Das Verhalten in der Institution Schule

Stefan Blankertz

Das Verhalten in der Institution Schule

Feldpraktische Analyse mit Kurt Lewin

Vorbemerkung

Von Kurt Lewin gibt es keine zusammenfassende Darstellung seiner Feldtheorie,[1] sondern nur einzelne Essays und einige wenige Monographien, die eher Ideensammlungen sind als fertige Theoriegebäude. Er verfasste auch keine speziellen Abhandlungen zur Schule. Im Folgenden schöpfe ich aus meiner eigenen Rekonstruktion der Lewinschen Feldtheorie[2] und knüpfe insbesondere an seine erste Skizze der Feldtheorie im Sinne der Analyse von Kraftvektoren aus dem Jahr 1931 an, die Lohn und Strafe als Erziehungsmittel zum Beispiel nahm, seine neuartige »topologische« Darstellung psychischer Vorgänge zu illustrieren; Schulsituationen kommen am Rande vor, die Schule als Institution thematisiert Lewin jedoch nicht.[3]

Grundbegriffe

Die Grundformel von Lewin, Verhalten sei eine Funktion von Person und Umgebung,[4] zitiert man oft, wendet sie aber selten an, denn, wie wir sehen werden, eignet sie sich zwar für ungemein fruchtbare Analysen, stellt freilich höchste Anforderungen an das Reflexions- und Differenzierungsvermögen. Lewin setzt den Begriff »Verhalten« als nahezu gleichbedeutend mit »Bewegung« ein;[5] darum die metaphorischen Konzepte Topologie (»Ortskunde«)[6] und Hodologie (»Wegekunde«). Verhalten legt im wörtlichen wie im übertragenen Sinne Wege[7] zurück. Dieses Zurücklegen von Wegen erfordert zum einen Kraft und zum anderen Richtung, darum seine Rede von »Vektorpsychologie«. Die Richtung geht auf ein Ziel. Die Bewegung in Richtung auf das Ziel kann durch Gegenkräfte behindert oder durch eine Barriere blockiert werden. Bezogen auf Gegenkräfte kann das Verhalten in

(G1) Kräftemessen (Kampf),

(G2) Ausweichen (Umgehung) oder

(G3) Rückzug (Unterwerfung) bestehen; bezogen auf Barrieren

(B1) Überwindung anstreben (Kampf),

(B2) eine Umgehung versuchen oder schließlich

(B3) resignieren (Unterwerfung).

Die Unterwerfung (G3 und B3) kann entweder (a) unter Prostest geschehen, eventuell nur im privaten Kreis geäußert, oder (b) ganz stillschweigend geschehen. In der stillschweigenden Variante ist die Position der Nicht-Zustimmung durch Erhebungsmethoden, die auf verbalem Ausdruck basieren, kaum zu ermitteln. Dennoch wird sie eine Auswirkung haben: Eine Handlung, die mit inhaltlicher Zustimmung erfolgt, ist immer zielgerichteter. Eine Position der Nicht-Zustimmung begleitet zumindest das Gefühl von Resignation und Ressentiment, dem die Zielerreichung einerlei ist und das stets nach einem Ausweg sucht, falls sich ein Schlupfloch findet.

Gegenkräfte und Barrieren unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Wirkweise. Eine Gegenkraft ist aktiv gegen die Zielerreichung eines Verhaltens gerichtet, die Barriere versperrt passiv den Weg. Die Barriere ist eine Mauer oder Wand, der Einschluss in einen Raum, im übertragenen Sinne eine Regel oder ein Gesetz (wobei Regel und Gesetz zusätzlich der aktiven Kraft bedürfen, um sie durchzusetzen). Beide Wirkweisen müssen aufeinander abgestimmt sein, um das gewünschte Verhalten hervorzurufen: Der Delinquent wird festgenommen (Gegenkraft) und eingesperrt (Barriere).

Eine Person, die sich in Richtung eines Ziels bewegt und dabei auf Gegenkräfte oder auf Barrieren stößt, wird sich immer zu ihnen verhalten; andernfalls wäre die Kraft der Bewegung null und sie würde nichts bewegen. Die Frage ist nicht, ob, vielmehr wie die Person sich verhält. So trivial das klingt, ist es nicht. Niklas Luhmann etwa vertrat die Auffassung, dass es institutionelle Bedingungen (Gegenkräfte und Barrieren) gibt, die keine Auswirkung auf das Verhalten hätten.[8] Das Ziel von Kurt Lewin hingegen bestand darin, eine allgemein gültige Beschreibung der Gesetzmäßigkeit von Verhalten zu liefern, die jede im Feld wirksame Kraft einschließt.

Institution Schule

Die durch Staatsgewalt eingerichtete und finanzierte Schule ist als Institution dadurch gekennzeichnet, dass sie

– eine »Anstalt« (des öffentlichen Rechts) ist, also Gegenstand von politischen und verwaltungstechnischen Vorgängen, sowie dass

– ihr Besuch für gewisse Altersgruppen zwangsweise erfolgt (Schulpflicht) und dass sie über die Schulpflicht hinaus

– Berechtigungen erteilt (wie zum Besuch einer Universität oder zur Ausübung eines Berufs).

Mit der Schulpflicht ist eine Funktion der »Inklusion«[9] gegeben, mit dem Berechtigungswesen eine der Inklusion widersprechende Funktion der Selektion verbunden; das Berechtigungswesen zwingt die Schule dazu, mit Notengebung und Prüfungen zu hantieren. Berechtigungswesen und »öffentliche« Finanzierung sichern der staatlichen Schule eine Monopolstellung und die Anwesenheitspflicht sichert der Institution darüber hinaus eine Abnahmeverpflichtung ihres »Produkts«.[10] Es ist klar, dass eine Institution, die die Berechtigung zur Ausübung eines angestrebten Berufs erteilt, keiner formalen Schulpflicht bedarf, um eine Monopolstellung zu behaupten.

