Stefan Blankertz
Ein Traglasttest der libertären Friedensformel
I. Lebenslang für eine Neunjährige?
In einer Facebook-Debatte befürwortet eine Frau, dass ein Mädchen, neun Jahre alt und schwanger nach mehrfacher Vergewaltigung, zum Austragen des Kindes gezwungen werde. Bei einer Abtreibung sieht sie lebenslänglich als angemessene Strafe vor. In Anbetracht der Minderjährigkeit der möglichen Delinquentin und der unrecht zustande gekommenen Schwangerschaft räumt sie »mildernde Umstände« ein. Ich weiß schon, warum ich kein Demokrat bin: Solche Leute sollen nicht ein Jota Einfluss auf meine Angelegenheiten haben. Aber sicherlich, als ich später mit etwas Distanz auf die Debatte schaute, musste ich zugeben, dass sie vermutlich genau das gleiche über mich denkt. Unvereinbare Wertvorstellungen. Wie mit ihnen umgehen? Ist ein friedliches Zusammenleben trotz unvereinbarer Wertvorstellungen möglich? Bleibt nur der Bürgerkrieg, bzw. dessen strukturelle Form: demokratische Abstimmung?
II. Kleinräumiger denken!
André F. Lichtschlag, Herausgeber von »eigentümlich frei«, sagte 2014 auf einer Podiumsdiskussion in der Berliner Bibliothek des Konservatismus,[1] an der auch ich teilnahm, als das Thema Abtreibung aufkam: Obgleich er selber Abtreibung als Mord ansehe, plädiere er dafür, das Problem »kleinräumiger« anzugehen. Sein Hinweis ist bemerkenswert, denn er zeigte sich bereit, trotz seines moralischen Urteils ein von ihm abweichendes Verhalten in »kleinräumiger« Nachbarschaft zu tolerieren. Das hätte er nicht zu betonen brauchen, denn das Publikum war vermutlich fast einhellig auf seiner Seite. Das Wörtchen »kleinräumig« ist es wert, genauer betrachtet zu werden. Es enthält die Lösung. In ihm verbirgt sich die ganze libertäre Friedensformel.
III. Global vielfältig
Schauen wir die Welt an, wie sie heute ist.[2] In 57 Ländern fast ausschließlich der nördlichen Hemisphäre ist Abtreibung meist (innerhalb einer Frist) erlaubt, in 68 Ländern besteht ein nahezu vollständiges Verbot, 70 Länder haben verschiedene Indikationslösungen. Die eingangs erwähnte Debatte entzündete sich an dem Fall eines Mädchens in Peru. Soweit ich sehe, verfügte keiner der Beteiligten über spezielle Kenntnisse hinsichtlich Perus, geschweige denn über den konkreten Fall, und niemand auch nur über den Hauch eines Einflusses auf ihn oder die Politik von Peru in dieser oder irgendeiner anderen Hinsicht. Aber so sind unsere Debatten im Zeitalter von Social Media nun einmal angelegt: Sie nehmen den demokratischen Weltstaat, den es glücklicherweise nicht gibt, als schon gegeben vorweg: Jeder habe den Anspruch, überall mitzumischen und womöglich mitzuentscheiden. Und »natürlich«[3] muss überall das gleiche Recht herrschen.
IV. Interventionsrecht?
Also, noch gibt es sie aber, die separaten Staaten. Wie gesagt, in einigen ist Abtreibung legal, in anderen nicht. Würde es ein Recht sein, dass ein Staat gegen den anderen Krieg führt, um ihn zu zwingen, das eigene Recht – zum Beispiel bezogen auf Abtreibung – anzunehmen? Gesetzt, in den USA reißen fundamentalistische Evangelikale die Macht vollends an sich, verbieten unter anderem die Abtreibung und daraufhin werden die in der BRD stationierten Truppen instruiert, dieses neue Recht auch hier zu überwachen. Ich gehe davon aus, selbst deutsche Abtreibungsgegner würden dies inakzeptabel finden. Oder andersherum: Wäre es das Recht der BRD, Peru mit der Bundeswehr zu okkupieren, um es hierdurch dem besagten Mädchen zu ermöglichen, eine Abtreibung vornehmen zu lassen? Ich jedenfalls würde solch einen Gedanken empört zurückweisen.
