Anmerkungen zum IQ

11 Thesen von Stefan Blankertz

 

1.

Der IQ (Intelligenzquotient) misst irgendetwas und die Werte dieses Irgendetwas lassen sich vergleichen.[1] (Im Folgenden spreche ich vom IQ, ohne auf die Frage einzugehen, ob er Intelligenz oder was sonst er messe.)

 

2.

Die Redeweise, der IQ sei vererbt (oder: erblich), verkürzt den Sachverhalt. Das Merkmal IQ ist in keiner Hinsicht so rein erblich bedingt wie die Haarfarbe. Es findet eine Gen-Umwelt-Interaktion statt. In Frage stehen

  1. die Höhe der Erblichkeit (Heritabilität) und
  2. was aus ihr folge.

 

3.

Wenn wir vereinfacht davon ausgehen, auf den IQ wirken die zwei Faktoren »Erbe« und »Umwelt«,[2] gilt die logische Beziehung:

  1. Bei völlig gleichen Umweltbedingungen gehen alle Unterschiede auf die Erbanlagen zurück.
  2. Bei völlig gleichen Erbanlagen gehen alle Unterschiede auf die Umwelt zurück.[3]

Daraus lässt sich ableiten, dass

  1. die sozialtechnokratische (heute oft »links« genannte) Vereinheitlichung der Umweltbedingungen die Bedeutung der Erbanlagen steigert (statt sie, wie versprochen, zu reduzieren) und
  2. die Heritabilität (Erblichkeit) ihrerseits von Umweltbedingungen mitbestimmt wird.[4]

 

4.

Dass die Vereinheitlichung der Umweltbedingungen zur Steigerung des Faktors »Heritabilität« führe, bemerken auch Richard Herrnstein und Charles Murray  in »The Bell Curve« 1994.[5] Interessanterweise hatte Charles Murray 1980 in »Losing Ground« gezeigt, dass und wie diese wohlfahrtsstaatliche (sozialtechnokratische) Vereinheitlichung die Entwicklung der Schwarzen in den USA behinderte. In »The Bell Curve« wusste er davon nichts mehr und behauptete nun, die Vereinheitlichung der Umweltbedingungen hätte die IQ-Werte der Schwarzen mehr steigern müssen, als es tatsächlich gemessen worden sei.[6] Damit erlag er der Rhetorik der Sozialtechnokraten.

 

5.

Sofern die Heritabilität keine 100% beträgt, sagt sie bezogen auf Gruppen nicht, dass ein Merkmal unveränderlich sei, sondern bestimmt, wie schnell (oder langsam) die Veränderung stattfinden kann: Je höher die Heritabilität, um so niedriger ist die mögliche Veränderungsgeschwindigkeit aufgrund von Umweltbedingungen.[7]

 

6.

Vertreter der These einer relativ hohen Heritabilität beim IQ gehen von einem Wert um die 50% aus.[8] Bei Studien an eineiigen, getrennt aufgewachsenen Zwillingen ergibt sich meist eine Korrelation von ca. r = 0,75. Um aus einer Korrelation einen Determinationskoeffizienten zu machen, muss r quadriert werden; R2 betrüge dann 0,56. In Prozent ausgedrückt: Die Heritabilität liegt bei 56%. Zu den Zwillingstudien muss allerdings angemerkt werden, dass sie meist nicht unterscheiden zwischen einem getrennten Aufwachen in ähnlichen und in unähnlichen Umwelten. Da auch getrennt aufwachsende Zwillinge eher in ähnlichen als in unähnlichen Umwelten aufwachsen, ist diese Unterscheidung auch nicht so einfach (bis hin zur Frage, was als »unähnliche« resp. »ähnliche« Umwelt zu werten sei). Bei Untersuchungen von in unähnlichen Umwelten aufgewachsenen Zwillingen sinkt die Korrelation.[9]

 

7.

Die Aussage von R2 lautet, wie viel der Varianz durch den Faktor erklärt wird; bei R2 = 0,56 für die Heritabilität wäre die Aussage: 56% der Unterschiede zwischen zwei Individuen oder zwei Gruppen sind durchschnittlich auf die jeweiligen Erbanlagen zurückzuführen, 44% auf andere Einflüsse; insoweit bloß Umwelteinfluss als möglicher weiterer Faktor betrachtet wird, gingen dann 44% auf das Konto des Faktors »Umwelt«.

