Stefan Blankertz
Thomas von Aquin: Die Nahrung der Seele
(edititon g. 106)
304 S., [D] € 21,80
ISBN: 978-3-7386-4842-3
Gehorsamkeit gegenüber Gott bedeutet, der eigenen Vernunft zu folgen (selbst wenn diese sich irren sollte): Thomas von Aquins Botschaft, dass Gott nicht herrsche, weder über den Einzelnen noch über die Gesellschaft, ist die Grundlegung einer anarchistischen Ethik.
Dieses Buch stellt zentrale Textstellen des Aquinaten zur politischen Ethik vor (deutsch/lateinisch) und kommentiert sie nicht unter historischem, sondern aktuell sozialphilosophischem Interesse.
Nr. 093: Zwischen »Gut und Böse« können nicht starre Richtlinien oder Gesetze unterscheiden. Die Unterscheidung setzt eine Auseinandersetzung mit den Motiven und Gründen jeder einzelnen Handlung voraus. Die Weisheit, nicht das Gesetz unterscheidet zwischen »Gut« und »Böse«. Ein Richter, der irgendjemanden aufgrund eines ungerechten Gesetzes verurteilt, ist in Thomas’ Augen selber ein Verbrecher.
Gott, der höchste Richter, kann jedem Menschen verzeihen, weil er das Gute noch in der bösesten Handlung zu erkennen in der Lage ist. Er steht für das höchste Gut, die Glückseligkeit, in der kein anderes Gut zerstört oder auch nur verletzt werden könnte.
Der menschliche Richter dagegen nimmt sich der Streitfälle zwischen Menschen an, die sich gegenseitig beschuldigen, das Gut des jeweils anderen beschädigt zu haben. Seine Aufgabe besteht darin, die Güter vernünftig zu analysieren und eine Lösung zu finden, in welcher die Güter eine geringst mögliche Beschädigung erleiden. Eine solche Lösung hat die Zustimmung der Vernunft. Wenn eine der Konfliktparteien sich der Vernunft verweigert, stimmt sie jedem beliebigen Urteil zu, denn einen Einwand gegen ein Urteil kann nur die Vernunft formulieren.
Nr. 095: Die Philosophie des Thomas ist in der Lage, jenseits der vorgegebenen Ideen von Gut und Böse sie aus der Vernunft zu erschließen, sie gleichsam »diesseits« wiederzugewinnen. Das Motto vernünftiger Ethik sei: Handle angemessen und verantwortlich!
Nr. 102: In der Frage, ob man Gott in allem gehorchen müsse, zeigt er, dass Gottes Befehle sich stets innerhalb der Ordnung der Gerechtigkeit bewegen und schließt erst daraus die Erlaubnis zum Gehorsam: »Daraus folgt, dass diejenigen, die Gott gehorchen, weder durch ihren Gehorsam noch durch ihr Gehorchen-Wollen gesündigt haben.« Selbstredend ist die Trennung von Gott und Gerechtigkeit für Thomas nur eine analytische Hypothese, die keine reale Möglichkeit darstellt. Denn Gott und der Begriff der Gerechtigkeit fallen dem Wesen nach zusammen. Gleichwohl wäre der Gehorsam gegen Gott nicht unabhängig von Seiner Gerechtigkeit zu denken.
Die weltlichen Machthaber sind allerdings nicht von ihrem Wesen aus an die Gerechtigkeit gebunden. Thomas sagt sogar, dass sie »sehr oft« (plerumque) die Gerechtigkeit vermissen ließen. Aus der Bemerkung zum Gehorsam Gott gegenüber ist jedoch zu schließen, dass einem ungerechten Befehle zu folgen, sogar als Sünde klassifiziert wird. Deshalb ist zwingend abzuleiten, dass jeder Untergebene bei allen einzelnen Befehlen beurteilen müsse, ob sie gegen die Gerechtigkeit verstoßen, und dass er dem Befehl gegebenenfalls sich widersetzen solle, um nicht zu sündigen.
Nr. 139: Während für die bürgerlichen Staatsideologen der Neuzeit der »Sozialvertrag« ein Konstrukt zur Legitimierung einer Verfassung war, die nie wirklich zur Disposition stand, ging Thomas von einem tatsächlichen, gleichsam privatrechtlichen Vertragsverhältnis aus: Die Erhebung von Steuern (tributum bzw. vectigal) sei nur dann kein Raub – und diese Formulierung wird wie diejenige zum »gerechten Krieg« oberflächlich betrachtet sowie auf dem Hintergrund einer selbstverständlichen Überzeugung von der Rechtmäßigkeit des Staates unbefragt wie eine Standardlegitimierung behandelt –, wenn die Vertreter der öffentlichen Gewalt die Mittel im Sinne der Bestrafung von Verbrechern oder des Kampfes gegen Feinde einsetzen und nicht gegen die Gerechtigkeit verstoßen. Das schränkt die Rechtmäßigkeit des Staates wohlgemerkt auf das Ultraminimal- oder Nachtwächterniveau ein. Doch lesen wir noch genauer. Sie seien ansonsten – hört, hört – zur »Rückerstattung« (restitutio) verpflichtet. Die »Rückerstattung« verweist allerdings nicht auf ein imaginäres Recht, sondern auf ein konkretes privatrechtliches Vertragsverhältnis, denn bei mangelhafter Leistung sind sie wie Betrüger zur Rechenschaft zu ziehen, »wenn durch ihr Versagen die Diebe überhand nehmen«. Die thomasische Konstruktion ähnelt mehr einer anarchokapitalistischen privaten Sicherheitsfirma als den modernen Staaten.
Nr. 155: Die Haltung des Thomas zur Frage des Widerstands gegen die Obrigkeit ist immer wieder Gegenstand unerbittlicher Diskussionen geworden. Meines Erachtens gibt es in Anbetracht seiner Texte bloß die eine Schlussfolgerung: Thomas ist Anarchist.