von Stefan Blankertz
Thomas Hobbes, immerhin, hatte eine klare, wenn auch unhistorische Vorstellung von der Staatsentstehung: Freie, unverbundene Menschen, einander Feind, schließen einen Vertrag, in welchem sie Frieden geloben. Woher die Motivation und die Fähigkeit dieser in ständigem Kleinkrieg befindlichen Menschen stammt, Frieden zu wollen und auch zu halten, und durch welchen Mechanismus diejenigen, die diese Menschen aus ihrer Mitte zur bewaffneten Überwachung des Friedens mit unbegrenzter Souveränität ausstatten, dazu gebracht werden, ihre Macht tatsächlich zur Friedenssicherung einzusetzen und sie nicht zu missbrauchen, erklärt Hobbes nicht.
Wie wir sahen,[1] hat Steven Pinker keine Vorstellung von der Funktionsweise und dem Recht[2] in vor-staatlichen (segmentären, akephalen) Gesellschaften. Aber auch der Entstehung des Staats, der ihm zufolge die größte Reduktion an Gewalt unter Menschen zuzuschreiben ist,[3] widmet er keine ganze Seite der 1.000 Seiten seines Buchs. »Vor rund 5.000 Jahren […] schlossen sich sesshafte Bauern in Städten und Staaten zusammen, die ersten Regierungen entstanden.«[4] Städte – Staaten – Regierungen: Sind das gleiche oder wenigstens ähnliche Gebilde oder kennzeichnen diese Begriffe etwas jeweils zu Unterscheidendes? Die Formulierung, die Bauern »schlossen sich zusammen«, klingt nach Original-Hobbes, klingt nach Konsens und Einstimmigkeit.[5] Später, so Pinker, »verschmolzen die Stämme zu Königreichen mit einem zentralen Anführer und einem Gefolge, das ihn dauerhaft unterstützte«.[6] Die Formulierung, die Stämme »verschmolzen«, setzt einen nahezu organischen Prozess voraus, der in einem Meer von Konfluenz stattfindet; es bedarf nicht einmal der Kommunikation, geschweige denn eines Vertrags. Das »Gefolge« des zentralen Anführers ist kein Erzwingungsstab, übt keinen Terror aus, verbreitet nicht Angst und Schrecken, sondern es »unterstützt« den Anführer (setzt also nicht primär seine Anweisungen gegen Widerstand in der Bevölkerung durch). Jedoch: »Anders als Hobbes’ Theorie besagt, war keiner der frühen Staaten ein Gemeinwesen, das durch einen zwischen seinen Bürgern ausgehandelten Gesellschaftsvertrag mit Macht ausgestattet worden wäre. Es war eher eine Art Schutzkartell, in dem mächtige Mafiosi den Einheimischen Ressourcen abpressten und ihnen im Gegenzug Sicherheit gegenüber feindseligen Nachbarn und untereinander anboten. Jede nachfolgende Verringerung der Gewalt nützte den Herrschenden ebenso wie den Beherrschten. Wie ein Bauer, der seine Tiere daran hindern will, sich gegenseitig zu töten, so versucht auch ein Herrscher, seine Untertanen von jenem Kreislauf aus Überfällen und Fehden abzuhalten, der die Ressourcen nur hin und her schiebt oder Rechnungen zwischen ihnen begleicht, aus seiner Sicht aber nur Verluste mit sich bringt.«[7] Ein bemerkenswertes Statement von einem Hobbessianer, das es genau zu lesen gilt.
- Nun also hat sich niemand »zusammengeschlossen«, Regierungen »entstanden nicht«, Stämme sind nicht zu Königreichen »verschmolzen«, das Gefolge »unterstützt« den Mafiosi-Anführer nicht, sondern »presst Ressourcen ab«,[8] ist zum Erzwingungsstab geworden.
- Aber nicht nur das, sondern der »Mafiosi« scheint auch ein Fremder gegenüber den »Einheimischen« (locals) zu sein. Der König oder Staatspräsident hat sich demnach nicht aus dem lokalen Stammesführer entwickelt.
