Ein Gespräch zwischen Tommy Casagrande und Stefan Blankertz
Tommy: Es freut mich, dass du die Zeit für dieses Interview gefunden hast. Wir wollen heute über den Sozialstaat, seine Ideologie und seine Wirkungen sprechen, da Jahr ein und Jahr aus der Sozialstaat das goldene Kalb ist, um das alle tanzen. Was ist der Sozialstaat und wie ist er entstanden?
Stefan: Sozialstaat ist die Idee, dass die Staatsgewalt soziale – gesellschaftliche – Funktionen übernehmen solle, besonders im Bereich der Unterstützung von Armen und Bedürftigen; er stellt die Okkupation der gegenseitigen Hilfe durch den Staat dar. Der Prototyp ist Bismarcks Sozialgesetzgebung. Die sozialistische, kommunistische und anarchistische Opposition war anfangs ganz eindeutig auf Selbsthilfe und Selbstorganisation ausgelegt; und diese Ansätze wollte Bismarck zerschlagen. Die Fixierung der sozial Engagierten darauf, Staatsknete zu maximieren, ist die beabsichtigte Konsequenz daraus, und das hat auch geklappt, aber erst so um Wende zum 20. Jahrhundert. Ein zweiter starker Impuls hat in den USA mit der sogenannten „Progressive Era“ stattgefunden. Das ist insofern eine besonders bittere Ironie der Geschichte, als heute in Europa der völlig falsche Eindruck herrscht, in den USA gäbe es gar keinen Wohlfahrtsstaat.
Tommy: Sagt die Entstehung etwas über die vor dem Sozialstaat stehende Ideologie und die hinter ihm stehenden ökonomischen Interessen aus?
Stefan: Dass dies der Fall ist, lässt sich an einem weiteren wichtigen Punkt der Entwicklung des Sozialstaats erkennen, in den 1960er Jahren, ebenfalls besonders deutlich in den USA mit der von Präsident Lyndon B. Johnson ausgerufenen sogenannten „Great Society“. Wie bei Bismarck war das Ziel, die Protestbewegung der „Neuen Linken“ aufzukaufen, denn sie schickte sich an, Selbstorganisation außerhalb des Staats zu erproben. Zunächst hat sie das Programm der „Great Society“ strikt abgelehnt, ließ sich dann aber doch integrieren.
Tommy: Wie funktioniert die Umverteilung von unten nach oben und warum sieht es nur so aus, als wenn sie von oben nach unten stattfände?
Stefan: Der Wohlfahrtsstaat hat bei seinem Ausbau eine grandiose Sozialbürokratie und von den staatlichen Geldern abhängige Unternehmen und Einzelanbieter geschaffen. Damit ist ein großer Teil der sogenannten Mittelschicht direkt oder indirekt vom Staat abhängig. Folgendes Bild: Da gibt es in Berlin einen armen, hilfebedürftigen Jungen, vernachlässigt durch die Mutter, leicht lernbehindert; eine Nachbarsfamilie kümmert sich um ihn, also klassische Selbstorganisation der Gesellschaft. Aber das Jugendamt ist skeptisch. Regelmäßig finden sogenannte „Hilfekonferenzen“ statt, die die hilfsbereite Familie drangsalieren und an den Pranger stellen. Die jeweils so um die zehn Teilnehmer dieser Konferenzen kennen den Fall zum größten Teil nur aus der Aktenlage, sie haben den Jungen und die informellen Pflegeeltern nie gesehen. Und jeder Einzelne verdient mehr als das Haushaltseinkommen der hilfsbereiten Familie beträgt. Von bestimmten Leistungen des Sozialstaats, wie etwa der kostenlosen Bildung, profitieren hauptsächlich die Mittel- und Oberschicht.
Tommy: Nicht-Libertäre zweifeln daran, dass ein freiwilliges Spendenaufkommen genügen würde, bei Abschaffung des Sozialstaates die Bedürftigen zu finanzieren.
Stefan: Wenn der Staat kostenloses Essen für Alle anbieten würde und darum nur noch die Wenigsten selbst kochen, würden Viele nach einigen Jahrzehnten auch behaupten, dass die Masse der Bevölkerung ohne diese staatlichen Suppenküchen verhungern.
Tommy: Gibt es theoretische oder historische Beweise die eindeutig aufzeigen, dass bei Abschaffung des Sozialstaates die Bedürftigen durch freiwilliges Spendenaufkommen auf alle Fälle abgesichert werden, obwohl es keinen Zwang mehr gibt Steuern einzutreiben um diese Menschen zu finanzieren oder lässt sich diese Absicherung nicht eindeutig theoretisch fundieren?
