Aus den Akten Pinker vs. Anarchie 2: Widerstand

von Stefan Blankertz

»Für das größte Blutbad aller Zeiten war vorwiegend ein einziger Mann verantwortlich [nämlich Adolf Hitler]. […] Aber Hitler war nicht der einzige Tyrann, dessen Besessenheit Zigmillionen Menschen das Leben kostete [Hinweis auf Stalin und Mao].«[1]

Diese Behauptung steht im Kontext von Pinkers These, Zeitpunkt und Größenordnung von Kriegen seien weitgehend zufällig.[2] Das Blutbad des 20. Jahrhunderts »könnte […] demnach eine Art Laune des Schicksals gewesen sein«.[3] Die Kennzeichnung eines Ereignisses als »zufällig« oder »Laune des Schicksals« macht dessen Analyse unmöglich. Wer ein zufälliges Ereignis auf einen Verursachungszusammenhang zurückführt, unterliegt dem magischen Weltbild. Ein Ereignis andererseits voreilig als unerklärlich und zufällig zu stigmatisieren, bedeutet, die Analyse seiner Entstehung und damit der Möglichkeit einer Prävention einen Riegel vorzuschieben, wenn es sich um ein unerfreuliches Ereignis handelt. Im Fall von Stalin, Hitler und Mao ist leicht zu durchschauen, warum Pinker die mit ihren jeweiligen Namen verbundenen Grausamkeiten, Massenmorde und Kriege gern dem Zufall vereinzelter kranker Psychen zuschreiben will: Sie dürfen nicht aus dem Prinzip oder der Struktur des Staats folgen, will man an der grundsätzlich befriedenden Wirkung des Leviathans festhalten. Krieg und Massenmord dürfen also keine Gründung in ökonomischen Interessen von staatlichen Eliten haben, sie dürfen nicht der Logik von Kollektivschuld und »Prügelknaben« haben. Pinker geht davon aus, dass eine durch alle Bürger uneingeschränkt als gültig anerkannte Staatlichkeit die Entwicklung hin zu weniger Gewalt antreibe. Die Gewaltorgien der Staatlichkeit im 20. Jahrhundert auf ihre Gründe hin zu analysieren, würde ihn damit konfrontieren, dass es Mechanismen im Leviathan gibt, die zu einem »Rückfall in die Barbarei«[4] führen. Dennoch sind die zitierten wenigen Worte von Pinker ein Eigentor, sogar dann, wenn man ihre Aussage an sich nicht in Zweifel zieht:[5]

  1. Gleichzeitig mit der These von der »Zufälligkeit« der Kriege ist die Hauptthese von Pinker die Abnahme von Krieg und Gewalt und zwar fast linear von der Steinzeit bis heute. Diese Entwicklung schreibt er Gründen zu, die uns auch noch beschäftigen werden;[6] aber an dieser Stelle sind die Gründe noch unerheblich, denn es reicht, dass er überhaupt Gründe anführt. Sie durchkreuzen den Zufall: Es kann eben kein Zufall sein, dass Kriege ausbrechen und welche Opfer sie kosten, wenn es Gründe gibt, warum die Häufigkeit und die Blutigkeit von Kriegen über einen Zeitraum von mehreren tausend Jahren kontinuierlich abnimmt.
  2. Es stellt sich immerhin die Frage, wie es möglich ist, dass kranke, blutrünstige Psychen, etwa die von Stalin, Hitler und Mao – bei Pinkers Vorliebe für das Hin- und Herspringen über die Jahrhunderte seien der Liste noch Attila, Cäsar, Dschingis Khan, Atatürk und Pol Pot hinzugefügt –, die Führung des doch an sich befriedend wirkenden Staats übernehmen und gegen den Willen der Bevölkerung ihre grausame Herrschaft aufrecht erhalten sowie Nachbarländer mit ins Unglück reißen. Innerhalb des Staatsprinzips muss es eine Gefährdung, eine Anfälligkeit für den »Rückfall in die Barbarei« geben, um bei diesem problematischen Begriff zu bleiben.
  3. Einen dem Staat inhärenten Mechanismus nennt Pinker sogar selber. Er stützt sich bei folgender Analyse auf Quincy Wright und Jack Levy: »An rund 70 Prozent aller Kriege […] waren die Großmächte beteiligt. […] Staaten, die zur Liga der Großmächte hinzustoßen oder sie verlassen, fechten wesentlich mehr Kriege aus, solange sie dazugehören.«[7] Aber wie kann man Staaten daran hindern, dass sie sich zu Großmächten entwickeln? Dass sich ihnen andere Staaten in Allianzen anschließen? Wer hinderte sie daran? Und das ohne Gegengewalt, ohne Ungehorsam und ohne Widerstand! (Andererseits schreibt Pinker den angeblich »langen Frieden« nach dem zweiten Weltkrieg der Hegemonie der Großmächte zu.)[8]
  4. Wenn tatsächlich »nur ein Europäer wirklich den Krieg« wollte, nämlich Hitler, wie Pinker John Keegan zitiert,[9] drängt sich die Frage auf, warum sich die Bevölkerung dem doch offensichtlich kranken und von ihr einhellig abgelehnten Willen des Führers beugte. Warum sie ihren eigenen Willen aufgab. Hier stoßen wir schnell auf den Gehorsam. Dieser ist nun aber das zentrale Prinzip der Staatlichkeit. Ungehorsam, Gegengewalt, Widersetzlichkeit sind bei Pinker keine gültigen Kategorien; sie subsumiert er schlechterdings unter Gewalt.