- Die Reduktion der Gewalt folgt keiner ethischen Überzeugung, vielmehr einem zweckrational ökonomischen Kalkül. Glücklicherweise nützt das zweckrationale Kalkül nicht nur den Herrschenden, sondern auch als gleichsam nicht intendierte, dennoch positive Nebenwirkung den Beherrschten.
- Die Beherrschten sollten, anstatt den Herrschenden Widerstand zu leisten, froh sein, denn anscheinend diszipliniert und zivilisiert das zweckrationale Kalkül die Herrschenden – sie verringern die Gewalt, weil Gewalt ihnen einen ökonomischen Nachteil bringen würde –, aber Zweckrationalität kann nicht die Beherrschten in gleicher Weise zur Selbstdisziplin und Selbstzivilisierung veranlassen. Das sah Hobbes anders: Der Staat erwachse aus dem zweckrationalen Kalkül der Beherrschten, nicht der Herrschenden. Den Herrschenden ein zweckrationales Kalkül zuzugestehen, würde im Rahmen von Hobbes Leviathan-Theorie die Gefahr bergen, dass sie im Eigeninteresse und nicht im Interesse des »Commonwealth« handeln, wie es diese Theorie als notwendig voraussetzt.
- Warum können die Beherrschten nicht selbst kalkulieren, dass ihnen der ewige Kleinkrieg nur ökonomische Nachteile bringe? Die einzige Antwort, die sich dem Statement von Pinker entnehmen lässt, lautet: Weil sie bewusstlos wie das Vieh handeln und wie das Vieh durch externe Gewalt zum Frieden gezwungen werden müssen. Wenn sowohl die Beherrschten als auch die Herrschenden jedoch beide zur Menschengattung zählen, durch welchen Mechanismus sind die Herrschenden zum zweckrationalen Kalkül fähig, die Beherrschten dagegen nicht?
Die versteckte Andeutung bei Pinker, dass es sich bei dem Oberhaupt des entstehenden Staats um einen Ortsfremden handelt, ist der Schlüssel zum Verständnis der Entstehung des Staats. Der durch die segmentäre Opposition[9] organisierte Widerstand[10] verhindert effektiv, wie wir gesehen haben, die Entstehung einer Zentralinstanz mit Erzwingungsstab innerhalb einer Ethnie. Konflikte zwischen zwei Ethnien regeln sich, falls keine andere Lösung gefunden wird, durch den Wegzug der Unterlegenen. Wenn ein solcher Wegzug nicht oder nur unzureichend möglich ist, macht dies möglich, dass die überlegene der unterlegenen Ethnie ein Verhältnis dauerhafter Tributzahlungen aufbürdet. Zu diesem Zweck bedarf es spezialisierter Personen, die den Tribut einfordern, falls er verweigert wird. Das ist der Ursprung des Erzwingungsstabs (der Polizei sozusagen).
Der Wegzug einer unterlegenen Konfliktpartei kann durch geografische Gegebenheiten begrenzt werden. Dies ist die »Einschlusstheorie« oder »Theorie der natürlichen Grenzen« von Robert Carneiro.[11] Es kam aber nicht überall, wo die Bedingungen eines Einschlusses verbunden mit einem Bevölkerungs- und Ernährungsdruck vorlagen, zur Staatsentstehung.[12] Zumindest muss sich eine gewisse Überschussproduktion und Lagerhaltung herausgebildet haben, damit Tribute geleistet werden können. Insofern ist die Errichtung einer dauerhaften, organisierten Herrschaft notwendig an die landwirtschaftliche Produktion gebunden. Und die Sesshaftigkeit, die mit der Landwirtschaft einhergeht, ist die wohl wirksamste Grenze für den Wegzug. Staatsentstehungen vor der neolithischen Revolution sind in der Tat unbekannt. Auch rief die neolithische Revolution vor rund 12.000 Jahren nicht unmittelbar Staatsentstehungen hervor. Allerdings stammen aus dieser Zeit häufigere Funde, die auf gewaltsame Konflikte schließen lassen. Doch erst vor fünf- bis sechstausend Jahren entstanden die ersten (primären) Staaten.[13] Über lange Zeit also konnten Nomaden und Bauern überwiegend friedlich koexistieren.[14] Wohlgemerkt: Auch nach Carneiro entsteht der Staat niemals ohne kriegerische Einwirkung; Krieg ist die zwingende, aber an sich noch nicht hinreichende Bedingung der Staatsentstehung nach Carneiro. Er benennt zusätzliche Faktoren, die vorliegen müssen, damit ein Staat entstehen kann.