Stefan: Die Frage ist selbst ein Symptom des Problems: Es müssen Lösungen her, die sicherstellen, dass alle alles bekommen, von dem die Herrschenden behaupten, sie müssten es haben. Am besten weltweit. Solche Lösungen sind immer falsch. Echte Lösungen entstehen vor Ort. Hier ist jemand in Not, hier helfe ich. Der Erfolgstrainer Jürgen Höller hilft, Schulen in einem Slum von Nairobi zu bauen, weil er bei einem Besuch dort erschüttert war. Damit löst er nicht das Problem der Kinder in Mexiko Stadt. Damit rettet er nicht die Obdachlosen in Paris vor dem Winter. Ganz allgemein kann man auf den Einwand, jedenfalls wenn er von einem Demokraten kommt, antworten: Wenn die Mehrheit der Leute nicht bereit wäre, für Hilfebedürftige etwas zu tun, würde sie eine entsprechende Regierung wählen – und natürlich passiert das auch hin und wieder; wenn die Leute von der Sozialbürokratie angepisst sind, wählen sie Parteien, die versprechen, Sozialleistungen einzuschränken. Es ist genau umgekehrt: Die Menschen sind vermutlich in einem viel stärkeren Maße bereit, etwas für wirklich Bedürftige zu tun, als der Staat Mittel zur Verfügung stellt. Sie spenden ja auch jetzt schon über den Anteil ihrer Steuern, der für soziale Zwecke verwendet wird, hinaus in großem Umfang.
Tommy: Muss man dem obigen Punkt hinzufügen, dass bei Abschaffung des Sozialstaates im Umkehrschluss ein freier Kapitalismus zugelassen werden muss, der nicht automatisch durch Abschaffung des Sozialstaates Verwirklichung findet? Ist es wichtig, in einem gemeinsamen Atemzug von der Abschaffung des Sozialstaates und der Befreiung der kapitalistischen Kräfte zu sprechen, weil sich anders eventuell die Bedürftigkeit gar nicht reduzieren und die finanziellen Möglichkeiten der Menschen freiwillig Hilfe zu leisten aufbauen würden?
Stefan: Es ist sicherlich außer in einer revolutionären Situation ganz und gar ausgeschlossen, dass das libertäre Programm komplett und mit einem Schwung durchgesetzt werden kann. So ist es kaum denkbar, dass der Sozialstaat auf einmal komplett abgeschafft werden kann. Realistisch gesehen wird das schrittweise geschehen. Was richtig ist, ist, dass eine Reduzierung des Sozialstaats notwendig mit der Reduzierung der Steuerlasten und anderer Abgaben verbunden sein muss. Wenn der Staat an Sozialleistungen spart und das eingesparte Geld an andere Amigos gibt, wie etwa die Rüstungsindustrie, dann ist das sicherlich kein Fortschritt und keine Umsetzung der libertären Idee. Und flankierend zur Reduzierung der Abgabenlast wäre sicherlich eine Reduzierung der Wirtschaftsinterventionen wünschenswert, um mehr Möglichkeiten zuzulassen, Einkommen zu erzielen.
Tommy: Der Sozialstaat gibt vor, den Interessen derjenigen zu dienen, die von Transferleistungen abhängig sind, also den Ärmsten. Ist dem so? Oder dient der Sozialstaat, während er nur vorgibt den Armen zu helfen, in Wirklichkeit anderen Interessengruppen die weder arm, noch bedürftig sind?
Stefan: Man muss da differenzieren. Sicherlich gibt es Menschen, die hilfebedürftig sind, die sich nicht selbst helfen können. Viele von denen, die heute auf Transferleistungen angewiesen sind, sind es aber aufgrund von staatlichen Maßnahmen, und das ist dann eine ganz andere Geschichte. Und die wirklich Hilfebedürftigen erhalten im Sozialstaat eine kalte, bürokratische Hilfe.