Am Gehorsam werde ich zeigen, warum Pinkers Bild des Staats (und der Anarchie) falsch ist; falsch auch nach seinem eigenen Ansatz. Dafür ist es notwendig, dass ich eine Kategorie einführe, die bei Pinker nicht vorkommt und nicht vorkommen kann: den Widerstand.[10]

Um zu zeigen, wie eng Pinker an Hobbes anschließt und wie wenig Platz Widerstand in seinem Weltbild hat, ein Exkurs zu einer anderen Stelle seines Buches. Er untersucht die Frage, warum in den USA ein höheres Gewaltniveau existiere als in anderen westlichen Industriestaaten, und vor allem untersucht er die Frage, warum es in den 1960er bis 1980er Jahren vor allem in den USA einen Anstieg an Gewaltkriminalität gegeben habe, also warum es zu einer »Entzivilisation«[11] gekommen sei, der dann ab den 1990er Jahren eine »Rezivilisation«[12] gefolgt sei. »Afroamerikaner mit niedrigem Einkommen« seien »mehr oder weniger staatenlos«.[13] Überhaupt hätten die US-Amerikaner, »besonders die Amerikaner im Süden und Westen [der USA]«, »niemals zur Gänze einen Gesellschaftsvertrag unterschrieben«.[14] In den 1960er Jahren verbreitete sich dann das »Gefühl der Solidarität bei jungen Leuten im gewaltanfälligen Alter«.[15] Die »Bürgerrechtsbewegung« drückte »dem amerikanischen Establishment ein moralisches Brandmal« auf.[16] Monogame Beziehungen, Anstands- und Sauberkeitskonventionen wurden verhöhnt.[17] Es kam aufgrund der Delegitimation staatlicher repressiver Gewalt etwa durch Herbert Marcuse und Paul Goodman – diese beiden werden explizit genannt – zu einer »Selbstverstümmelung des Strafjustiz-Leviathans«[18] und »die Stationen der psychiatrischen Kliniken« leerten sich, »während die Zahl der Obdachlosen zunahm«.[19]

Diese Ursachenzuschreibung für die Erhöhung des Gewaltniveaus folgt dem Grundsatz von Thomas Hobbes, es sei das Gemeinwesen (Commonwealth), das per Gesetz über Gut und Böse entscheide, niemals der Einzelne selber.[20] Jeder Widerstand, jeder Ungehorsam führe zurück zum »Krieg aller gegen Alle«, den niemand vernünftig wollen kann.