Die Sesshaftigkeit und die an sie geknüpfte Produktion durch Ackerbau und Viehzucht zusammen mit Vorratshaltung begünstigt eine Situation, in der Nomadenverbände Bauern überfallen. Der Fortschritt von sporadischen Überfällen zur Etablierung eines dauerhaften, gleichsam geordneten Ausbeutungsverhältnisses ist der Ursprung des Staats; er ist das, was Pinker salopp die mafiöse Struktur der ersten Staaten nennt. Diese Eroberungs- oder Unterwerfungstheorie des Staats – je nachdem, von welcher Seite man die Sache betrachtet –hat Franz Oppenheimer formuliert.[15] Es ist die Tragik der Nomaden, dass sie im Übergang von der Vorgeschichte zur Geschichte der Menschheit der Schrecken der Bauern waren und zur Entstehung der Staaten beitrugen, dann aber, als diese etabliert und ausgebreitet waren, ihnen fast wehrlos zum Opfer fielen, weil sie der nun geballten, gebündelten und wohlorganisierten Macht nichts mehr entgegenzusetzen wussten. Allerdings ist Oppenheimers Theorie in der von ihm formulierten Weise nicht aufrecht zu erhalten. Es waren schon gleich am Anfang nicht immer die Nomaden, die den Sieg davon trugen. Bauern, die in größeren Verbänden lebten, sich auf die Herstellung von Handwerkszeug (damit potenziell Waffen) verstanden und in enger Kooperation geübt waren, konnten sich mitunter gut zur Wehr setzen. Doch das Sich-zur-Wehr-Setzen hat seinen Preis. Um die Felder und Herden nicht zu lange im Stich zu lassen, ist es zweckmäßig, spezialisierte Krieger mit Waffen auszustatten und sie zu ernähren. Abwehrschlachten begünstigen die Herausbildung einer militärischen Hierarchie. Zum Organisator des Widerstands wird mitunter ein fremder Führer berufen.[16] Kurzum, die segmentäre Opposition beginnt, aus dem Gleichgewicht zu geraten, und es kommt zu einer frühen Form des Feudalismus. Ich schlage vor, diese Form der Staatsentstehung als »interne Eroberung«[17] im Unterschied zu der Oppenheimerschen externen Eroberung zu bezeichnen. So haben in neuester Zeit afghanische und somalische Stämme die Unterwerfungsversuche durch die ehemalige UdSSR und dann die USA bzw. die UNO zwar abgewehrt, jedoch eine interne Eroberung durch Islamisten – mit den Taliban als fremden Führern – erfahren müssen, die ihre tradierten Strukturen ebenso zerstörten wie die externen Eroberer es getan hätten.
In der Kolonialisierung Afrikas, Amerikas, Asiens und Australiens zeigt sich keine Überlegenheit der unter einer Staatsgewalt geeinigten über die akephalen oder polyphalen Gesellschaften, Widerstand gegen die Eroberung zu leisten, eher im Gegenteil. Einige der von den Azteken unterworfenen und drangsalierten Völker verbanden sich im ersten Quartal des 16. Jahrhunderts mit der spanischen Kolonialmacht, um die Peiniger abzuschütteln. Das Zulu-Reich, Anfang des 19. Jahrhunderts in Antwort auf die Kolonialisierung auf dem Rücken von Opfern in Millionenhöhe errichtet,[18] wurde kaum fünfzig Jahre später durch die Briten unterworfen.
Die von mir präsentierte Theorie der Staatsentstehung geht weder davon aus, dass die Entstehung von Staaten ein Zu- oder Unfall der Geschichte sei, noch dass sie automatisch entstehen. Doch mit zunehmender Bevölkerungszahl und Sesshaftigkeit wird der segmentäre Widerstand eine immer stumpfere Waffe gegen Überwältigung und Unterdrückung. Dennoch lebt er als Grundlage der gesellschaftlichen Selbstregulation und des als natürlich empfundenen Rechts oder der Gerechtigkeit fort. Vom ersten Auftauchen des Staatsprinzips bis zu seiner heute erreichten vollständigen Durchsetzung hat es rund sieben tausend blutige Jahre gekostet.