 

8.

Gehen wir (nur zum Zwecke des Gedankenspiels) vereinfacht von einer Heritabilität von 50% aus. Hat das Individuum (oder die Gruppe) A einen IQ von 100 und B einen IQ von 110, so bedeutet dies, dass 5 IQ-Punkte dem Faktor »Erbe« und 5 IQ-Punkte dem Faktor »Umwelt« geschuldet seien.[10] A könnte unter guten Bedingungen auf einen IQ von 105 kommen, B unter schlechten Bedingungen auf 105 absinken. Dies heißt aber auch: Wenn ein Individuum oder eine Gruppe Y 105 sowie ein Individuum oder eine Gruppe Z ebenfalls 105 IQ-Punkte aufweist, könnte dies bei scheinbarer Gleichheit dennoch heißen, dass Y sich am oberen Limit seines Genotyps, Z dagegen sich am unteren Limit seines Genotyps bewegt. Und überhaupt weiß niemand, welches untere oder obere Limit A, B, Y und Z genotypisch haben.[11]

 

9.

Eine Untersuchung bezogen auf die Entwicklung von aus der Dritten Welt adoptierten Kindern kommt zu dem Ergebnis, der durchschnittliche Gewinn liege bei 4 IQ-Punkten; die Bewertungen des Ergebnisses gehen reichen »nur« bis »Wunder«.[12] Lassen wir beiseite, dass die Untersuchung eine Reihe von durchaus problematischen Annahmen über den durchschnittlichen IQ in einigen Ländern[13] macht sowie über die Möglichkeit, den IQ von Neugeborenen abzuschätzen. 4 IQ-Punkte scheint wenig?[14] Bei der Frage der Veränderung von Gruppen (Schichten, Kulturen, Ethnien/Rassen) würde ein Zugewinn von durchschnittlich 4 IQ-Punkten pro Generation innerhalb von wenigen Generationen einen gewaltigen Unterschied bewirken.[15] Unabhängig davon ist Adoption allein schon eine problematische Umweltbedingung für viele Kinder;[16] eine Adoption außerhalb des Geburtslandes und dessen Kultur wirkt sich vermutlich bei einigen Kindern noch problematischer aus – ein Effekt, der über die Generationen hinweg sich jedoch abschwächen wird.[17]

 

10.

Erinnern wir uns zudem an die unausweichliche Schlussfolgerung, dass eine Vereinheitlichung von Lebensumständen zu einer Steigerung des Faktors Erbe führt und dass nicht jeder Genotyp in jeder Umwelt prosperiert:[18] Vermutlich sind die Bedingungen in der Ersten Welt für einige (nicht nur aus dem Ausland stammenden!) Genotypen besonders nachteilig. Eine höhere Variationsbreite in der Umwelt (vor allem in Richtung auf ein selbstbestimmtes und selbstorganisiertes Leben) würde noch deutlich bessere und noch deutlich schnellere positive Wirkungen haben.

 

11.

Die IQ-Debatte ist einer der Links/Rechts-Aufreger. Die Linken meinen, die Umwelt-These rechtfertige ihre Agenda der staatlichen Zwangsmaßnahmen zur Herstellung von Gleichheit, vornehmlich mittels Schule, rechtfertigen zu können. Die Rechten meinen, die Gen-These rechtfertige ihre Agenda der staatlichen Zwangsmaßnahmen gegen Migration[19] (bzw. für die Fortdauer von institutionellen Barrieren für Unterprivilegierte).[20] Beides trifft nicht zu. Jenseits von Rechts und Links heißt: Zwang ist das Problem, Freiwilligkeit die Lösung.

 

[1] Allerdings sollten die Vergleiche statistisch korrekt sein. Nassim Nicholas Taleb zeigt in: IQ is Largely a Pseudoscientific Swindle (2019) mit leider die sachlichen Argumente durch Polemik ertränkende Weise einige der Problematiken auf.

[2] Diese Annahme simplifiziert, da beim Menschen auf jeden Fall noch ein dritter Faktor hinzukommt, und das sind seine Entscheidungen.

[3] Das Modell wird ausgeführt in: Stefan Blankertz, Pädagogik mit beschränkter Haftung: Kritische Schultheorie, Berlin 2015: edition g. 105, S. 152ff.

[4] »The instability of test scores across generations should caution against taking the current ethnic differences as etched in stone.« Richard Herrnstein und Charles Murray, The Bell Curve (1994), New York 1996, S. 309.