Auf diesem Hintergrund schauen wir uns noch einmal das Statement Pinkers zu Hitler an. Wenn nun Hitler 1. ein Einzeltäter war und 2. offensichtlich ein Unrecht beging, das Millionen von Menschen im eigenen Land sowie in anderen Ländern tötete oder auf andere Weise schädigte, zu welchem Zeitpunkt wäre Widerstand gegen den von ihm geführten Staat legitim und keine Gewalt gewesen? Verallgemeinert führt diese Frage zu dem, das ich »Pinkers Paradox« nennen möchte: Wenn es keinen Widerstand gegen Staat geben darf, wie sonst wird der Staat weniger gewalttätig?

Während bei Hobbes die ursprüngliche Übereinkunft, einen Staat zu begründen, ein freiwilliger Akt der souveränen Menschen im vorstaatlichen Naturzustand darstellt,[21] um den gewaltsamen Tod durch den Krieg aller gegen Alle abzuwenden,[22] gibt Pinker zu: »Anders als Hobbes’ Theorie besagt, war keiner der frühen Staaten ein Gemeinwesen, das durch einen zwischen seinen Bürgern ausgehandelten Gesellschaftsvertrag mit Macht ausgestattet worden wäre. Es war eher eine Art Schutzkartell, in dem mächtige Mafiosi den Einheimischen Ressourcen abpressten und ihnen im Gegenzug Sicherheit gegenüber feindlichen Nachbarn und untereinander anboten.«[23] Das a-historische Bild der Mafiosi für die ersten Staatsherrn ist verräterisch. Wer würde je behaupten, dass die Mafia denen gegenüber, denen sie Schutzgeld abpressen, im Gegenzug Sicherheit bieten? Wer würde je behaupten, dass die, von denen eine Mafia Schutzgeld erpresst, kein Recht auf Widerstand hätten? Dass sie, mehr noch, in die »Barbarei« und »Anarchie« des Kriegs aller gegen Alle zurückfielen, wenn sie das Joch ihrer Peiniger abzuschütteln vermögen? In Pinkers Statistiken würde solch ein Widerstand nichts anderes darstellen als einen »Anstieg des Gewaltniveaus«.

Stellen wir uns nun auf der anderen Seite von »Pinkers Paradox« vor, ein Mafia-Staat (oder eben »der Führer«) habe durch die Ausübung von Terror alle Formen von Widerstand in der Bevölkerung abgetötet. Die eigene Erfahrung, die Erfahrung von Eltern oder Großeltern, dass jeder Widerstand mitleidslos mit brutaler Gewalt gegen den Ungehorsamen selber oder noch darüber hinaus gegen seine Angehörigen beantwortet wird, hat eine verängstigte Bevölkerung zurückgelassen, die sich nicht mehr traut, aufzubegehren. Würde dieser Zustand der gehorsam eingehaltenen »Friedhofsruhe« dann nach Pinker als »befriedet« gelten dürfen? Es gibt bei Pinker nicht nur keinen Begriff des Widerstands, es gibt auch keinen Begriff struktureller Gewalt.

Anders als Pinker hat Hobbes bei genauem Lesen dieses Paradox durchaus gespürt. Da das vorausgesetzte, fiktiv freiwillige Übereinkommen aus dem rationalen Kalkül folgt, im Naturzustand von gewaltsamem Tod bedroht zu sein, ist der Gesellschaftsvertrag genau in dem Moment aufgehoben, wo die aus ihm hervorgegangene Institution das Leben oder die Freiheit eines Vertragpartners bedroht.[24] Totschlagen oder sonst wie schädigen lassen kann sich jeder auch im befürchteten, ebenso fiktiven Naturzustand. Sobald der Staat selber dem Einzelnen Gewalt antut, verfällt das rationale Argument, ihm gegenüber loyal zu sein. Dann ist der Krieg (bzw. die Gewalt) nicht Folge des Naturzustandes, sondern Produkt der staatlichen Ordnung. Hobbes beschreibt den Vorgang wie eine Art Automatismus: Das Gemeinwesen schützt den Einzelnen nicht mehr, also falle dieser dem Staat gegenüber in den Naturzustand zurück.