V. Mit Sezession in die neue Kleinstaaterei
Stellen wir uns nun vor, die Provinz Walldavia aus Ruritanien[4] strebe die Sezession an und erlange sie schließlich. Bei der rechtlichen Neuordnung Walldavias wird auch im Fall der Abtreibung von Stund’ an andersherum geurteilt als zuvor in Ruritanien. Sollte Ruritanien im Gegezug das Recht haben zu sagen?: »Schön und gut, seid in Gottes Namen selbständig und entscheidet alle Angelegenheiten nach eurem Gusto, aber wenn ihr die Abtreibung anpackt, dann machen wir euch platt.« Sicher nicht. Der Sinn der Autonomie ist auch und gerade die Autonomie in allen Rechtsfragen. Voraussetzung für den Frieden ist, wie Kant im berühmten sogenannten fünften »Präliminarartikel« der Schrift »Zum Ewigen Frieden«[5] festhält: »Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines andern Staats gewalttätig einmischen.«[6]
VI. Durch permanente Sezession zur Hyperkleinstaaterei
Nun könnte es passieren, dass ein Ort Walldaviens sich von diesem neu gebildeten Staat abspalten will.[7] Schnell finden sich auch andere Regionen von Ruritanien, die angeregt durch das Vorbild des Erfolgs von Walldavien nun ebenfalls zur Sezession schreiten. Und so ginge es fort und fort, bis die territoriale Einheit von Ländern ganz aufgebrochen ist und sich in hyperkleinstaatliche Assoziationen verwandelt haben. Das heißt, die Mitglieder dieser hyperkleinstaatlichen Assoziationen[8] leben nicht mehr durchweg territorial getrennt, sondern durchmischt. Nachbarn gehören verschiedenen »Staaten« an, in denen unterschiedliche Gesetze gelten, so wie man heute Tür an Tür wohnen und »trotzdem« unterschiedlichen Religionsgemeinschaften angehören kann.[9] Die Unterschiedlichkeit der Rechtsvorstellungen bezieht sich auch, aber sicher nicht nur und nicht zentral[10] auf die Frage der Abtreibung. Diese Perspektive wäre in Anlehnung an den Baseler Juristen David Dürr als »polyzentristisches Recht« zu kennzeichnen.[11]
VII. Für die unvollkommene Weltordnung statt »Ewiger Krieg für Ewigen Frieden«
Gegner, die Abtreibung mit Mord gleichsetzen, erwidern an dieser Stelle der Argumentation oft[12] empört, ob es denn sein dürfe, dass eine solche autonome Region oder solch ein neokleinstaatliches Gebilde etwa zu Beispiel auch die Strafverfolgung aller anderen Formen von Mord aufzuheben. Die entspannte Antwort lautet: Ja, sofern jeder, der damit nicht einverstanden ist, sich separieren darf.[13] Entspannt darum, weil meines Wissens noch nirgends jemand (und schon gar keine Bewegung) die generelle Aufhebung des Strafbestandes »Mord« (bzw. der unerlaubten Tötung) gefordert hat. Allerdings gab es noch bis weit in das vorherige Jahrhundert hinein Regionen in Südeuropa, in denen beispielsweise die faustrechtliche Tötung eines Buhlers durch den Ehemann oder dessen, der die Tochter »entehrt« habe, durch den Vater,[14] oder des schnöden Verräters der Familie durch die lokalen Gerichte mit Sympathie betrachtet und mit Milde beurteilt wurde. Barbarisch, sicherlich, von mir aus gesehen jedenfalls; aber niemand setzte eine Armee aus dem Norden in Marsch, um dort wie andernorts Recht und Ordnung durchzusetzen. Und dies ist auch gut so. Denn die allseits gute und gerechte Gesellschaft mittels staatlicher Gewalt herzustellen, ist die Blutspur des Staats durch die Geschichte, die aufhören sollte. Implizit ist das auch die Botschaft hinter Kants fünfter Vorbedingung für den Ewigen Frieden.[15]
[1] http://www.youtube.com/watch?v=pqRZTJQjS40.
[2] Stand 2017. http://www.svss-uspda.ch/de/facts/world-list.htm.
[3] Natürlich nicht.
[4] Bekannt aus Murray Rothbards »Für eine neue Freiheit« (1973).
[5] 1795. 1796.