Vor allem nimmt meine Theorie der Staatsentstehung nicht an, dass der Staat strukturell oder funktionell notwendig war, um die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung der Menschen voranzutreiben. Die klassische marxistische Analyse, die von Friedrich Engels und nicht von Karl Marx stammt,[19] besagt, die durch die landwirtschaftliche Produktion und die frühen Formen der Marktwirtschaft hervorgebrachte Ungleichheit habe für die besitzende Klasse den Staat zum eigenen Schutz zwingend erforderlich gemacht.[20] Dies ist übrigens nicht die Analyse von Karl Marx, der in der Theorie der ursprünglichen Akkumulation immer schon die gewaltsame Aneignung und einen sie deckenden Staat als existent voraussetzte.[21] Pierre Clastres und Elman Service, beide mit einem unbestimmten, nicht spannungsfreien Verhältnis zum Marxismus, bestätigen meine eigene Marxinterpretation.[22] Clastres: »Die politische Beziehung der Macht geht der ökonomischen Beziehung der Ausbeutung voraus. […] Das Auftauchen des Staats bestimmt das Entstehen der Klassen.«[23] Service: »Politische Herrschaft in ihrer Urform wurde also nicht tätig, um eine andere Klasse oder Schicht der Gesellschaft, sondern um sich selbst zu schützen – indem sie sich in ihrer Rolle als Wahrerin des gesellschaftlichen Ganzen legitimierte.[24] Die beiden elementaren Schichten waren die Herrschenden und die Beherrschten.«[25] Service wird mit der Theorie der Staatsentstehung identifiziert, Herrschaft habe sich schrittweise aus den internen Hierarchien entwickelt. Gleichwohl stellt er fest, Kriege stünden »offensichtlich in engem Zusammenhang mit der Evolution politischer Herrschaft«, aber zusätzlich »bedurfte es einer Fülle weiterer Faktoren.«[26] Insofern handelt es sich um das, was ich »interne Eroberung« nenne. Umgekehrt lässt sich laut Armin Eich in den »Entwicklungslinien vom Neolithikum zur Kupferzeit« »anhand des Quellenmaterials kein Grundkonflikt zwischen sesshaften Dorfbewohnern und ihre Traditionen bewahrenden Jägern und Sammlern beobachten. […] Für zahlreiche Siedlungen in der weiteren Kontaktzone von Orient zu Okzident war diese Epoche des Kulturtransfers eine alles in allem friedliche Zeit von langer Dauer«.[27] Von einer funktionalen Notwendigkeit der Staatsentstehung kann keine Rede sein. Folgende Stufen in der Staatsentwicklung sehe ich als zentral an:
- Herrschaft: Durch auf Wiederkehr gestellten Raub bilden sich sowohl in der räuberischen als auch in der beraubten Gruppe militärische Hierarchien, die zur Keimzelle eines Erzwingungsstabs werden können.
- Bloßer Staat. Der Anspruch der räuberischen Gruppe, im Gegenzug zur Einstellung der aktiven Feindseligkeiten exklusiv und dauerhaft Abgaben (Tribut, Steuern) einer bestimmten geografischen Einheit zu erhalten, führt zum bloßen Staat mit den zwei Ausprägungen:
2.1 Externe Eroberung: Überlagerung einer Gruppe durch die andere. Beide Gruppen können intern weiterhin ein großes Maß an segmentärer, nahezu akephaler Konfliktregelung beibehalten. In der Gruppe der Räuber kristallisieren sich jedoch Spezialisten heraus, die die Abgaben bei den Unterworfenen eintreiben und Konkurrenten (»Feinde«) aus dem Feld schlagen. Damit ist das Prinzip der Territorialherrschaft etabliert: Anspruch auf das Monopol für Gewaltausübung in einem Territorium.