Seltener verstanden dagegen ist die Wirkung der öffentlichen Finanzierung: Die Finanzierung der Institution über die Einnahmen der Staatsgewalt erfolgt unabhängig davon, ob diejenigen, denen der Besuch der Institution dann scheinbar kostenlos gestattet wird, sie auch wirklich in Anspruch nehmen. Falls eine Familie entscheiden sollte, dass ihre Kinder die öffentliche Schule nicht besuchen, würde sie des Nutzens verlustig gehen, der den ihnen vom Staat unter Gewaltandrohung extrahierten Geldmitteln (»Steuern«) innewohnt. Sofern sie eine Alternative wählen, die für den Besuch Gebühren erhebt (was sie tun muss, wenn sie nicht steuerfinanziert ist), zahlen sie doppelt: die öffentliche Schule, die sie nicht nutzen, und die Alternative, die sie nutzen. Der erste, der meines Wissens diesen Mechanismus aufgedeckt hat, war Milton Friedman 1955.[11]

Im Folgenden gehe ich von dem derzeit in der Bundesrepublik Deutschland herrschenden Schulsystem aus. Die Analyse trifft allerdings auf alle Staaten und alle Zeiten zu, in denen die institutionellen Bedingungen ähnlich lauten. Dabei beschränke ich mich auf die Kennzeichen des Schulsystems »Schulpflicht« (Niklas Luhmann nennt dies »Inklusion«) und »Berechtigungswesen« (Selektion) und frage, wie deren Rückwirkung auf das alltägliche Verhalten von Schülern und Lehrern in der Schule sowie auf das Verhältnis der Kinder zu ihren Eltern und der Eltern zu den Lehrern mit Hilfe der Lewinschen Feldtheorie zu analysieren sind.

Schulpflicht:
Eltern und Kinder

Schulpflicht fällt unter die von Lewin formulierte formale Kategorie des »Gebots mit Strafandrohung«.[12] Die Angst vor Strafe möge bei der betroffenen Person ein Verhalten hervorrufen, das von ihr ursprünglich eingeschlagenen Weg abweicht. In der Wirkung der Schulpflicht auf das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern können wir formal vier mögliche Grundkonstellationen unterscheiden:

(EK1) Eltern und Kinder stimmen beide dem Schulbesuch zu (+|+). In diesem Fall ist die in der Schulpflicht implizierte Strafandrohung irrelevant bzw. überflüssig.

(EK2) Eltern stimmen dem Schulbesuch zu, Kinder lehnen ihn ab (+|–). In diesem Fall können die Eltern die Repression der Staatsgewalt nutzen, um sich durchzusetzen, wenn ihre eigenen disziplinarischen Kräfte nicht ausreichen, ihre Kinder zum Besuch einer Schule zu veranlassen. Für die Kinder ist es weitgehend unwichtig, von wem die Repression ausgeht, den Eltern oder dem Staat (bis zu einem gewissen Alter werden sie die beiden Quellen der Repression gar nicht unterscheiden).

(EK3) Eltern lehnen den Schulbesuch ab, Kinder stimmen ihm zu (–|+). In diesem Fall können die Kinder auf die Repression der Staatsgewalt rechnen, um sich durchzusetzen, wenn sie die Eltern nicht auf anderem Weg zu überzeugen vermögen, ihnen den Besuch einer Schule zu gestatten und zu ermöglichen.

(EK4) Eltern und Kinder lehnen beide den Schulbesuch ab (–|–). In diesem Fall muss die Repression der Staatsgewalt, wenn sie sich durchsetzen will, gegen beide Seiten vorgehen.

Was das Verhalten der Kinder in der Schule betrifft, sind (EK1) und (EK3), Zustimmung, sowie (EK2) und (EK4), Ablehnung, sicherlich sehr ähnlich. Ob die Repression der Staatsgewalt via Eltern oder direkt durch die Verwaltungs- und Vollstreckungsorgane erfolgt, ist für das Verhalten des Kindes in der Schule wahrscheinlich von untergeordneter Bedeutung. Bedeutsam ist allerdings, dass in den Fällen (EK2) und (EK3) die Schulpflicht zu einem innerfamiliären Konflikt führt, der allerdings im Rahmen der vorliegenden Analyse keine weitere Beachtung mehr finden soll.

Bei diesen vier Grundkonstellationen ist

– erstens zu beachten, dass Zustimmung und Ablehnung in unterschiedlichen Intensitäten vorliegen können und dass die Stärke der Ablehnung eine Auswirkung darauf haben wird, welchen Weg der Reaktion Eltern und Kinder einschlagen, dass

– zweitens Zustimmung und Ablehnung über die Zeit des Besuchs der Pflichtschule nicht gleich bleiben muss, also entweder Eltern oder Kinder sich umentscheiden, sowie dass

– drittens Ablehnung (bzw. umgekehrt betrachtet: Zustimmung) nicht die ganze Schulsituation betreffen muss, sondern sich eventuell nur auf bestimmte Lehrer, Fächer oder Inhalte erstreckt.

Wie die Grundkonstellationen (EK1) bis (EK4) jeweils zahlenmäßig gefüllt sind, ist kaum abzuschätzen und für meine Fragestellung nebensächlich, sofern die Gruppen (EK2) und (EK4) nicht leer sind. Dies ist allerdings kaum wahrscheinlich. Dass es Kinder gibt, die auf die eine oder andere Weise mit dem Schulbesuch nicht einverstanden sind, ist alltägliche Erfahrung in der Schule. Es gäbe kaum irgendein Problem in der Schule, wenn dem nicht so wäre. Und wenn es keine Eltern gäbe, die den Schulbesuch ablehnen (Gruppen [EK3] und [EK4]), bedürfte es keiner Schulpflicht. Die Existenz der Schulpflicht beweist, dass Widerstand gegen sie lebendig ist.