Aber auch Pinker kommt nicht ohne die Kategorie des Widerstands aus. Die Abnahme der Gewalt sowohl in der Privatsphäre als Mord wie auch im staatlichen Bereich als Todesstrafe, Krieg oder Genozid führt er als These immer wieder auf die Staatlichkeit zurück.[25] Aber die Faktoren, die er dann im einzelnen aufzählt, sind meist Bewegungen, die sich gegen die staatliche Gewalt richten, Aufklärung, Liberalismus, Humanismus, Kritik der Religion, Theorie der kapitalistischen Wirtschaft, Friedensbewegung und Pazifismus, Feminismus.[26] Er scheint sogar die Amerikanische Revolution gutzuheißen,[27] die sich gegen die legale Ordnung auflehnte und vor allem in einer drastischen Reduktion der Staatsmacht bestand. Aber nicht zufällig hebt er immer wieder Alexander Hamilton unter den Gründungsvätern der USA hervor,[28] der stets eine Zentralisierung und einen Ausbau der neuen Staatsmacht forderte und förderte.

Kehren wir auf dem Hintergrund dieser Überlegungen zu Pinkers Behauptung zurück, in nicht-staatlichen Gesellschaften läge der Anteil von Gewaltopfern an den Todesfällen bei 15 Prozent (prähistorische Fundstätten), bei 14 Prozent (Jäger und Sammler) sowie 24,5 Prozent (Jäger-Gärtner), in Staaten dagegen, beginnend von den ersten bis zum blutigen 20. Jahrhundert unter 5 Prozent.[29] Zunächst einmal fällt auf, dass Pinker für die nicht-staatlichen Gesellschaften alle gewaltsamen Todesfälle zählt, bei Staaten dann jedoch nur die Kriegsopfer. Bei prähistorischen Funden ist sicherlich zwischen Opfern etwa räuberischer Gewalt und Kriegsversehrten nur in Ausnahmefällen überhaupt zu unterscheiden. Als zweites müssen wir bedenken, dass es in nicht-staatlichen Gesellschaften keine zentralisierte, legale Instanz zur Rechtsdurchsetzung gibt. Gleichwohl wäre es naiv, wenn wir davon ausgehen, dass in diesen Gesellschaften keine Kriminalität in Form etwa von Raubmord oder von Tötung aus Leidenschaft vorkommt und dass die Opfer oder deren Angehörige diese ohne Kompensation lassen wollen.[30] Um das Gewaltniveau zu vergleichen, brauchen wir also entweder eine Statistik für Staaten, in der zusätzlich zu den Kriegsopfern sowohl Opfer privater Gewalt als auch Gewalt zur Rechtsdurchsetzung (Hinrichtung, Gefangennahme etc.) verzeichnet ist, oder müssen aus den Statistiken für nichtstaatliche Gesellschaften die Opfer der Rechtsdurchsetzung und des Widerstands gegen Staatenbildung und Eroberung herausrechnen.[31] Darüber hinaus müssen wir die Befriedungsleistung des Staats überprüfen, inwieweit Terror und strukturelle Gewalt zum Gehorsam führen.

Wenn Kolonialisierung generell zur Gewaltreduktion innerhalb der »befriedeten« nichtstaatlichen Ethnien führen sollte, wie Pinker behauptet,[32] warum haben sie sich gegen sie fast einhellig gewehrt und sie auch rückblickend nicht akzeptiert? Zu den wenigen Ausnahmen gehören die Waorani aus dem Amazonasgebiet und die Gebusi aus Neu-Guinea. Beide Ethnien bilden vermutlich die, die die höchste jemals unter Menschen beobachtete gegenseitige Tötungsrate haben, also keineswegs repräsentativ sind. Dies wird uns noch beschäftigen.[33] Hier nur drei erste Hinweise:

  1. Die Waorani wurden 1956 durch evangelische Missionare, die Gebusi 1998 durch die katholische Kirche befriedet, nicht durch den Staat.[34]
  2. Die hohe Rate der innergesellschaftlichen Tötung bei den Gebusi rührt von der Hochrechnung auf 100.000 Einwohner. Die Gebusi töten untereinander fast ausschließlich dann, wenn sie jemanden der (tödlichen) Zauberei beschuldigen; das heißt in ihrer Eigenwahrnehmung dient sie der Rechtsdurchsetzung. Eine solche Tötung erfolgt durchschnittlich alle sieben Jahre je Siedlungsgruppe, beherrscht demnach nicht das tägliche Leben.[35]
  3. Der Widerstand, den nicht-staatliche Ethnien gegen ihre Kolonialisierung geleistet haben, war größer als derjenigen, in denen bereits Herrschaft durchgesetzt war.

[1] Pinker, S. 375, S. 510. Die Kennzeichnung als »das größte Blutbad aller Zeiten« zeigt, dass Pinker hier ein Zugeständnis an den Zeitgeist macht, denn in seiner Liste von »den schlimmsten Dingen, die Menschen Menschen angetan haben«, rangiert der zweite Weltkrieg insgesamt (also inklusive der Opfer des Kriegs zwischen den USA und Japan) erst auf Rang 9 (S. 298) und der Aufstand von An Lushan auf Rang 1; im Text wiederum bezeichnet er den »Krieg der Tripel-Allianz« 1864-1870 in Paraguay als »proportional […] destruktivste[n] Krieg der Neuzeit« (achtzig Prozent der männlichen Bevölkerung, eingerechnet Kinder und Greise, von Paraguay fanden den Tod). Dass Mao nicht vor dem zweiten Weltkrieg rangiert, liegt daran, dass Pinker eine geringe Schätzung für die Opfer Maos auf vierzig Millionen zugrundelegt; andere Schätzungen belaufen sich auf insgesamt über 75 Millionen. Bei den relativen Opferzahlen ist sicherlich auch Pol Pot ein Anwärter auf einen Spitzenplatz. In Pinkers Liste steht der chinesische Bürgerkrieg mit drei Millionen Opfern auf Rang 21. Damit klammert Pinker (aus ideologischen Gründen?) den Koreakrieg mit vier Millionen Toten aus. Bemerkenswert ist, dass Pinker die Opfer des Kommunismus insgesamt zu niedrig ansetzt.

[2] Pinker, S. 338.

[3] Pinker, S. 316.

[4] Die Formulierung werde ich im Sinne von Theodor W. Adorno (sie stammt nicht ursprünglich von ihm; Rosa Luxemburg hat sie Friedrich Engels zugeschrieben, bei dem sie sich jedoch nicht findet, in Wirklichkeit ist wohl Karl Kautsky ihr Urheber). Mit ihr zeigt Adorno übrigens, dass er nicht zu denen gehört, die zu einer Idyllisierung der Barbaren neigt. Mehr hierzu in Teil 5.

[5] Sicherlich ist es angeraten, sie in Zweifel zu ziehen. Was ist mit den hohen Herren wie Paul von Hindenburg und Franz von Papen, die Hitler die Macht übergaben? Was ist mit den reichen Herren wie Fritz Thyssen und Emil Kirdorf, die Hitler finanzierten, ganz zu schweigen von den Massen an mittelständischen Eigentümern, die zwar kleinere, in der Summe aber das Gros der Finanzierung der NSDAP trugen? Was ist mit den Massen an arbeitslosen und proletarischen Braunhemden, die sich auf der Straße für den Führer schlugen? Sie hielten sich dort rein zufällig auf und hatten keine eigenen Interessen? Was für ein Weltbild! Vgl. Stefan Blankertz, Die Katastrophe der Befreiung, S. 85ff.

[6] Teil 7.

[7] Pinker, S. 339.

[8] Pinker, z.B. S. 466. In Teil 7 werde ich gegen Pinkers These die vom »ewigen Krieg« setzen.

[9] Pinker, S. 318.

[10] Begriff des Widerstands nach Christian Sigrist als Grundkategorie der Vergesellschaftung; d.h. Widerstand ist früher als Herrschaft, vgl. Teil 4.

[11] Pinker, S. 170.