2.2 Interne Eroberung: Die erfolgreiche Abwehr der Räuber hinterlässt eine spezialisierte Kriegerkaste, die den Mechanismus der segmentären Opposition unterläuft und fortlaufend ausgehalten werden muss. Die Abgaben für den Unterhalt der Soldaten erscheinen in der ersten Zeit noch als freiwillig. Das Ergebnis muss noch nicht eine Territorialherrschaft sein. Dies ist der Ursprung des Feudalismus, der sehr langsam erst zur Territorialherrschaft umgewandelt wird und noch für lange Zeit eine polykephale Gewaltausübung anerkennt.
- Etatismus: Der Staat übernimmt (okkupiert) gesellschaftliche Funktionen wie Rechtsprechung und legitimiert sich als »Wahrer des gesellschaftlichen Ganzen«.[28] Diese Legitimation ist die Ideologie der Ausbeuter. Beispiel einer solchen Ideologie ist die Theorie von Thomas Hobbes. Die Gewalt wird zunehmend struktureller als Drohung gegen den Ungehorsamen. Wenn an einzelnen Ungehorsamen grausame Strafe exekutiert wird, schreckt dies viele Andere vom Ungehorsam ab.[29]
- Spätetatismus: Die gesellschaftlichen Funktionen sind so vollständig und so lange vom Staat besetzt, dass eine andere als staatliche Organisation dieser Funktionen unmöglich zu sein scheint. Die Herrschaft des Staats wird als notwendig oder wenigstens unvermeidbar angesehen. Es bedarf immer weniger direkter Gewalt, um die staatliche Ordnung aufrecht zu erhalten, weil Widerstand abnimmt. An die Stelle grausamer Strafen tritt die Drohung ökonomischer Existenzvernichtung: Jemanden, der keine Steuern zahlt, braucht man nicht mehr zu erdolchen, zu foltern oder zu erschießen, es reicht, ihm sein Konto zu sperren. Da Steuern zunehmend direkt von der Quelle (Arbeitgeber, Bank, Verkäufer) abgeführt werden, ist die Gelegenheit, keine Steuern zu zahlen, für die meisten Menschen sowieso abgeschnitten.
Krieg ist nicht jeder bewaffnete Konflikt, sondern der Kampf um die Aufrechterhaltung und Ausweitung des territorialen Gewaltmonopols nach innen und nach außen. Im Krieg wird die Bindung der legitimen Ausübung von Gewalt an die Kompensation individuell zurechenbarer Delikte, die das segmentäre Recht kennzeichnet, aufgehoben zugunsten der Erlaubnis, die als »Feind« definierte Fremdgruppe unterschiedslos zu töten.
Eine wesentliche Rolle in der Staatsentstehung spielt also die Zerstörung der verwandtschaftlichen Beistandspflicht, die die segmentäre Opposition konstituiert. Hiervon legt das Alte Testament beredtes Zeugnis ab. »Mose wandte sich und stieg vom Berge und hatte die zwei Tafeln des Gesetzes in seiner Hand. […] Als Mose aber nahe zum Lager kam und das Kalb und das Tanzen sah, entbrannte sein Zorn und er warf die Tafeln aus der Hand und zerbrach sie unten am Berge. […] Als nun Mose sah, dass das Volk zuchtlos geworden war […] trat er in das Tor des Lagers und rief: ›Her zu mir, wer dem HERRN angehört!‹ Da sammelten sich zu ihm alle Söhne Levi. Und er sprach zu ihnen: ›So spricht der HERR, der Gott Israels: »Ein jeder gürte sein Schwert um die Lenden und gehe durch das Lager hin und her von einem Tor zum andern und erschlage seinen Bruder, Freund und Nächsten.«‹[30] Die Söhne Levi taten, wie ihnen Mose gesagt hatte; und es fielen an dem Tage vom Volk dreitausend Mann. Da sprach Mose: ›Füllt heute eure Hände zum Dienst für den HERRN – denn ein jeder ist wider seinen Sohn und Bruder gewesen –, damit euch heute Segen gegeben werde.‹« [31] Bemerkenswert an der Erzählung um das »Goldene Kalb« sind die beiden Punkte:
- Es ist erlaubt und darüber hinaus auch geboten, Andersgläubige zu töten.