Eltern, die mit dem von der Staatsgewalt ausgehenden Zwang zum Schulbesuch nicht einverstanden sind, können

(E1) bei Konflikten zwischen ihren Kindern und Lehrern die Partei ihrer Kinder ergreifen,

(E2) lax bei der Aufsicht sein, dass sie die Schule regelmäßig besuchen,

(E3) nach Alternativen Ausschau halten, in Länder auswandern, in denen die Schulpflicht nicht so strikt durchgesetzt wird (die etwa die Möglichkeit des Homeschoolings einräumen),

(E4) gegen die Schulpflicht klagen,[13] oder

(E5) sich unterwerfen.

Weitere Reaktionsformen (E6) bis (Ex) treten im Rahmen des Berechtigungswesens auf und werden dort diskutiert.

Kinder, die den Zwang zum Schulbesucht ablehnen, können

(K1) den Unterricht sabotieren (»stören«),

(K2) den Lehrern gegenüber ein herausforderndes Verhalten an den Tag legen,

(K3) »blau machen«, die Schule »schwänzen«,

(K4) in die Irrealitätsebene des Tagtraums flüchten[14] oder

(K5) sich fügen.

Weitere Reaktionsformen (K6) bis (Kx) treten im Rahmen des Berechtigungswesens auf und werden dort diskutiert.

Schulpflicht:
Durchsetzung

Die Staatsgewalt setzt die Schulpflicht den Eltern gegenüber durch mit der Androhung von Gelstrafen, Erzwingungshaft oder Kindesentzug; den Kindern gegenüber mit polizeilichem Zugriff. Es gibt Länder, in denen es eine auf die Unterbindung von Schulschwänzen spezialisierte Polizei gibt, so beispielsweise in den USA und in Israel. Genaue Zahlen über das Ausmaß der Repression liegen meist nicht vor. In der Bundesrepublik wird etwa die Zahl der für Vergehen gegen die Schulpflicht in Arrest genommenen Jugendlichen nicht veröffentlicht, vielmehr gar nicht erhoben. Oder: Die Frage, welche Eltern zur Umgehung der Schulpflicht das Land verlassen, lässt sich naturgemäß kaum ermitteln, da Eltern ihre Intention zum Auswandern in den seltensten Fällen offiziell bekannt geben.[15]

Die Durchsetzung der Schulpflicht ist in allen Staaten wie bei jeder anderen Durchsetzung von Normen eng mit der Ökonomie der Machtrationalität verbunden, das heißt, sie ist niemals vollständig und bedingungslos. Historisch hat die Staatsgewalt auf die Durchsetzung der Schulpflicht meist verzichtet, wenn sie im Widerspruch zu den Notwendigkeiten der häuslichen Reproduktion stand, etwa bezogen auf die bäuerliche Ökonomie. Dagegen ist die Durchsetzung bezogen auf kulturelle oder religiöse Minderheiten und Abweichler oft besonders rigoros.

Nicht rigoros ist die Durchsetzung der Schulpflicht in der Regel gegenüber Familien, die in ihren Communities ein besonderes Ansehen genießen und in keinem Widerspruch zur von der Staatsgewalt gewollten Leitkultur stehen. Ebenso wird die Durchsetzung der Schulpflicht vielfach vernachlässigt bei Schülern, die als besonders schwierig gelten. Manchmal gibt es für sie spezielle Programme, oft aber werden sie einfach abgeschrieben.

Schulpflicht:
Schüler, Mitschüler und Lehrer

Hat die Tatsache, dass im Unterricht Schüler anwesend sind, die das nicht wollen, eine Auswirkung auf den Unterricht und auf den Lehrer? Die Frage klingt, so direkt gestellt, geradezu grotesk. Niemand würde argumentieren, dass diese Tatsache keine Auswirkung haben könnte. Dennoch ist sowohl die erziehungswissenschaftliche als auch die politische Diskussion von der stillschweigenden Voraussetzung abhängig, dass es eine solche Auswirkung nicht gäbe.

Schüler, die sich schlicht fügen (K5), werden am wenigsten auffallen. Allerdings ist es wahrscheinlich, dass sie in ihren Leistungen weit hinter den Möglichkeiten zurück bleiben. Lewin weist ausdrücklich darauf hin, dass eine durch Strafe (oder Belohnung) erreichte Handlung mit viel weniger Zielgenauigkeit als bei Interesse an der Sache durchgeführt wird.[16] Insofern kann man den Zwang zum Schulbesuch für die zwangsweise anwesenden Schüler als Zeit- und Energieverschwendung bezeichnen. Für den Lehrer sind diese Schüler zwar nicht lästig, allerdings, da sie kaum Interesse zeigen, auch wenig motivierend. Ähnlich sieht es bei tagträumenden Schülern (K4) aus. Topologisch betrachtet, hat der Klassenraum eine Tür, die virtuell oder manchmal auch real von einem Wächter (Polizisten) bewacht wird und keinen Ausweg bietet, aber auch ein Fenster, zu dem das Kind hinaus schauen und seinen Geist dem Blick folgen lassen kann. Es ist physisch anwesend, geistig abwesend. Abgesehen von sozialarbeiterisch engagierten Lehrern tangiert der schlicht fernbleibende Schüler (K3) Lehrer und Mitschüler am geringsten. Die Reaktionsformen K3 (Schwänzen), K4 (Tagträumen) und K5 (Unterwerfung) schaden vor allem dem Schüler selber; dies gewinnt im Zusammenhang der Wirkung des Berechtigungswesens an Deutlichkeit.