Tommy: Ist der Sozialstaat ein System, dass durch die Entnahme von Steuergeld die wirtschaftliche Substanz der Gesellschaft schwächt, sodass die Schaffung von Arbeitsplätzen erschwert oder gar verunmöglicht wird und auf diesem Wege neue Bedürftige von Transferleistungen geschaffen werden, zu deren Finanzierung der Sozialstaat auf weitere Steuergelder zurückgreifen muss, die den Effekt im Sinne eines Kreislaufs der wirtschaftlichen Selbstzerstörung perpetuieren? Jede sozialstaatliche Transferleistung zieht quasi eine wirtschaftliche Verschlechterung der allgemeinen Verhältnisse nach sich, die dazu führt, dass eine noch größere Anzahl an Bedürftigen die nächste Phase der wirtschaftlichen Verschlechterung der allgemeinen Verhältnisse einleiten usw. In dieser Betrachtung wäre der Sozialstaat ein selbstzerstörerisches System, da auch er nur davon leben kann, was erst produziert wurde. Offenkundig hat es der Sozialstaat bislang nicht geschafft, diese Abwärtsspirale bis zur endgültigen Zerstörung der wirtschaftlichen Lebensverhältnisse der Gesellschaft entlang zu gehen. Anscheinend gibt es Faktoren die diesen Selbstzerstörungsmechanismus ausbremsen. Gibt es diese Faktoren und wenn ja, welche sind das? Oder ist schon die Vorstellung falsch, der Sozialstaat würde in seinem Sog alles mitreißen? Ist diese Befürchtung eine, die auf einem statischen Wirtschaftsmodell beruht, bei dem sozusagen der Kuchen nicht wächst?
Stefan: Ich halte sowieso nichts von Crash-Voraussagen. Die Manager des Systems sind inzwischen ziemlich clever, und es ist nicht die Tendenz zum Zusammenbruch, die am System zu kritisieren ist, sondern dass es zu reibungslos funktioniert. Allerdings gehört tatsächlich zu der Strategie, das System zu stabilisieren, dass es staatlichen Wildwuchs und Ausgabensteigerungen bisweilen zurückschneiden muss. Dies hat dann oft eine Verstärkung der sozialen Konflikte zur Folge, in welchem die sogenannte Linke (aber immer öfter auch die sogenannte Rechte) den Neoliberalismus für zunehmende Verarmung haftbar macht. Wir sehen das gerade in Frankreich im Zusammenhang mit dem Protest der Gelbwesten. Das wird dann zum heiklen Balance-Akt der Staatsmanager.
Tommy: Zunehmend wird der Sozialstaat als Repression gegenüber denen eingesetzt, die von ihm leben. Da das Geld von „der Gesellschaft“ käme, stünden die Bezieher von Transfereinkommen in der Schuld „dieser Gesellschaft“. Wie das Geld von „der Gesellschaft“ entwendet wird, wird nicht angeführt. Die moralische Maßregelung setzt erst bei der Annahme von Transferbezügen ein. Ist diese moralische Maßregelung wirklich moralisch und ist diese Argumentation, dass Transferbezieher „der Gesellschaft“ etwas schulden, nicht ein Vorwand um Menschen im Namen „der Gesellschaft“ zur staatlichen Verfügungsmasse werden zu lassen? Sind Befürchtungen, dies könne zu Arbeitszwang, Sklaverei oder einem neuen feudalistischen Modell führen, angebracht? Gibt es eine Alternative zu dieser Entwicklung und welche wäre das?
Stefan: Wer vom Staat isst, kommt daran um, sagte der Anarchist Gustav Landauer. Ganz klar, mit der Abhängigkeit vom Sozialstaat ist die Abhängigkeit von der Sozialbürokratie und von denen, die sie steuern, untrennbar verbunden. Die Alternative besteht in der Wiederherstellung der gegenseitigen Hilfe.
Tommy: Sowohl unter Politikern als auch unter Bürgern existiert die fixe Idee, dass der Staat Druck auf jene machen müsse, die keine Arbeit haben, aber von Transferleistungen leben. Vor Sozialmissbrauch wird genauso gewarnt wie vor der sozialen Hängematte. Die Menschen bräuchten Druck durch staatliche Behörden. Aber sind es nicht die staatlichen Eingriffe, die über den Sozialstaat hinausgehen, und das Eintreten von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessengruppen, die überhaupt erst möglich machen, dass Menschen in die Situation der Bedürftigkeit versetzt werden, in der sie dann obendrein zynischerweise mit moralischen Vorhaltungen von eben genau diesen Gruppen traktiert und im weiteren Verlauf mit staatlichen Behörden unter Druck gesetzt werden?
Stefan: Man muss, wie gesagt, unterscheiden zwischen Menschen, die per se hilfebedürftig sind, etwa aufgrund von Krankheit oder Behinderung, und denen, die aufgrund der staatlichen Wirtschaftsinterventionen in die Armut getrieben wurden. Daneben besteht unabweisbar das Problem des Sozialmissbrauchs. Wer es clever anstellt, kann das System ausnutzen. Solche Fälle erzürnen dann besonders die Menschen, die ihrerseits wenig haben, dafür aber hart arbeiten müssen. Ihr Zorn ist verständlich. Leider macht er sich in Kontrollfantasien Luft, nicht in einer prinzipiellen Kritik am Sozialstaat.
