Widerstand: Bedingung des Friedens

und zugleich: Eine kurze Einführung in libertäres Denken

von Stefan Blankertz

Mahnwache, Berlin, Pariser Platz, 22. 07. 2019

 

 

1

Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin. Eine naive, wirklichkeitsfremde Vorstellung? In seinem Buch »Staatsfeinde« beschreibt der französische Ethnologe Pierre Clastres das Schicksal der Häuptlinge Fousiwe vom Stamm der Yanomami und Geronimo vom Stamm der Apachen. Zwei Schicksale, die beleuchten, dass der scheinbar naive Slogan »stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin« einen ernsten und realistischen Hintergrund hat.

 

2

»Weil Fousiwe den Seinen einen Krieg aufzwingen wollte, den sie nicht wünschten, sah er sich von seinem Stamm im Stich gelassen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als diesen Krieg allein zu führen, und er starb von Pfeilen durchbohrt. Der Tod ist das Schicksal des Kriegers, denn die primitive Gesellschaft ist so beschaffen, dass sie nicht zulässt, den Wunsch nach Prestige durch den Willen zur Macht zu ersetzen. Oder mit anderen Worten, in der primitiven Gesellschaft ist der Anführer, als Möglichkeit des Willens zur Macht, von vornherein zum Tode verurteilt. Die losgelöste politische Macht ist unmöglich in der primitiven Gesellschaft, es gibt keinen Platz, keinen leeren Raum, den der Staat ausfüllen könnte.

Weniger tragisch in ihrem Ende, aber ähnlich in ihrer Entwicklung ist die Geschichte eines anderen Indianerführers, der ungleich berühmter war als jener ›obskure‹ Amazonas-Krieger, denn es handelt sich um den berüchtigten Apachen-Häuptling Geronimo.

Geronimo war nur ein junger Krieger wie die anderen, als die mexikanischen Soldaten das Lager seines Stammes angriffen und unter den Frauen und Kindern ein Blutbad anrichteten. Die Familie von Geronimo wurde völlig ausgerottet. Verschiedene Apachen-Stämme verbündeten sich, um sich an den Mördern zu rächen. Geronimo wurde damit beauftragt, den Kampf anzuführen. Es war ein voller Erfolg für die Apachen, die die Garnison der Mexikaner vernichteten.  Von diesem Augenblick an veränderten sich die Dinge. Denn während sich für die Apachen mit einem Sieg, der ihren Rachedurst vollkommen stillt, die Angelegenheit sozusagen erlegt hat, ist Geronimo auf diesem Ohr taub: er will sich weiter an den Mexikanern rächen. Natürlich kann er nicht allein die mexikanischen Dörfer angreifen. So versucht er, die Seinen dazu zu überreden, abermals loszuziehen. Vergebens.

Selbstverständlich wollten die Apachen Geronimo niemals folgen, ebenso wie die Yanomami es ablehnten, Fousiwe zu folgen. Allerhöchstens gelang es dem Apachen-Häuptling (manches Mal durch Lügen), einige junge Leute zu überreden, die auf Ruhm und Beute erpicht waren. Bei einer dieser Expeditionen bestand die heroische und lächerliche Armee von Geronimo aus zwei Mann!« (Zitiert nach Stefan Blankertz, Widerstand, S. 86f.)

 

3

Diese beiden Schicksale zeigen, dass es, um einen Krieg zu führen, mehr bedarf als Machtgeilheit, Rachedurst oder irgend ein anderes privates Interesse. Es braucht, um dauerhaft Krieg zu führen, den Staat. Es braucht die bewaffnete Staatsgewalt und die entwaffneten Untertanen. Es braucht, um dauerhaft Krieg zu führen, das staatliche Scheinrecht, den Untertanen die Ressourcen in Form von Steuern als Schutzgeld abzunehmen. Seit der Französischen Revolution ist es üblich geworden, dass Staaten Untertanen, meist junge Männer, zwangsweise zum Kriegsdienst verpflichten. Doch auch ohne Wehrpflicht ist es dem Staat aufgrund seiner Geldmittel möglich, Armeen aufzubauen und zu unterhalten. Ohne Steuern und ohne notfalls auf die Wehrpflicht zurückgreifen zu können, würden Staatsmänner ebenso wie Staatsfrauen, Generäle ebenso wie Generälinnen so dastehen wie die Häuptlinge Fousiwe und Geronimo. »General, dein Tank ist ein starker Wagen«, dichtete Bertold Brecht 1938, »er bricht einen Wald nieder und zermalmt hundert Menschen. Aber er hat einen Fehler: Er braucht einen Fahrer.«

 

4

Kriege werden heute nicht mehr mit dem Machtinteresse oder dem Streben nach Rache begründet (auf diese Änderung werde ich noch zurückkommen). Heute werden Kriege mit ökonomischen Interessen erklärt und mit dem Wunsch, eine gewisse internationale Ordnung durchzusetzen oder aufrechtzuerhalten. Wobei der Wunsch nach einer internationalen Ordnung als Kriegsgrund nicht ganz so neu ist. Das Römische Reich hat, um die pax romana durchzusetzen und aufrechtzuerhalten, rund 1000 Jahre ununterbrochen Krieg geführt, Völker massakriert, versklavt und unterworfen, auch in jenen Zeiten, von denen es in den Geschichtsbüchern heißt, es habe Frieden geherrscht wie etwa unter Kaiser Augustus. Auch heute sind Großmächte und ihre Verbündete praktisch ununterbrochen dabei, Kriege zu führen oder militärisch-geheimdienstliche Operationen. Kein Krieg beendet den Krieg, führt zum Frieden, sondern zum nächsten Krieg.