Dagegen schaden die Reaktionsformen K1 (Unterrichtsstörung) und K2 (Lehrerärgern) nicht nur dem Schüler selber, sondern auch dem Lehrer und den Mitschülern, sofern sie Interesse an einem guten Unterricht haben. Diese beiden Reaktionsformen machen die täglichen Disziplinprobleme in der Schule aus, die niemals dort auftreten können, wo der Besuch des Unterrichts freiwillig erfolgt. Nicht nur ist bei freiwilligem Unterrichtsbesuch die Ausgangsmotivation der teilnehmenden Schüler positiv, ein Schüler, der dennoch stört, kann darüber hinaus problemlos durch den Lehrer oder auf Bitten der Mitschüler ausgeschlossen werden.[17] Die negative Auswirkung herausfordernder und störender Schüler auf die lernbegierigen Mitschüler thematisiert die Erziehungswissenschaft meist nicht, obwohl – oder gerad weil – diese ganz klar auf den Anwesenheitszwang zurückzuführen ist. In der Alltagskritik an der Schule ist das Thema bei den Eltern sehr präsent, für die der Erwerb des Zertifikats der Berechtigung im Vordergrund steht. Sie wird allerdings rituell auf die Unfähigkeit des Lehrers bzw. seine schlechte Ausbildung zurückgeführt, nicht auf die Staatsgewalt. Aber es ist eindeutig, dass die Schulpflicht nicht nur ein Zwang gegenüber dem Schüler bedeutet, der nicht anwesend sein will, sondern auch gegenüber den Mitschülern und den Lehrern, der Störung und der negativen Lernatmosphäre ausgeliefert zu sein.

Berechtigungswesen

Die Repressionsdrohung der Staatsgewalt, mit Strafgeld, Erzwingungshaft, Kindesentzug und Jugendarrest die Schulpflicht durchzusetzen, richtet sich zwar gegen eine nur ungenau zu beziffernde umfangreiche, jedenfalls aber relativ kleine Gruppe. Dies stimmt mit der Theorie Michel Foucaults überein, dass die Staatsgewalt für ihre Machtdemonstration einer ständigen, jedoch marginalen Schicht bedarf, an der die Normalbürger ablesen können, wie ernst es wird, wenn sie aufmucken.[18]

Ein weiteres leistet das Berechtigungswesen. Auf allen Ebenen verleiht die Schule Berechtigungen:[19] Der Erfolg oder Misserfolg in der Grundschule reguliert den Besuch der weiterführenden Schule. Ohne Hauptschulabschluss gibt es kaum noch eine Möglichkeit, eine Lehre zu absolvieren. Das Abitur ist das Eintrittszertifikat für die Hochschule, wird inzwischen aber auch schon bei einer Vielzahl von Lehrberufen vorausgesetzt. Die Abiturnote entscheidet via Numerus Clausus, welche Studienfächer offen stehen. Universitätsabschlüsse sind für viele begehrte Berufe aufgrund staatlicher Verordnung erforderlich.

Das Berechtigungswesen fällt unter die von Lewin formulierte formale Kategorie des »Gebots mit Belohnung«.[20] Die Erteilung der Berechtigung ist der Lohn für das fügsame Verhalten.

Durch die Funktion, Berechtigungen verleihen zu können, sind alle Institutionen, die von der Staatsgewalt lizensiert sind, die Zertifikate auszugeben, mit einem Monopolschutz versehen: Wer die Berechtigung anstrebt, einen mit staatlicher Zugangsbarriere versehenen Ausbildungsweg einzuschlagen oder Beruf zu ergreifen, muss sich an eine derart privilegierte Institution halten. Damit haben solche Institutionen denen gegenüber, die eine Berechtigung anstreben, ein starkes Mittel der Disziplinierung in der Hand: Wer sich nicht verhält, wie die Institution es verlangt, kriegt kein Zertifikat. Die Reaktionsformen K1 (den Unterricht stören), K2 (den Lehrern gegenüber ein herausforderndes Verhalten an den Tag legen) und  K3 (Unterricht schwänzen) lassen sich so zwar nicht vollständig vereiteln, aber doch für viele Schüler, die die Berechtigung erreichen wollen und können, in Grenzen halten. Der Zusatz »… und können« ist überaus wichtig: Diejenigen, die zum Zur-Schule-Gehen gezwungen sind, aber erfahren, dass sie es sowieso nicht »schaffen«, werden um so aufsässiger werden. Dies nenne ich die »Goodman-Hypothese«.[21]

Allerdings ergeben sich für die Kinder (und Jugendlichen, ggf. auch Erwachsenen) noch zwei zusätzliche Reaktionsformen mit unerwünschten Nebenwirkungen:

(K6) Betrug. Da das Interesse der Unterrichtsteilnahme nicht darin besteht, die Sache zu lernen, sondern die Note zu erhalten, ist es für den Schüler einerlei, ob er die Sache gelernt hat oder die Note auf andere Art ergattert hat. Betrug ist die Umgehungstendenz, die Lewin für die psychologische Situation bei Belohnung ansetzt.[22]

Sofern die Politik der Institution lautet, nicht allen gleichermaßen die Berechtigung zu erteilen, kommt durch das Berechtigungswesen neben dem Betrug noch ein Element in den Unterricht hinein, die

(K7) Konkurrenz zwischen den Schülern. Die Konkurrenz heißt stets: Ich selber will die Berechtigung erlangen (auf welchem Weg auch immer), dem Mitschüler soll sie aber versagt bleiben. Die Mitschüler hassen den Schüler, der ihnen nicht »vorsagt« und sie nicht »abschreiben« lässt. Konkurrenz im Zusammenspiel mit dem Berechtigungswesen ist kein fairer Wettkampf, sondern das Bestreben, die eigene Position auf Kosten der Anderen zu verbessern.