[12] Pinker, S. 184.

[13] Pinker, S. 156. Sich nicht reibungslos in einen Staat einzufügen, bedeutet keineswegs, »staatenlos« zu sein. Denn durch die Tatsache, dass der Staat wesentliche soziale Einrichtungen und Leistungen, vornehmlich die der Sicherheit, monopolisiert, verhindert er außerstaatliche (Konflikt-) Lösungen. Vgl. Teil 8.

[14] Pinker, S. 158. Der Verweis auf den Gesellschaftsvertrag wird uns weiter beschäftigen, besonders in Teil 5. Ein Vertrag impliziert, dass er 1. persönlich geschlossen und 2. kündbar ist; insofern kann er niemals einen Staat begründen. Dieses Problem hat Rousseau mehr beschäftigt als Hobbes. Vgl. Stefan Blankertz, Anarchokapitalismus, S. 34ff.

[15] Pinker, S. 174.

[16] Pinker, S. 175. An anderen Stellen dagegen zählt Pinker die Bürgerrechtsbewegung bzw. Teile von ihr zu den Faktoren, die die Zivilisierung vorgetrieben haben. Vgl. sein Kapitel »Revolution der Rechte«, S. 562-711.

[17] Pinker, S. 177, S. 178. Demgegenüber kann man davon ausgehen, dass die Monogamie in Wirklichkeit zugenommen hat, nämlich wenn man die Tatsache einrechnet, dass ein Ehemann in der bürgerlichen Doppelmoral ohne weiteres Nebenbeziehen unterhalten konnte (und Ehefrauen geneigt waren, dies zu tolerieren); bei den Feudalherrn galt Monogamie sowieso nie etwas.

[18] Pinker, S. 180.

[19] Pinker, S. 182. Hat das »während« hier temporale oder kausale Bedeutung?

[20] »In the second place, I observe the diseases of a Commonwealth that proceed from the poison of seditious doctrines, whereof one is that every private man is judge of good and evil actions. This is true in the condition of mere nature, where there are no civil laws; and also under civil government in such cases as are not determined by the law. But otherwise, it is manifest that the measure of good and evil actions is the civil law; and the judge the legislator, who is always representative of the Commonwealth.« Thomas Hobbes, Leviathan, 1651, 2:29.

[21] »It [e.g. the consent to form a Commonwealth] is a voluntary act.« Thomas Hobbes, Leviathan, 1651, 1:14.

[22] »avoidance of violent death« Thomas Hobbes, Leviathan, 1651, 1:13.

[23] Pinker, S. 83.

[24] »A man cannot lay down the right of resisting […] wounds, chayns, and imprisonment.« Thomas Hobbes, Leviathan, 1651, 1:14. So auch Thomas von Aquin und Rousseau.

[25] Beispielsweise: »Diese ungefährlichen, gewaltlosen, wutfreien Menschen [gemeint sind die !Kung] ermordeten einander nicht nur mit einer Quote, die weit größer ist als die bei Amerikanern und Europäern, sondern wie die Leviathan-Theorie es voraussagt, ging die Mordquote bei den !Kung auch um ein Drittel zurück, nachdem ihr Territorium unter die Kontrolle der Regierung von Botswana kam.« Pinker, S. 101.

[26] Pinker, S. 57 (Pazifismus), S. 282ff (Aufklärung), S. 431 (Kapitalismus), S. 598 (Feminismus). Bei allen diesen Bewegungen handelte es sich ursprünglich um antistaatliche; dies lässt Pinker unerwähnt. Vgl. Teil 5 und 7.

[27] »Die amerikanische Revolution […] schenkte der Welt eine liberale Demokratie, die mehr als zwei Jahrhunderte überstanden hat«, Pinker, S. 283. Dass es eine Revolution gegen den Staat war, bemerkte Pinker nicht.

[28] Pinker, S. 52 (»eine der größten Lichtgestalten der [us-]amerikanischen Geschichte«), S. 277 wird der Monarchist Hamilton gar zum klassischen Liberalismus gezählt.

[29] Pinker, S. 92-95.

