohne Zwangs­anwendung der Bestand der Gesellschaft gefährdet wäre, und daß hinter den Regeln, deren Befolgung notwendig ist, um die friedliche menschliche Kooperation zu sichern, die Androhung der Gewalt stehen muß.« Liberalismus, a.a.O., S. 33.

[6] Liberalismus, a.a.O., S. 122f.

[7] Liberalismus, a.a.O., S. 104.

[8] Liberalismus, a.a.O., S. 97.

[9] Liberalismus, a.a.O., S. 96.

[10] Liberalismus, a.a.O., S. 96.

[11] Liberalismus, a.a.O., S. 97.

[12] Vgl. Murray Rothbard, Für eine neue Freiheit (1973/78), dt. in 2 Bänden, Berlin 2015 (edition g. 102 und 103). Sowie Stefan Blankertz, Anarchokapitalismus: Gegen Gewalt, Berlin 2015 (edition g. 110).

[13] Liberalismus, a.a.O., S. 123.

[14] Mit »Umvolkung« bezeichnete der NS-Staat seine Strategie, in den eroberten Ostgebieten die autochthone Be­völkerung zu verdrängen und dagegen Deutsche dort anzusiedeln. Insofern ist der Vorwurf, die Ethnopluralisten, Nationalrevolutionäre, Identitären und Rechtspopulisten, die den Begriff benutzen, um den (angeblich) von der Regierung, namentlich Bundeskanzlerin Angela Merkel, angestrebten Austausch der deutschen Bevölkerung durch Migranten zu kritisieren, knüpften an den national­sozialistischen Sprachgebrauch an, unzutreffend. Das bedeutet aber nicht, der Begriff sei der Situation angemessen.

[15] Liberalismus, a.a.O., S. 123.

[16] Liberalismus, a.a.O., S. 124.

[17] Liberalismus, a.a.O., S. 121.

[18] Liberalismus, a.a.O., S. 125.

[19] Ebenda.

[20] Ebenda.

[21] Die Vorstellung, verschiedene Völker und Kulturen seien zwar gleichwertig, sollten sich aber gerade deshalb möglichst in »ethnischer Homogenität« erhalten und weiterentwickeln, wird insbesondere von Henning Eichberg, der den Begriff in den 1970 er Jahren prägte, sowie Alain de Benoist vertreten. Vor der Entstehung der identitären Bewegung verwandten die Nationalrevolutionäre der 1980 er Jahre den Begriff und engagierten sich z.T. in der »Gesellschaft für bedrohte Völker«.

[22] Liberalismus, a.a.O., S. 125.

[23] Liberalismus, a.a.O., S. 102.

[24] Liberalismus, a.a.O., S. 100. Die Formulierungen (Sprachinsel, Landbrücke) weisen ganz klar auf die typischen »Nationalitätenkonflikte« im Europa des 19. und beginnenden 20. Jahr­hunderts.

[25] Als »Linkskonservativismus« nenne ich in Opposition zum eingeführten Begriff des Rechts­populismus die zur Macht gekommenen Linken, die nun nach nichts anderem mehr streben als danach, sich an der Macht zu halten.

[26] Slogan der SPD 2013. Ironischerweise war es ursprünglich ein Slogan der Zeitarbeits­firma propartner.

[27] Hans Hermann Hoppe, Democracy: The God That Faild, New Brunswick 2001, S. 215. Diese Denkmuster spielt seither in der Argumentation der »paleo-libertarians« eine große Rolle.

[28] Hans Hermann Hoppe, Immigration and Libertarianism, Lew Rockwell.com, 18. 10. 2014: »What about immigration if the State acted like the manager of the community property jointly owned and funded by the members of a housing association or gated community?«

[29] Diese Vorstellung wurde besonders von Peter Kropotkin entwickelt. Dass er implizit sehr wohl Eigentumsrechte voraussetzt, zeige ich in: Stefan Blankertz, Minimalinvasiv, Berlin 2015 (edition g. 101), S. 125 ff.

[30] Diese Vorstellung wurde besonders von Gustav Landauer und Martin Buber entwickelt.

[31] Basisdemokratische und kollektivistische Kibbutzim gibt es nach der Staatsgründung Israels dort zwischen 200 und 300. Sie haben sich nicht als allgemeine Lebensform in Israel etabliert.

[32] Amische, eine radikal protestantische Täuferbewegung, siedeln seit der Mitte des 19. Jahr­hunderts vor allem in Pennsylvania, USA, und konservieren ein gemeinschaftliches Leben ohne die Technik des 20. Jahrhunderts.

[33] Josiah Warren (1798 -1874), Pazifist, nach der Teilnahme an mehreren gescheiterten sozialistischen Siedlungen individualistischer Anarchist.

[34] Robert Owen (1771-1858), britischer Unternehmer und sog. »Frühsozialist«. Er propagierte und initiierte sozialistische Siedlungen, in denen Gleichheit und Harmonie herrschen sollten, um das Elend der Arbeiter zu überwinden. Die Produktionsgenossenschaft in New Harmony, Indiana, USA, bestand nur von 1825 -1827. Josiah Warren führte das Scheitern des Experiments, an dem er selber teilnahm, auf die mangelnden Handlungsspielräume der Teilnehmer zurück.

[35] Murray Rothbard (mit Leonard Liggio), Conceived in Liberty, Volume I: A New Land – A New People – The American Colonies in the Seventeenth Century, New Rochelle 1975. So auch Karl Marx: »Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren [sic] sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den hartnäckigsten Fremdenhass der Barbaren zur Kapitulation zwingt.« Kommunistisches Manifest (1848), MEW 4, S. 466. Wohlgemerkt mit voller Bewunderung (ebd., S. 465): »Sie hat ganz andere Wunderwerke vollbracht als ägyptische Pyramiden, römische Wasserleitungen und gotische Kathedralen, sie hat ganz andere Züge ausgeführt als Völkerwanderungen und Kreuzzüge.« Dass Marx als der Antikapitalist in die Geschichte einging, ist nicht so verwunderlich, weil er sich selber als solchen missverstand. Ein Missverständnis bleibt es gleichwohl. Zur anarchokapitalistischen Lesart von Karl Marx vgl. Stefan Blankertz, Mit Marx gegen Marx, Berlin 2014 (edition g. 111).

[36] Vgl. zu Rousseau Stefan Blankertz, Anarchokapitalismus, S. 34 ff, und Die Katastrophe der Befreiung, S. 131 ff.

[37] Jean-Jacques Rousseau, Emile und Sophie oder die Einsamen (Variante des Titels: … »oder die Verlassenen«; posthum veröffentlichte Fortsetzung von Emile [1762], Ausgewählte Werke in 6 Bänden, Band 5, Stuttgart 1898, S. 334): »Wie soll ich [der erwachsene Emile] mit Ihnen [seinem Lehrer Jean-Jacques] sprechen über die zwei Jahre, welche wir in dieser unglücklichen Stadt [Paris!] zubrachten und über die grausamen Wirkungen, welcher dieser giftvolle Aufenthalt für mein Gemüt und für mein Schicksal gehabt hat?« Welch ein Erfolg der besten denkbaren Erziehung, deren Bemühungen durch einen kurzen Aufenthalt in einem Sünden­pfuhl zunichte gemacht werden können!