Die Politik der Institution muss so lauten, dass nicht allen gleichermaßen die Berechtigung erteilt wird, denn es ist der Sinn des Berechtigungswesens, den Zugang zu Bildungswegen und Berufen nach den Vorgaben der »gesamtgesellschaftlichen« Planwirtschaft zu regeln. Oder anders gesagt: Wenn aufgrund der Abnutzung einer Berechtigung wie etwa des Hauptschulabschlusses eine diskriminierende selektive Wirkung des entsprechenden Zertifikates nicht mehr gegeben ist, wird eine nächsthöhere Berechtigung hinterher geschaltet. So auch beim Abitur: Als bezogen auf die gesellschaftliche Planwirtschaft »zu viele« junge Menschen das Abitur schafften, wurde am 27. März 1968 in der BRD der Numerus Clausus eingeführt, um den Zugang zu Ausbildungswegen wie dem Ärzteberuf nach den planwirtschaftlichen Maßgaben regulieren zu können.[23]

Das Berechtigungswesen bringt drei weitere weniger einschneidende, die Atmosphäre zwischen Schülern und Lehrern sowie innerhalb der Klasse (bzw. des Kurses) dennoch beeinflussende Reaktionsformen hervor:

(K8) Einschmeicheln. Der Schüler kann versuchen, durch Erweckung von Sympathie oder Mitleid beim Lehrer diesen so zu stimmen, dass er ihn wohlwollender beurteilt. Das sind die »Streber« und »Schleimer«, Gegenstand des Spotts durch die Mitschüler. Ein tabuisiertes Thema, denn es wird davon ausgegangen, dass Lehrer Versuche des Einschmeichelns erstens treffsicher diagnostizieren und zweitens ihnen niemals erliegen. Beides unrealistische Annahmen.

(K9) Beschwerde. Beschwerden gegen »Ungerechtigkeit« (in der Beurteilung) können bei dem Lehrer selber vorgebracht oder bei dessen Vorgesetzten (zum Beispiel dem Direktor der Schule) eingereicht werden. Die Klage über »Ungerechtigkeit« gibt sich formal, als ziele sie auf Gleichheit, ist jedoch fast immer ein Instrument, um beim Kampf zur Erlangung einer Berechtigung selber in eine bessere Position zu gelangen. Die Beschwerde kann auf um so größere Erfolgsaussicht hoffen, je mehr sie nachweist, dass der Lehrer gegen eine institutionelle Norm verstoßen hat. Insofern ist die Beschwerde ein Disziplinierungsmittel den Lehrern gegenüber und zwar in die Richtung, nur ja keine Normen zu missachten. Nachsichtige Beurteilung und nachlässige Befolgung des vorgegebenen Stoffes durch den Lehrer führen schnell dazu, dass Schüler diese Schwachstelle ausnutzen und gegen den Lehrer richten. Zudem lösen solche Eigenmächtigkeiten (in Relation zu den Vorgaben der Staatsgewalt) der Lehrer bei den Schülern, den Eltern und in der Öffentlichkeit das Gefühl aus, die verliehene Berechtigung sei nichts wert oder diene ihrem Zweck nicht.

(KX) Schließlich kann der Schüler durch Wechsel von Fächern, Lehrern oder gar der Schule erstreben, seine Position im Kampf um die Berechtigung zu verbessern. Die Wahl eines Lehrers ist in Deutschland fast unmöglich und nur in Ausnahmen führt ein solcher Versuch zum Erfolg. Bezogen auf die Wahl der Fächer/Kurse kommt es bei den Schülern vielfach zu einer Spannung zwischen den Kriterien des Interesses an der Sache, Leichtigkeit der Erlangung der Berechtigung (wenn das Fach, dem das Interesse gilt, schwierig ist), sowie Sympathie bzw. Antipathie für den Lehrer, der das Fach vertritt.

Betrug (K6) und Konkurrenz (K7) prägen das Verhältnis der Schüler untereinander und zum Lehrer; K6 mehr das Verhältnis zum Lehrer, K7 mehr das Verhältnis der Schüler untereinander. K8 (Einschmeicheln) und K9 (Beschweren) belasten das Verhältnis zum Lehrer.

Auch bei den Eltern ergeben sich Strategien in der Anstrengung, für ihre Kinder eine diesen angemessen erscheinende Berechtigung auch gegen das Votum des Lehrers zu ergattern:

(E6) Wie bei den Schülern, haben auch Eltern die Tendenz, sich bei den Lehrern einzuschmeicheln, wenn der Eindruck herrscht, der Lehrer würde das betreffende Kind zu streng beurteilen, sei aber empfänglich für emotionale Bestechung.

(E7) Die Form der Beschwerde, die bei den Schülern selber eine untergeordnete Rolle spielt, weil sie meist noch nicht ernst genommen werden und noch nicht rechtsfähig sind, nimmt bei Eltern mitunter überhand. Lehrer werden mit Beschwerden überhäuft, die Eltern wenden sich an den Schulleiter oder gehen gerichtlich gegen den Lehrer bzw. die Schule vor. Selbst das bildungspolitische Engagement von Eltern ist oftmals auf die Optimierung der Erlangung von Berechtigungen gerichtet. Die Rede davon, nicht »jeder« müsse Abitur machen, heißt im Klartext immer: Meine Kinder sollen Abitur machen, aber der Staat möge sie vor allzu vielen Konkurrenten bewahren.

(EX) Je nach Alter des Kindes sind es vor allem die Eltern, die einen Klassen- oder einen Schulwechsel betreiben; ein Grund kann der sein, dass die Eltern vermuten, ihr Kind könne in einer anderen Klasse oder an einer anderen Schule besser reüssieren.