 

5

In linken wie rechten, rechten wie linken Friedensbewegungen werden als Triebfeder des Kriegsführens Trusts, Konzerne oder »das Großkapital« namhaft gemacht. So erklärt man, dass der Liberalismus in Form des dämonisierten »Neoliberalismus« der Hauptfeind sei, denn der Liberalismus würde Konzerne und Kapital aus der staatlichen Aufsicht entlassen, ihnen das unermessliche Wachstum und die Aneignung von Ressourcen erlauben, was wiederum zu erneuter Kriegslüsternheit führe.

 

6

Näher betrachtet, ist das eine eigenartige Konstellation: Während Staaten Kriege führen, behaupten diejenigen, die sich als Gegner des Krieges darstellen, der Staat müsse stärker werden und mehr durchgreifen, um Frieden zu schaffen und zu sichern. Das hören diejenigen, die von der Staatstätigkeit profitieren, gern. Ihnen ist es egal, dass sie aufs heftigste kritisiert und angefeindet werden, denn was sie wie Lebewesen die Luft zum Atmen brauchen, ist das ungehinderte Funktionieren des Staatsapparats.

 

7

Durchaus können hinter einem Krieg die Interessen von Konzernen oder anderen Kapitalgrößen stehen. Aber sie können ihre Interessen nur mit Hilfe des Staats realisieren. Darum nehmen sie in Kauf, als Buhmänner oder Prügelknaben dazustehen, wenn nur die Opposition den Staat von jeder, auch der leisesten Kritik ausnimmt. Es ist einfach, die Richtigkeit dieser Analyse zu erweisen. Denn große, international gut organisierte Konzerne würden sich nicht an den Staat wenden, wenn sie ihre Interessen selber durch- und umsetzen könnten. Aber ihre Interessen richten sich genau gegen die freiwillige Kooperation, gegen den Markt. Nur der, wem die freiwillige Kooperation nicht ausreicht, muss sich an den Staat wenden, um seine Interessen zu befördern.

 

8

Die Interessen, die sich an den Staat wenden, um von ihm statt mit freiwilliger Kooperation mit Gewalt durch- und umgesetzt zu werden, sind nicht homogen. Es gibt da vielfältige und es gibt da widersprüchliche Interessen. Zwar ist ihnen gemeinsam, dass sie den Staat stärken wollen, aber untereinander sind sie sich nicht grün. Hinter den Kulissen rangeln sie um Macht, in der Öffentlichkeit streben sie danach, ihr Interesse als das Interesse der Allgemeinheit, als das Allgemeinwohl schlechthin darzustellen. Insbesondere in demokratischen Systemen hängt die Durchsetzbarkeit eines Interesses entscheidend daran, ob es gelingt, das Partikularinteresse in das Allgemeininteresse zu übersetzen. Klar lässt sich erkennen, dass hinter dem raubgierigen und kriegslüsternen Staat keine tiefere und von homogenem Interesse bestimmte Verschwörung steht, wie die Rede vom »tiefen Staat« es nahelegt, sondern ein präzise anzugebender soziologischer Mechanismus. Die einzelnen Akteure sind nicht verschworen, sie ringen hart mit- und gegeneinander. Was sie zusammenhält, ist ein Mechanismus, der außerhalb des Bewusstseins wirkt. »Die Macht weiß, wie sie sich erhält«, sagte der französische Philosoph Michel Foucault, sie brauche dazu nicht das Bewusstsein und die bewusste Verschwörung der Akteure.

 

9

Indem die Interessengruppen Erfolg haben, ihr Partikularinteresse als Allgemeininteresse zu etablieren, werden die staatlichen Strukturen komplexer und ausladender. Jedes neu etablierte Allgemeininteresse kommt zu den bereits bestehenden Interessen hinzu. Der Staat wächst sowohl was seine Kompetenzaneignung betrifft als auch seinen Finanzbedarf. Der Bereich des freien und produktiven Handelns jedoch wird geschmälert, sodass eine Schere entsteht zwischen Hunger auf mehr staatliche Ressourcen und knapper werdender Basis, sie den Produktiven zu enteignen. Dies nennt sich Finanzierungs- oder Haushaltskrise.

 

10

Die Finanzierungs- oder Haushaltskrise hat eine entscheidende Wirkung auf die Interessengruppen, die sich an die Fleischtröge drängeln. Da die Zahl derer, die auf einen Anteil hoffen, stärker wächst als die Möglichkeit des Staats, den Produktiven Ressourcen zu enteignen, ist der Pro-Kopf-Gewinn rückläufig. Für den einzelnen Empfänger von staatlichen Wohltaten sieht es nun so aus, als ob der Staat nicht wachse, sondern schrumpfe.