- Die religiös-politische Loyalität steht höher als familiäre oder freundschaftliche Verbundenheit.
Ich sage hier ausdrücklich »religiös=politische« Loyalität. Denn mit der Erzählung um das goldene Kalb beginnt der Kampf um ideologische Gefolgschaft, für den sich Religion von Anbeginn nur allzu bereitwillig zur Verfügung gestellt hat. Die Geschichte um das goldene Kalb ist demnach nicht nur ein religiöser Gründungsmythos. Mit der Setzung, dass die ideologische Loyalität höher stehe als verwandtschaftliche Solidarität und dass im Namen der ideologischen Loyalität Mutter und Vater, Sohn und Tochter sowie Geschwister getötet werden dürfen und müssen, beginnt der Jahrtausende währende Kampf des Staatsprinzips gegen die verwandtschaftliche Solidarität.[32] Und wenn Mose wirklich, wie nicht nur Sigmund Freud vermutet, Ägypter war, erfüllt er genau den Typus, den Pinker als erstes Oberhaupt eines Mafia-Staats kennzeichnete – den Ortsfremden.[33]
Doch auch von Widerstand gibt es noch Spuren im Alten Testament. Der Prophet Samuel »sprach: Das wird des Königs Recht sein, der über euch herrschen wird: Eure Söhne wird er nehmen für seinen Wagen und seine Gespanne, und dass sie vor seinem Wagen herlaufen, und zu Hauptleuten über tausend und über fünfzig, und dass sie ihm seinen Acker bearbeiten und seine Ernte einsammeln und dass sie seine Kriegswaffen machen und was zu seinen Wagen gehört. Eure Töchter aber wird er nehmen, dass sie Salben bereiten, kochen und backen. Eure besten Äcker und Weinberge und Ölgärten wird er nehmen und seinen Großen geben. Dazu von euren Kornfeldern und Weinbergen wird er den Zehnten nehmen und seinen Kämmerern und Großen geben. Und eure Knechte und Mägde und eure besten Rinder und eure Esel wird er nehmen und in seinen Dienst stellen. Von euren Herden wird er den Zehnten nehmen und ihr müsst seine Knechte sein.«[34] Der Autor dieses Textes jedenfalls hat im heraufziehenden Königtum Israels keinen befriedenden Fortschritt gegenüber der Anarchie der Richter-Zeit gesehen.
Eine initiale Gewaltreduktion durch Staatsentstehung oder -durchsetzung ist empirisch nicht belegt, ganz im Gegenteil. Ob es sich die Errichtung des Zulu-Reichs in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ob es sich um die Eroberung Galliens durch die Römer im 1. Jahrhundert vor Christus, ob es sich um die »Christianierung« der Sachsen durch Karl den großen im 8. Jahrhundert nach Christus, ob es sich um die »Befriedung« der Indianer in Nordamerika in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die USA, ob es sich um die Begründung des Alexanderreiches im 4. Jahrhundert vor Christus handelt, egal, wohin wir schauen, die Entstehung, Erweiterung und Durchsetzung von Staat ist von Blutorgien begleitet: Widerstand wird kriegerisch gebrochen und nach dem Sieg müssen grausame Exempel statuiert werden: Jedem muss deutlich werden, dass die neue Herrschaft keinen Widerstand duldet. Und wenn der Widerstand dann gebrochen ist, heißt es, es herrsche Frieden. Hier stimmt Pinker schlechterdings nicht mit den Fakten überein.[35] Eine initiale Gewaltreduktion durch Staatsentstehung oder -verstärkung ist aber auch nicht plausibel. Denn die kriegerische Gewalt, die den Leviathan gebiert, kommt zu den »internen Mordraten«, egal wie hoch sie sein mögen, ja jeweils hinzu.
Die Uranarchie scheitert an ihrer inneren Begrenzung. Sie scheitert zwar nicht, weil sie das gesellschaftliche Leben auf einer höheren Stufe von Integration und Kooperation funktional nicht mehr organisieren kann, aber weil ihr Mechanismus, die Entstehung von Herrschaft durch Widerstand zu verhindern, auf ein verwandtschaftliches Netzwerk begrenzt ist. Hat die Staatsentstehung dann stattgefunden, kann die Uranarchie nicht genügend Gewalt bündeln, um sich über die Jahrtausende hinweg erfolgreich zur Wehr zu setzen. Um eine Perspektive für Freiheit und Frieden wiederzugewinnen, bedarf es einer neuen Anarchie.[36]
[1] Akte 4.