Die Institution Schule:
Überblick über die Wirkungen

Die Institution Schule hat Wirkungen auf den Unterrichtsalltag, auf das Verhältnis zwischen Kindern und ihren Eltern sowie auf den Lebensweg der nachwachsenden Generation. Die zentralen Kennzeichen der Institution Schule, Schulpflicht (»Inklusion« in der Luhmannschen Terminologie) und Berechtigungswesen, führen zum Phänomen der Schulversager, zu gestörten Mitschülern und kranken Lehrern. Diese Wirkungen sind nicht durch Reformen der Schulorganisation, Inhalte oder Methoden zu beheben und auch nicht durch psychologische Betreuung der betroffenen Schüler und Lehrer, sondern nur eine Veränderung der Ausgangsbedingungen, das heißt Abschaffung von Schulpflicht und Berechtigungswesen.

Die analysierten Reaktionen und Wirkungen sind in der folgenden Tabelle schematisch dargestellt:

Bei den Bezeichnungen auf der x-Achse stehen G… für die Gegenkräfte, im vorliegenden Zusammenhang sind die Lehrer als direkte Gegenüber der Kinder und Eltern gemeint, B… für die Barriere, im vorliegenden Zusammenhang bezeichnet dies den institutionellen Rahmen des Schulsystems mit Schulpflicht und Berechtigungswesen. Die »Selbstschädigung« steht bei den Eltern (E…) auch für die Möglichkeit, dass ihr Verhalten sich nachteilig für die Kinder auswirkt, etwa wenn der von den Eltern kritisierte Lehrer dafür das Kind straft (was er nicht tun sollte, dennoch aber zweifellos tun kann), in der Tabelle mit »?« angedeutet. »Fremdschädigung« bezieht sich entweder auf die Lehrer, auf die Mitschüler oder beide.

Bei den Bezeichnungen auf der y-Achse stehen E… für die Eltern-, K… für die Kinder- (Schüler-) Reaktionen; sie sind weiter oben im Text beschrieben, hier in Kurzversion zur Erinnerung. Die Position E4 bezieht sich ausschließlich auf die mögliche (Verfassungs-) Klage gegen die Schulpflicht, nicht auf mögliche Klagen gegen Lehrerverhalten oder gegen einzelne Noten, die unter E7 (Beschwerde) fallen. Nur weil E4 eine kleine Gruppe ist, heißt das nicht, dass man sie nicht berücksichtigen sollte.

Eine Reihe von Reaktionen auf die Gegenkräfte schließen, wie die Tabelle zeigt, ein, dass die Gesamtsituation – die Schulpflicht resp. das Berechtigungswesen als Barriere – akzeptiert wird, so insbesondere das Einschmeicheln beim Lehrer (E6, K8), die Beschwerde (E7, K9) und der Schulwechsel (Ex, Kx): Diese Reaktionen fordern zwar einen konkreten Lehrer heraus oder implizieren dessen Ablehnung, nicht aber das gesamte System. Im Gegenteil, die Beschwerde zielt darauf ab, den von der Norm abweichenden Lehrer zu disziplinieren. Selbst der Kampf gegen den Lehrer (E1, K2) bedeutet, dass der von der Staatsgewalt ausgehende Anwesenheitszwang unberührt bleibt.

Einer speziellen Aufmerksamkeit bedarf das Stören des Unterrichts (K1), das ja sehr verbreitet ist. Es handelt sich beim Stören nicht um den Kampf gegen den Lehrer (K2), sondern um den Versuch des Kindes, die Situation in dem Raum, in welchem es eingeschlossen ist, zu verändern und zwar von einer Unterrichts- und Lehrveranstaltung hin zu Freizeit und Spiel. Mit dem Stören kämpft das Kind allein oder im Verbund mit Klassenkameraden gegen die Barriere, die sie zur Teilnahme zwingt und wandelt den Binnenraum, in dem sie sich aufhalten müssen, so, dass er sich dem erstreben Außenraum weitgehend annähert: Das Kind beschäftigt sich mit dem, was es momentan mehr interessiert als der Unterricht; Kinder tauschen sich aus (»quatschen«), spielen usw. Zu »Störungen« kommt es vor allem bei schwachen, zum Teil sogar bei beliebten Lehrern, während unbeliebte, aber strenge Lehrer verschont bleiben.

Die Reaktionen K1 (Stören), K2 (Kampf gegen den Lehrer), K3 (Schwänzen) und K4 (Tagträumen) richten sich vornehmlich gegen die Anwesenheitspflicht und werden durch die Funktion der Schule als Chancenzuteilerin im Rahmen des Berechtigungswesens diszipliniert. Die Reaktionen K6 (Betrug), K7 (Konkurrenz), K8 (Einschmeicheln), K9 (Beschwerde) und Kx (Schulwechsel) zielen auf das Berechtigungswesen, um mit weniger Leistung an das erstrebte Zertifikat zu gelangen.

Das Paradox der Veränderung:
Die Schule überleben

Die Veränderung der Ausgangsbedingungen liegt nicht im Bereich der unmittelbaren Handlungsmöglichkeit der betroffenen Schüler, Lehrer und Eltern. Was ist dennoch möglich?

Die Gestalttherapie kennt das »Paradox der Veränderung«: Erst wenn man akzeptiert, was ist, kann sich etwas verändern.