 

11

Das Gefühl des schrumpfenden Staats setzt sich als Hass auf den Neoliberalismus um. Denn schließlich kritisieren die Neoliberalen den starken Staat und fordern seinen Abbau, fordern vor allem eine Senkung der Steuerlast. Die verringerte Profitrate aus der Ausbeutung durch den Staat führt man auf den Erfolg der Neoliberalen zurück, wenn sie auch in Wirklichkeit nirgendwo irgendeinen Einfluss ausüben. Dennoch stimmt das, was man sieht, mit der Anklage gegen den Neoliberalismus überein, sodass eine Korrektur dieses Gefühls nur über eine ökonomische und soziologische Analyse möglich wäre, die kaum jemanden interessiert, wenn er doch einen billigen Prügelknaben zur Hand hat, den Neoliberalismus.

 

12

Neben verringerter Profitrate aus Staatsausbeutung befeuert noch ein zweiter Mechanismus die Rede vom schrumpfenden Staat, in diesem Fall ist es die Rede vom bewegungs- und durchsetzungsunfähigen Staat. Der Neoliberalismus schwäche den Staat in der Weise, dass er nicht mehr in der Lage ist, das Allgemeininteresse effizient zu wahren. Ein aktuelles Beispiel ist die Diskussion um die Mieten in Berlin. In Wahrheit macht nicht der Neoliberalismus den Staat unbeweglich oder schwerfällig. Es verhält sich vielmehr so, dass die bereits als Allgemeininteresse etablierten und durchgesetzten Interessen ein starkes konservatives Fundament bilden. Sie wollen ihre angestammten Vorteile, die sie aus der Staatstätigkeit ziehen, ungern aufgeben. Jedes neu sich etablierende Interesse muss sich in das bestehende Gefüge einfügen. Mit zunehmenden Interessen, die sich als Teil des Staatsapparates sehen, wird der Vorgang der Aufnahme eines weiteren Interesses immer heikler. Wenn sich die alten Interessen gegen ein neues Interesse stemmen, klagen die Protagonisten des neuen Interesses darüber, der Neoliberalismus würde verhindern, dass der Staat das macht, was für alle das Beste sei. Die Klage über den Neoliberalismus ist zwar Teil des Machtkampfes, doch gestaltet sie sich so, dass eben weder die etablierten alten Interessen direkt noch der Staat als Prinzip ins Visier geraten. Auch dies ist keine »Verschwörung« mit dem »tiefen Staat«, sondern schlichter Selbstschutz des neuen Interesses, das sich etablieren will: Es darf sich nicht zu viele Feinde machen im Establishment, sonst kann es sich nicht durchsetzen. Und es wird den Teufel tun, den Staat im Prinzip zu kritisieren, denn es strebt ja an, seine Macht zu benutzen, um sich zu realisieren.

 

13

Das Totschlagargument gegen Kritik an der Staatsgewalt ist der Ausruf: »Und was wird mit den Armen und Kranken?« Es ist ein Ausruf und keine Frage, denn das Fragezeichen am Ende drückt aus, der Ausrufende wisse bereits, dass die Armen und Kranken ohne Staat elendiglich verrecken. Doch es gilt ein weltweiter überzeitlicher Zusammenhang ohne Ausnahmen: Je sicherer das Eigentum vor Enteignung in einer Wirtschaftsregion ist und je geringer staatliche Eingriffe in das freiwillige Interagieren ausfallen, um so weniger Arme gibt es. Was jene betrifft, die sich tatsächlich auch dann nicht selber helfen können, wenn die ökonomischen Bedingungen besser sind und sie nicht daran hindern, so muss man bedenken, dass im Anfang des Wohlfahrtsstaats nicht der Gedanke einer besseren Fürsorge für Arme stand, sondern die Zerschlagung der aufkeimenden privaten Institutionen gegenseitiger Hilfe und Wohltätigkeit. Dass es gelungen ist, dem Begriff der »Almosen« einen schlechten, bürokratisierter Hilfe aber einen guten Ruf zu verpassen, ist sicherlich ein entscheidender ideologischer Sieg der Staatsgewalt.

 

14

Vor allem aber finde ich es erstaunlich, dass es immer wieder gelingt, die Frage nach dem Wohlergehen der Armen und Kranken für die Rechtfertigung auch derjenigen Anteile der Staatsgewalt heranzuziehen, die gar nichts mit Fürsorge für Arme und Kranke zu tun haben wie etwa den Militärapparat.

 

15

Und so ende ich doch ein wenig optimistisch wie Bertold Brecht sein Gedicht »General, dein Tank ist ein starker Wagen«. »General, der Mensch ist sehr brauchbar. Er kann fliegen und er kann töten. Aber er hat einen Fehler: Er kann denken.« (Vertont von Hanns Eisler. 1988 erhielten Friedensdemonstranten, die die Gedichtzeilen auf einem Plakat verwandten, eine 18monatige Haftstrafe.)