[6] Gedanklich schwierig, praktisch aber vielleicht einfacher als gedacht ist es, den Punkt festzulegen, an dem eine eventuell leider in Gewalttätigkeit umschlagende Sezession »noch innere Angelegenheit des Staats« (»Bürgerkrieg«) ist, aus dem andere Staaten sich herauszuhalten haben, oder »schon Krieg zwischen zwei Staaten«; dann dürften andere Staaten einem bedrohten Staat zu Hilfe eilen. Klar sollte sein, dass eine solche Hilfe von außen ausschließlich darin bestehen dürfte, einem in Bedrängnis geratenen separationswilligen Landesteil beizuspringen. Einem Staat zu helfen, seine Hegemonie im beanspruchten Herrschaftsgebiet aufrecht zu erhalten, wäre immer eine Einmischung in eine »innere Angelegenheit« – wäre es keine, gäbe der betroffene Staat zu, über gewisse Landesteile bereits keine Herrschaft mehr auszuüben, und könnte rechtmäßig keine Hilfe beanspruchen, dieses ihm entfremdete Gebiet zu okkupieren.
[7] Gedanklich einfach, machtpolitisch allerdings leider schwierig gestaltet es sich, die diejenigen, die als Nationalisten eine Sezession betrieben haben, davon zu überzeugen, dann, nach der Formation ihres neuen Staats, weitere Abspaltungen zuzulassen und nicht militärisch gegen sie vorzugehen.
[8] Meinethalben auch »Privatrechtsgesellschaften« (PRG). Was für ein poesieloses Wort! Der legendäre K.H.Z Solnemen nannte es, ebenso uninspiriert, »Autonome Rechts- und Sozialgemeinschaften« (ARSGs): »Jedem den Staat seiner Träume!«, das war immerhin ein witziger Slogan. Hyperkleinstaatliche Assoziationen könnten Abkürzungsfreaks als HKAs bezeichnen.
[9] Wer hier einwendet, Religion wäre nun ja kein so wichtiges Thema, als dass Menschen verschiedener Religionen nicht nebeneinander und miteinander und durcheinander wohnen könnten, sei an die Religionskriege erinnert, die in Europa stattfanden und die heute andere Teile der Welt im Griff haben. Ludwig von Mises sagt in »Liberalismus« (1927), der Staat und die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Staat müsse eben »eine möglichst geringe Bedeutung« besitzen (S. 99), dass diese Frage nicht zu gewaltsamer Auseinandersetzung führe. Ludwig von Mises war kein Anarchist?
[10] Es gibt, soweit ich sehe, derzeit einen Staat, in welchem kein einheitliches Recht bezogen auf Abtreibung herrscht, nämlich Australien mit Fristen- und zwei unterschiedlichen Indikationslösungen. Und tatsächlich wurde nach meinem Wisse bei allen absurden Gründen, die es je geben hat, noch nie ein Krieg um Gewähr oder Verbot der Abtreibung geführt. Ich hoffe, das bleibt so.
[11] Neben David Dürr zieht die Idee des »polyzentristischen Rechts« Inspirationen vor allem aus David Friedman, Murray Rothbard (die beiden doch sehr heterogenen Ansätze zum anarchokapitalistischen Recht zusammenzudenken, ist eine Herausforderung eigener Art) sowie aus dem Ethnologen Hermann Amborn.
[12] Nicht so André F. Lichtschlag, s.o.
[13] An dieser Stelle kommen wir dann vermutlich doch wieder in die inhaltliche Schleife: »Ja, aber Embryos können sich doch nicht separieren …« Genau. Das ist der Punkt. Sie sind radikal an den Ort der Mutter gebunden, anders als die übrigen hilfebedürftigen Menschen. Und da sie bis zu einem gewissen Zeitpunkt von der Mutter nicht getrennt werden können, ohne sie sie töten, befindet sie auch über ihr Schicksal, wenn andere sich diese natürliche Befugnis nicht anmaßen und somit nicht nur die potenzielle Mutter, sondern zugleich mit ihr auch ihren Embryo der Fremdbestimmung unterwerfen. Die Formulierung, dass sich jeder separieren dürfte, impliziert nicht, dass sich jeder faktisch separieren könnte. Es ist eine der bemerkenswerten Aufweichungen des Rechtsbegriffs, die vor allem wohl auf staatssozialistische Gedanken zurückzuführen ist, dass, wenn irgendjemand ein Recht faktisch nicht ausüben könne, dies auch für andere nicht gelten dürfe.
[14] Bei denen, die das Abendland aufgrund der »Ehrenmorde« unter Muslimen gegen die Islamisierung verteidigt sehen wollen, ist nicht problematisch, dass sie diese Form barbarischer Gewalt ablehnen, sondern ihre sträfliche Unkenntnis des Abendlands und seiner Geschichte. Aber das steht auf einem anderen Blatt.
[15] Die kritische Formel »Ewiger Krieg für Ewigen Frieden« (Permanent War for Permanent Peace) geht auf Harry Elmer Barnes (1953) zurück.