[30] Die Vorstellung, dass nicht-staatliche Gesellschaften von »mechanischer Solidarität« (Émil Durkheim) gekennzeichnet seien, ist tief verwurzelt und wird dahingehend erweitert oder korrigiert, die Aufrechterhaltung ihrer inneren Ordnung sei, egal ob friedlich oder gewalttätig, Ergebnis einer Vergesellschaftung ohne (Selbst-) Bewusstsein. Armin Eich schreibt in »Die Söhne des Mars« (München 2015) zwar ausdrücklich gegen Pinker, dass rund siebzig »krieglose« Ethnien bekannt seien, die »bewusst« (!) auf die Möglichkeit kollektiver Gewaltanwendung verzichten (S. 48), aber meint auch, es »reiche der Nachweis eines einzigen kriegerischen Ereignisses« aus, um sie unter die kriegführenden Gesellschaften zu verbuchen (S. 40). Damit hängt die Latte nicht nur sehr hoch, sondern es ist auch wie bei Pinker kein Raum für Widerstand, nicht einmal zur gegebenenfalls gewaltsamen Rechtsdurchsetzung. Mehr dazu in den Teilen 4, 5 und 8.

[31] Es gibt auch noch weitere Problematiken in den von Pinker zugrunde gelegten Daten. So etwa nehmen die Aché (früher Guayaki genannt) die Spitzenposition bei den Jägern und Sammlern ein, mit einem Anteil von dreißig Prozent Gewaltopfern an allen Todesfällen. Pinkers Tabelle spricht sogar von »Prozentsatz der Todesfälle durch Kriege«. Es stellt sich aber heraus, dass bei den Aché eine hohe Zahl der Homizide an Kindern begangen wird, die etwa als Grabbeilage für verstorbene oder getötete Elternteile dienen. Andere Infantizide dienten vermutlich der Bevölkerungskontrolle, der Euthanasie oder der Abwendung einer zu raschen Geschwisterfolge. Sicherlich grausige, für uns heute nicht hinnehmbarer Bräuche, aber es sind definitiv keine Kriegsopfer. (Vgl. Kim Hill et.al., Aché Life History: The Ecology and Demography of a Foraging People, New York 1996, S. 434ff.) Ein großer Teil der Todesopfer durch Gewalt unter Erwachsenen entsteht durch ritualisierte Gruppenkämpfe, die Sportcharakter haben und ebenso wenig Krieg darstellen. (Vgl. ebd., S. 70ff.) Vergleichbar sind sie mit unserem Extrem- oder auch dem Motorrennsport, wobei die Möglichkeit, zu Tode zu kommen, einkalkuliert ist. Ein anderer Teil der gewaltsamen Todesopfer unter Erwachsenen folgte aus Kämpfen gegen in das Gebiet der Aché vordringende Siedler oder konkurrierender Stämme, sind also eher dem Widerstand zuzurechnen. Weiteres folgt in Teil 4.

[32] Pinker, S. 101 u.ö. Viele nicht-staatliche Ethnien in Nord- und Südamerika, in Afrika und in Asien sind durch die koloniale Befriedung ausgerottet worden. Die Ausrottung der Indianer nimmt in Pinkers Liste der schlimmsten Dinge, die Menschen Menschen angetan haben (S. 298) Rang 7 ein. Es ist schwer verständlich, wie er dennoch immer wieder die befriedende Wirkung des Staats gerade bezogen auf die indigenen Völker besingen kann.

[33] Teil 4.

[34] Der australische Staat hat jedoch die zahlreicheren und aggressiveren Bedamini ab Anfang der 1960er Jahre daran gehindert, die Gebusi zu be- und verdrängen. Die Gebusi galten der Kolonialverwaltung stets als friedlich und gewaltlos. Diese Maßnahme hatte bereits zur Abnahme auch von internen Tötungen geführt.

[35] Bruce M. Knauft, Violence Reduction Among the Gebusi of Papua New Guinea, in: Robert W. Sussman, C. Robert Cloninger (Hg.), Origins of Altruism and Cooperation, New York 2011, S. 212.