Tommy: Was ist der Grund dafür, dass die ehemalige Partei der Armen und der Opfer staatlicher Gewalt, also die (früher klassisch) Liberalen, sich heutzutage der Konstruktion angeschlossen haben, dass der Staat Druck auf die Armen ausüben müsse? Zu früheren Zeiten wäre ihre Forderung gewesen, den Staat vom Buckel der armen (und aller anderen) Menschen zu nehmen. Was ist da passiert?
Stefan: Der klassische Liberalismus ist politisch tot. Er hat sich mit Zentralismus, Nationalismus, Militarismus, teils sogar Imperialismus eingelassen und lebt fort als Gespenst seiner selbst.
Tommy: In Österreich gibt es die Partei NEOS. Man kann nicht behaupten, dass es eine Partei sei, die direkt am klassischen Liberalismus anknüpft, aber an einigen Stellen versucht sie dies zumindest. Dort gibt es jedoch Politiker, die fordern, Geldleistungen durch Sachleistungen zu ersetzen. Ist die Forderung eines sich selbst als liberal rühmenden Politikers Geldleistungen durch Sachleistungen zu ersetzen, nicht ein Faustschlag in die liberale Magengrube? Wenn man Carl Menger – Wertungen sind subjektiv, Ludwig von Mises – Geld als ein neutrales Tauschmittel und Friedrich August von Hayek – Anmaßung von Wissen miteinander verschmelzt, müsste man dann nicht feststellen, dass Sachleistungen eine illiberale Idee in einem illiberalen System (Sozialstaat) sind? Denn wenn (und das sind sie) Wertungen subjektiv sind, dann wäre die Aushändigung von Sachleistungen nichts anderes als die endgültige Degradierung des Bedürftigen zum Kleinkind oder zum alten Greis, die in beiden Fällen mit dem gefüttert werden was der Staat ihnen zusammenrührt oder um das der Mensch zuerst den Staat bitten und dann um Genehmigung warten muss. Da Geld ein neutrales Tauschmittel ist, entscheiden die Menschen selbst, wie sie es ausgeben wollen. Das ist die darin innewohnende Neutralität die Bevormundung entgegen wirkt und einen Rest an Menschenwürde und Freiheit in sich birgt. Anmaßung von Wissen ist es, wenn der Staat über die Art der Sachleistungen entscheidet und darüber befindet, ob sie gewährt werden sollen oder nicht. Ist es unter Bezugnahme dieser Vorbehalte nicht ein Unding, dass gerade Politiker die vorgeben die Freiheit des Individuums verteidigen zu wollen, jenen geistigen Schritt in die Knechtschaft gehen? Ich stelle es mir sehr schwierig vor, Menschen davor zu bewahren, Verfügungsmasse des Staates zu werden, wenn ich Ideen propagiere, bei denen die Ärmsten noch stärker als bislang in genau diese Situation gedrängt werden.
Stefan: Sicherlich wohnt die Umstellung staatlicher Unterstützung von Geld- auf Sachleistungen die Tendenz zur Bevormundung inne. Dennoch ist die Antwort nicht so einfach. Bei mitmenschlicher Hilfe wird es meist ein Mix von Geld- und Sachleistungen sein, die jemand bekommt; das heute ist ja so, denn nach wie vor helfen sich Menschen gegenseitig. Suppenküchen etwa der Kirchen oder anderer karitativer Organisationen sind nichts Verwerfliches. Oder wenn man sieht, dass Eltern, denen man Geld gibt, damit sie etwas für ihre Kinder haben, dies Geld für sich ausgeben, besonders schlimm ist es, wenn sie es in Alkohol umsetzen – dann kann man sich sehr gut vorstellen, statt Geld zu geben, direkt etwas für die Kinder zu tun. Ich würde also nicht sagen, dass Sachleistungen als Hilfe generell abzulehnen seien oder Bevormundung darstellen; vielmehr sind problematisch die Überwachung und die Abhängigkeit von einem tendenziellen Monopolisten der Hilfeleistung.
Tommy: Muss eine Politik der individuellen Freiheit, wie sie sich von Liberalen gerne auf die Fahnen geschrieben wird, nicht in erster Linie auch eine Politik sein, die es durch gesellschaftliche Aufstiegschancen vermag, der gegenwärtigen Ausweglosigkeit niederer Lebensverhältnisse zu entkommen? Muss eine Politik der individuellen Freiheit nicht eine Politik für die Armen, für die aus der Gesellschaft ausgestoßenen, für die Abgehängten, für die Verlierer des gegenwärtigen Systems sein?
Stefan: Müsste. Aber die Liberalen stehen nicht mehr zur Verfügung und die Libertären haben die Chance leider weitgehend noch nicht wahrgenommen.
Tommy: Ich danke dir recht herzlich für deine Zeit!