[2] Anarchie ist bei Pinker stets nichts anderes als ein rechtsfreier Raum (vgl. z.B. Pinker, S. 163), da er mit Hobbes annimmt, dass erst der Staat Recht setzen könne (»… that the civil law ceasing, crimes cease: for there being no other law remaining but that of nature, there is no place for accusation« Leviathan, 1651, 2:29). Wäre dem so, könnte ein Staat nie ein anderes Unrecht begehen, als gegen ein selbst gesetztes Gesetz zu verstoßen (ohne es zuvor geändert zu haben). Und umgekehrt: Die Gewalttaten des Islamischen Staats, der als solcher von den übrigen Staaten nicht anerkannt wird, erfüllen – wohlgemerkt: zurecht – mit Abscheu, dagegen hält sich die Abscheu vor den gleichen Taten des anerkannten Staats Saudi Arabien in Grenzen, man ist Freund mit ihm und er gilt als »sicheres Herkunftsland«, weil dort mit Recht und Gesetz getötet wird.
[3] »Wenn Hobbes’ Theorie zutrifft, sollte dieser Übergang [zum Staat] auch den ersten größeren Rückgang der Gewalt in der Geschichte angestoßen haben.« Pinker, S. 72; vgl. auch Pinker, S. 800: »Schon die Existenz einer Regierung als solche [lässt] das Ausmaß der Gewalt stark sinken – von einigen Hunderten von Morden je 100.000 Menschen pro Jahr auf wenige Dutzend.«
[4] Pinker, S. 72.
[5] Einstimmigkeit setzt Rousseau voraus (und kann dann realistisch gar keinen Staat konstituieren, vgl. Stefan Blankertz, Anarchokapitalismus, Berlin 2015, S. 34ff.)
[6] Pinker, S. 82.
[7] Pinker, S. 83.
[8] Im Original: »Mafiosi extorted resources from the locals.«
[9] Vgl. Akte 4.
[10] Vgl. Akte 2.
[11] »Circumscription Theory«. Formuiert von Robert Carneiro, A Theory of the Origin of the State, in: Science 169/1970, S. 733-738.
[12] Vgl. Henri Claessen, Structural Change: Evolution and Evolutionism in Cultural Anthropology, Leyden 2000.
[13] Robert Carneiro nennt sechs »primäre« Staatsentstehungen. Alle anderen seien »sekundär«, d.h. gehen aus Kontakt mit bereits bestehenden, vorher entstandenen Staaten hervor.
[14] Armin Eich, Die Söhne des Mars: Eine Geschichte des Kriegs von der Steinzeit bis zum Ende der Antike, München 2015, S. 36.
[15] Vgl. Franz Oppenheimer, Der Staat (1907). Als Vorläufer können u. a. Augustinus und Ibn Chaldun gelten. Für die Eroberungstheorie in ihrer ursprünglichen durch Oppenheimer formulierten Form wird auch heute noch votiert (aber ohne Oppenheimer zu nennen): Uwe Wesel, Geschichte des Rechts, München 1997, S. 57 ff. Dagegen schreibt er S. 32, was eher nach Herbert Spencer und Elman Service klingt (vgl. Anm. 17): »Herrschaft entsteht aus der Radikalisierung von Institutionen der Verwandschaft.« (Uwe Wesel ist, wohlgemerkt, kein Anarchist; so wie auch Franz Oppenheimer keiner war.)
[16] Ein Fremder darum, weil allen Einheimischen gegenüber der Mechanismus der segmentären Opposition greift.
[17] Die »interne Eroberung« ist die Theorie der Staatsentstehung von Herbert Spencer, The Principles of Sociology, New York 1896, S. 280: »Military cooperation is that primary kind of cooperation which prepare for other kinds.« An sie knüpft Elmar Service an, siehe unten.