Wenn ein »engagierter« oder »idealistischer« junger Lehrer auf die Unterrichtsrealität stößt, spricht die Erziehungswissenschaft verschleiernd von »Praxisschock«, als seien die Probleme der Praxis an sich geschuldet, und nicht den genau zu benennenden Bedingungen der Institution Schule. Die zahlenbegeisterte Mathematikstudentin, die sich vorstellt, dass sie den Kindern dabei hilft, den Stoff zu verstehen, merkt im Referendariat schnell, dass viele Schüler gelangweilt sind, sich nicht für Mathe interessieren, wollen, dass die Stunde schnell vorbei geht, sie wenig Hausaufgaben aufkriegen und ansonsten in Ruhe gelassen werden. Der für die Probleme der Migrantenfamilien sensible Lehrer sieht sich konfrontiert mit zornigen Mitschülern und deren Eltern, die nicht einsehen, warum die Fehler der Einen stärker ins Gewicht fallen als diejenigen der Anderen, und dann verarschen ihn die von ihm Begünstigten noch; schließlich verdonnert ihn die Schulleitung, Zensuren nach objektivierbaren Leistungen zu geben. Die Grundschullehrerin möchte nichts anderes, als dass alle einbezogen sind, ganz besonders die beiden armen Kinder der Jehovas Zeugen, bis die Eltern wutentbrannt aufkreuzen und sie zur Rede stellen, warum ihre Kinder gezwungen werden, Götzenbilder zu basteln. Der gestaltpädagogisch angehauchte Lehrer sagt mir, Zensurengeben sei »Beziehungsarbeit« (mir wird kotzübel), bis er feststellt, dass ein Paar große runde braune Augen ihn anstrahlen, genau weil sie zu wissen meinen, dass sie dann leichter an eine gute Note kommen.

Der »Praxisschock« macht zynisch oder krank, es sei denn, der Lehrer akzeptiert zunächst einmal, dass er für eine Reihe von Kindern und eine Reihe von Eltern in erster Linie nicht eine Person ist, sondern Repräsentant der Staatsgewalt. Dass er für alle Schüler vor allem die Instanz ist, die über ihre Lebenschancen mitentscheidet.

Ohne die Fähigkeit zum Perspektivwechsel kann der Lehrer bloß Schiffbruch erleiden. Wenn er nicht erkennt, dass er Schülern und Eltern gegenüber Vollstrecker von Staatsgewalt und Türwächter der Lebenschancen ist, wird ihm das Verhalten sowohl seiner Schüler als auch deren Eltern ihm gegenüber als irrational, dumm, lästig und aufdringlich erscheinen. Erst die Anerkennung der institutionell definierten Rollen eröffnet die Möglichkeiten, die sich jenseits von ihnen auftun. Wenn Lewin sagt, Verhalten sei die Funktion von Person und Umgebung, so meint er es genau in dieser Weise: Die Umgebung darf zwar nicht vernachlässigt oder ganz ausgeklammert werden, bestimmt aber nicht vollständig das Verhalten. Eine Begegnung jenseits der sozialen Rollen ist möglich und findet tagtäglich statt, andernfalls wäre die Schule überhaupt nicht zu ertragen.

Gestaltpädagogik in meinem Verständnis hat dieser Situation ins Auge zu sehen: Auf der einen Seite darf sie die Kritik an der Institution Schule nicht vernachlässigen oder ganz unter den Tisch fallen zu lassen, auf der anderen Seite sollte sie die Ausschöpfung der Freiräume anregen, die sich trotz des Charakters der Institution auftun. Augenwischerei wäre allerdings ein Versprechen derart, durch Stärkung der Beziehungsfähigkeit und Förderung der Kontaktstärke der Lehrerpersönlichkeit oder durch Einführung von kreativen Methoden und Entspannungstechniken die Problematik der Schule zu »heilen«. Ein solches Versprechen mündet unweigerlich in Enttäuschung und in die Suche nach einem neuen Heilsbringer. Diese Wellen von Heilsbringern schlagen über die Schüler und Lehrer zusammen wie die der Pandemie.

Zu den schlimmsten und »nachhaltigsten« Erlebnissen der Schulzeit gehören Demütigung und Bloßstellung durch Lehrer und, teils im Verbund mit ihm, durch Mitschüler. Den Schüler zu demütigen und bloßzustellen, ist selten eine vollständig bewusste Entscheidung des Lehrers, entspringt vielmehr meist einem uneingestandenen Ressentiment. Das Ressentiment kann der Schüler selber ausgelöst haben, indem er nicht so auf die Bemühung des Lehrers reagiert, wie dieser es sich wünscht; es kann aber vor allem aus Frustrationen in anderen Bereichen stammen – Ärger mit den übrigen Schülern, mit Kollegen, mit dem Direktor – und sich gegen einen Schüler richten, der sich wenig zu wehren versteht und dessen Eltern ihn nicht schützen. Ein wichtiges Hilfsmittel, sich gegen die Herausbildung von Ressentiment zu wappnen, besteht darin, dass der Lehrer von dem knechtenden und unmöglich zu erreichenden Ideal Abschied nimmt, für alle Kinder gleichermaßen die optimale Hilfe zu sein. Wenn er sich ein- und zugesteht, dass nicht alle Kinder ihm »liegen«, noch er allen Kindern »liegt«, kann er denen, für die er gut ist, das geben, was er zu geben hat, und für die übrigen Kinder versuchen, so wenig wie möglich schädlich zu sein. In Ruhe lassen ist allemal besser als drangsalieren. Nur der Lehrer, der gut für sich sorgt, kann zu den Kindern gut sein. Das Ziel sollte dort gesucht werden, das Augenmerk auf Lösungen zu legen, die für alle lebensfähig sind, statt auf Disziplinierung und Strafe. Aber auch bei diesem Ziel bleibt es absolut notwendig, sich ein- und zuzugestehen, dass es nicht immer erreichbar ist: Manchmal weiß man sich keinen anderen Rat, als auf Disziplinierung und Strafe zurückzugreifen.[24]

Demütigung und Bloßstellung erfahren nicht nur Schüler, sondern auch Lehrer; sie können ausgehen von Schülern oder deren Eltern, von Kollegen oder Vorgesetzten. Hinsichtlich der Drangsalierung durch Schüler wird das Problem gern auf »Disziplinschwierigkeiten« reduziert. Darüber zu sprechen, ist hochgradig tabuisiert, wird in der Regel von den Vorgesetzen, den Kollegen, den Eltern und von der Öffentlichkeit als »Schwäche« und »Versagen« des Lehrers ausgelegt und dient zu weiterer Demütigung und Bloßstellung. Der Wunsch des so als einsamer Wolf kämpfenden Lehrers, alle Kollegen mögen »solidarisch« zusammenstehen, womöglich mit Unterstützung der Schulleitung, ist seinerseits ein unerreichbarer Tagtraum, der wenig zur Lösung beiträgt und bloß kurzfristig entlastet. Eine solche Solidarität ist nicht nur kaum erreichbar, sondern, wenn sie erreichbar wäre, auch höchst problematisch, weil sie sich stets aus Ressentiment speist.