[5] »As environments become more uniform, heritability rises.« The Bell Curve, S. 106.

[6] Vgl. The Bell Curve, S. 289-315, S. 661-666.

[7] Eine Modellrechnung zur Veränderungsgeschwindigkeit bei einer Heritabilität von 60% vgl. Blankertz, Pädagogik, a.a.O., S. 166. Vgl. auch Stefan Blankertz, Migration, Integration und Wohlfahrtsstaat, Berlin 2019: edition g. 114 (erscheint demnächst), S. 27ff.

[8] The Bell Curve, S. 105: »For purpose of this discussion, we will adopt a middling estimate.« Edward O. Wilson, Die Einheit des Wissens, Berlin 1998, S. 190: »Punktwerte für Heritabilität« des IQ »liegen meistens um die 50%-Marke.«

[9] Vgl. Helmut Skowronek (Hg.), Umwelt und Begabung, Stuttgart 1973 (auch Berlin 1982), S. 229.

[10] Das ist wohlgemerkt eine Aussage über den statistischen Durchschnitt, nicht über eine konkrete, lebendige Person in ihrer Einzigartigkeit.

[11] Um das Limit eines Genotyps auch nur zu umreißen, müsste er in mehr als zwei Umwelten »getestet« werden. Das Limit einer Bevölkerungsgruppe oder gar einer ganzen Ethnie umreißen zu wollen, wäre abenteuerlich, schon allein deswegen, weil weder Bevölkerungsgruppe noch Ethnie homogene Genotypen aufweisen. Man braucht dazu nicht einmal auf das Lewontin-Theorem, dass die genetische Varianz innerhalb einer Ethnie größer sei als die genetische Varianz zwischen den Ethnien, zurückzugreifen.

[12] Vgl. dazu z.B.: Bryan Caplan, The Wonder of International Adoption: Adult IQ in Sweden (2017). Bryan Caplan stützt sich auf die Studie von Kenneth S. Kendler, Eric Turkheimer, Henrik Ohlsson, Jan Sundquist und Kristina Sundquist, Family Environment and the Malleability of Cognitive Ability: A Swedish National Home-reared and Adopted-away Cosibling Control Study (2015). Kritische Anmerkungen zu Adoptionsstudien (aber nicht der schwedischen, da von 2013): Meng Hu, Transracially Adopted Intermediate IQ: Hereditarian Nonsense.

[13] Vgl. dazu Blankertz, Migration, a.a.O., S. 20ff.

[14] Growing up in Sweden raises the »adult IQs by .4 SDs – 40% of the huge IQ gap between Sweden and adoptees’ countries of origin.  And since even the earliest adoptees are likely below-average for their home country, the true gain is probably larger still.  International adoption doesn’t make international IQ gaps vanish, but it plausibly cuts them in half.  And remember – unlike classic childhood interventions like Head Start, the gains last into adulthood instead of fading away«. Bryan Caplan, a.a.O.

[15] Obwohl die Annahme eines linearen Anstiegs der IQ-Werte über die Generationen vermutlich unrealistisch ist, ist die Annahme, der Zugewinn an IQ sei einmalig, weil das Limit des Genotyps bereits ausgeschöpft ist, noch deutlich weniger plausibel. Vgl. These 8.

[16] Eine Studie, die auf die schulischen Probleme von Adoptivkindern eingeht: Nicholas Zill und W. Bradford Wilcox, The Adoptive Difference: New Evidence on How Adopted Children Perform in School (2018).

[17] Darum könnte der Anstieg der IQ-Punkte für aus der Dritten Welt  adoptierte Kinder und für Migranten in der nächsten Generation sogar stärker als der lineare Wert sein, sofern sie nicht durch wohlfahrtsstaatliche und wirtschafts-intenventionistische Maßnahmen von der Teilnahme am Arbeitsmarkt ausgeschlossen werden.

[18] Das, was ich das Goodman-Theorem nenne. Vgl. Blankertz, Pädagogik, a.a.O., S. 173ff.

[19] Zur Kritik an der angeblich festgefügten Korrelation von (ethnisch-erbbedingtem) IQ und Wohlstand, weltweit, vgl. Blankertz, Migration, a.a.O., S. 19ff.

[20] Vgl. Stefan Blankertz, Die neue APO, Berlin 2016: edition g. 123, S. 73ff.