[18] Das kurzlebige Zulu-Reich ist bestimmt keine gute Referenz für die Leviathan-Theorie, die bloße Existenz eines Staats wirke gewaltreduzierend (Pinker, S. 800). – (Shaka, der Begründer des Zulu-Reichs, war übrigens zwar kein Ortsfremder, aber der exogame illegitime Sohn des Häuptlings, sodass seine verwandtschaftlichen Bindungen innerhalb des Stammes bemerkenswert schwach war.)
[19] Friedrich Engels, Der Ursprung des Staates, der Familie und des Privateigentums (1884). Christian Sigrist, ein Marxist, meinte in einem von mir besuchten Seminar Ende der 1970er Jahre, Engels sei sturzbesoffen gewesen, als er diesen Text verfasste, und nicht ernst zu nehmen.
[20] »Der aufgekommene Privatbesitz an Herden und Luxusgerät führte zum Austausch zwischen einzelnen, zur Verwandlung der Produkte in Waren. Und hier liegt der Keim der ganzen folgenden Umwälzung. […] Mit der Warenproduktion kam die Bebauung des Bodens durch einzelne für eigne Rechnung, damit bald das Grundeigentum einzelner. Es kam ferner das Geld, die allgemeine Ware, gegen die alle andern austauschbar. […] Kurz, mit der Gentilverfassung ging es zu Ende. Die Gesellschaft wuchs täglich mehr aus ihr heraus; selbst die schlimmsten Übel, die unter ihren Augen entstanden waren, konnte sie nicht hemmen noch heben. Aber der Staat hatte sich inzwischen im Stillen entwickelt. Die neuen, durch die Teilung der Arbeit zuerst zwischen Stadt und Land, dann zwischen den verschiednen städtischen Arbeitszweigen geschaffnen Gruppen hatten neue Organe geschaffen zur Wahrnehmung ihrer Interessen; Ämter aller Art waren eingerichtet worden. Und dann brauchte der junge Staat vor allem eine eigne Macht, die bei den seefahrenden Athenern zunächst nur eine Seemacht sein konnte, zu einzelnen kleinen Kriegen und zum Schutz der Handelsschiffe waren.« Friedrich Engels, Der Ursprung des Staates, der Familie und des Privateigentums (1884), MEW 21, S. 110.
[21] Karl Marx, Das Kapital (1867), MEW 23, S. 741-802.
[22] Das libertäre Manifest (2001/2015), Mit Marx gegen Marx (2014).
[23] Pierre Clastres, Staatsfeinde (1974), Frankfurt/M. 1976, S. 188.
[24] Mit dem Schlenker »indem sie sich in ihrer Rolle als Wahrerin des gesellschaftlichen Ganzen legitimierte« spricht Service die Rolle der Ideologie an, die ich weiter unten thematisiere.
[25] Elman Service, Ursprünge des Staates und der Zivilisation (1975), Frankfurt/M. 1977, S. 13.
[26] Elman Service, S. 335f. Das heißt: Im Bezug auf die entscheidende Rolle des Kriegs bei der Staatsentstehung sind sich Service und Carneiro einig und widersprechen auch nicht dem Oppenheimer-Theorem.
[27] Armin Eich, Die Söhne des Mars: Eine Geschichte des Kriegs von der Steinzeit bis zum Ende der Antike, München 2015, S. 76f.
[28] Elman Service, S. 13.
[29] Michel Foucault, Überwachen und Strafen, Frankfurt/M. 1976.
[30] Auf den Tafeln stand, wohlgemerkt, das Gebot: »Du sollst nicht töten.«
[31] »Exodus« bzw. nach Luther »2. Buch Mose«, Kapitel 32, Verse 15-29.
[32] Zur ethnologischen Rekonstruktion der Staatsentstehung des alten Israel vgl. Rainer Neu, Von der Anarchie zum Staat, Neukirchen 1992.
[33] Pinker, S. 83.
[34] 1Sam8, 11 bis 17. Vgl. Frank Crüsemann, Widerstand gegen das Königtum, Neukirchen 1978.
[35] Weiterführung des Gedankens in Akte 7.
[36] Vgl. die Schlussakte (Teil 8).