Sinnvoll ist es dagegen, mit gleichgesinnten Kollegen und gegebenenfalls mit supervisorischer und therapeutischer Unterstützung sichere Räume der Reflexion zu schaffen, in denen die Angst herabgesetzt ist, im gegenseitigen Austausch nach kreativen Lösungen zu suchen, Lösungen mit dem doppelten Gesicht: Selbstsorge sicherzustellen und den Schülern unter den gegebenen Bedingungen so weit wie möglich gerecht zu werden.


[1] Die freilich erst posthum durch den Herausgeber Dorwin Cartwright einer Reihe von sozialwissenschaftlichen Essays so genannt wurde: Field Theory in Social Science (1951). Den Feldbegriff führte Wolfgang Köhler in die (Gestalt-) Psychologie ein. Lewin nannte seinen Ansatz »(kausal-) dynamische Theorie«, »Vektorpsychologie«, »Topologie« und »Hodologie« (sein eigener Kunstbegriff nach griechisch »hodos«, Weg).

[2] Stefan Blankertz, Kurt Lewins Kritik der Ganzheit (2017), erweiterte Ausgabe 2020 (edition g. 403).

[3] Kurt Lewin, Die psychologische Situation bei Lohn und Strafe (1931), Neuausgabe als kritische Edition, hg. von Stefan Blankertz, 2020 (edition g. 409). Im Folgenden zitiert als LS.

[4] V = f(P,U)

[5] Bewegung auch im übertragenen Sinne als Denkbewegung.

[6] Lewin bezog sich auf den mathematischen Begriff der Topologie (»Jordan-Kurve«), was im vorliegenden Zusammenhang jedoch unerheblich ist.

[7] Man denke (sic) an die Metapher »Denkwege«.

[8] Vgl. Stefan Blankertz, »Antiherrschaftlicher Widerstand ist keine Systemkategorie«: Niklas Luhmanns Apologie der Schule, sowie Stefan Blankertz, Die Macht und ihre Wirkung: Luhmanns Machttheorie auf dem Prüfstand.

[9] Niklas Luhmanns Terminologie ist an dieser Stelle richtig, seine Analyse allerdings falsch.

[10] Das Produkt der Schule heißt »Unterricht«, nicht »ausgebildeter Schüler« (das letztere ist die irrige Behauptung von Luhmann). Das Produkt des Waschmittelherstellers ist »Waschmittel«, nicht »saubere Wäsche«.

[11] The Role of Government in Education, 1955; später in: Capitalism and Freedom, 1962. Eine Verwendung des Theorems in der Erziehungswissenschaft, namentlich der deutschen, fand nicht statt. Eine der wenigen Ausnahmen ist Dawid Nasaw, Schooled to Order, New York 1979.

[12] LS, S. 23ff.

[13] In der BRD hat das Bundesverfassungsgericht am 31. 05. 2006 die Klage von religiös orientierten Eltern gegen die Schulpflicht behandelt und deren Anliegen abgelehnt (2 BvR 1693/04).

[14] Dem Ausweichen in die Irrealitätsebene bei starker Repression und Angst widmete Lewin eine lange Passage, in der eine autobiografische Erinnerung Tolstois analysiert (LS, S. 64ff).

[15] Anfang der 10er Jahre hat eine Familie aus Deutschland ein gewisses, in Deutschland weitgehend negatives Presseecho ausgelöst, die in den USA um politisches Asyl bat, da sie ihre Kinder aus religiösen Gründen nicht zur Schule schicken wollte. Sie erhielt zwar kein Asyl, aber Bleiberecht, weil das zuständige US-Gericht in der bundesdeutschen Handhabung der Schulpflicht eine Grundrechtsverletzung erkannte.

[16] LS, S. 21f, S. 101ff. Lewin lehnt die Formulierung ab, eine erzwungene Handlung sei »energieärmer«. Sie kann viel Energie enthalten, aber diese Energie ist nicht vollständig auf die Zielerreichung gerichtet. LS, S. 15.

[17] Zur Definition von Freiwilligkeit via Austrittsrecht (durch den Einzelnen) einerseits und via Ausschlussrecht (durch die Gruppe) andererseits vgl. Stefan Blankertz, Einladung zur Freiheit: Werkbuch libertäre Theorie und Praxis, 2020 (edition g. 118).

[18] Michel Foucault, Überwachen und Strafen, Frankfurt/M. 1976.

[19] Auch wenn Niklas Luhmann dies bestreitet.

[20] LS, S. 77ff.

[21] Paul Goodman, Compulsory Mis-education, 1964.

[22] LS, S. 79.

[23] Gründung der »Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen« (ZVS) 1973, ab 2010 »Stiftung für Hochschulzulassung« (SfH).

[24] Zu Beginn von LS lässt Lewin ausdrücklich die Frage offen, »ob etwa überhaupt eine Möglichkeit besteht, Lohn und Strafe [als pädagogisch-erzieherisches Mittel] [ganz] zu vermeiden« (LS, S. 13).