Aus den Akten Pinker vs. Anarchie 7: Zum ewigen Krieg

von Stefan Blankertz

Eine Bemerkung von Martin Zimmermann in »Gewalt: Die dunkle Seite der Antike«, einem Buch aus dem relativ neuen Fachgebiet der verdienstvollen, wenn auch nicht ganz unproblematischen[1] historischen Gewaltforschung: »Als besondere Form der Inszenierung von brutaler Gewalt kann man [Gladiatorenkämpfe] als abstoßendes Zeichen römischer Dekadenz verstehen, das freilich bis heute nicht seine Faszination verloren zu haben scheint. […] Auch heute gäbe es für das, was man im antiken Rom und in den Provinzen inszenierte, ein Publikum, das sicherlich bereit wäre, hohe Preise für beste Plätze zu zahlen. Allein der Gesetzgeber verweigert sich solchen Begierden bisher standhaft und gestattet der Gemeinschaft nicht, sich solchem sadistischen Voyeurismus hinzugeben.«[2]

Zunächst scheint diese Bemerkung Steven Pinkers an Hobbes angelehnte Argumentationsfigur zu bestätigen: Auf der einen Seite steht die stets gewaltbereite, gleichsam barbarische Gemeinschaft, auf der anderen Seite der im Auftrag des Leviathans die Gewalt begrenzende Gesetzgeber. Die Problematik hinter dieser Gegenüberstellung zeigt sich genau dann, wenn wir überlegen, inwiefern der Gesetzgeber die Gewalt eindämmen wolle und könne. Auch in Rom gibt es einen Gesetzgeber, der, wie Martin Zimmermann über viele Seiten deutlich werden lässt, keine Hemmungen hat, das, was er für richtig hält, mit jeglicher Form von Gewalt und Grausamkeit durchzusetzen. Vielleicht hätte er ein Verbot der Gladiatorenspiele durchsetzen können, das mag ungewiss sein, gewiss aber ist, dass er es erst am Ende des römischen Reichs kurz vor seinem Untergang nach mehreren Jahrhunderten christlicher Insurrektion tat. Warum will es der heutige Gesetzgeber? Sofern er, wie es heute als einzig legitim erscheint, demokratisch agiert, muss zumindest idealtypisch die Mehrheit der wahlberechtigten Bevölkerung das Verbot wollen. Dort, wo keine demokratische Legitimität vorliegt, kann der Gesetzgeber sich vom Willen der Mehrheit weiter entfernen, aber warum sollte er es in dieser Hinsicht tun, die ihm nicht nur nicht gefährlich werden kann, sondern die im Gegenteil in der Lage ist, als Blitzableiter für Frustration zu dienen? Wie es die römischen Herrscher auch sahen: Mit »Brot und Spielen« macht man sich das Volk gefügig.

Dagegen formuliert Pinker seine Grundthese deutlich zurückhaltender und differenzierter als Martin Zimmermann. »Schon die Existenz einer Regierung als solche [lässt] das Ausmaß der Gewalt stark sinken – von einigen Hunderten von Morden je 100.000 Menschen pro Jahr auf wenige Dutzend. Ein weiterer Rückgang bis in den einstelligen Bereich ist wahrscheinlich auf verschwommene Faktoren zurückzuführen, beispielsweise darauf, ob die Menschen ihre Regierung und den Gesellschaftsvertrag als legitim anerkennen.«[3]

Hier taucht nach der angeblich initialen Gewaltreduktion durch die bloße Entstehung eines Staats, die ich gleich noch betrachte, ein Faktor auf, der die weitere Reduzierung von Gewalt steuert: Legitimität. Eine Anerkennung der Rechtmäßigkeit einer Regierung, eines Staats, einer Gesetzgebung durch die Bevölkerung – in ihrer Mehrheit? – ist Pinker zufolge ein wichtiger Faktor, der das Gewaltniveau in einer Gesellschaft bestimme. Wie sensibel das Gewaltniveau laut Pinker auf Delegitimierung reagiert, zeigt sich daran, dass er das kurzfristige Ansteigen des Gewaltniveaus in den USA während der 1960er und der folgenden Jahre auf die Staats- und Kulturkritik der Hippies zurückführt: »Ein Gefühl der Solidarität bei jungen Leuten im gewaltfähigen Alter zwischen 15 und 25 Jahren – das ist für eine zivilisierte Gesellschaft auch unter den besten Umständen eine Bedrohung. Verstärkt wurde der Entzivilisationsprozess durch einen Trend, der während des gesamten 20. Jahrhunderts Schubkraft gewonnen hatte. […] Im Laufe des Zivilisationsprozesses hatten sich Normen und Sitten von der Oberschicht aus nach unten durchgesetzt. Als die westlichen Staaten aber immer demokratischer wurden und die Oberschicht als moralisches Beispiel zunehmend in Misskredit geriet, wurden Rangordnungen von Geschmack und Sitten eingeebnet. Dieser Verlust an Förmlichkeit betraf beispielsweise die Kleidung der Menschen. Man gab Hut, Handschuhe, Krawatte und Anzug zugunsten leger, sportlicher Kleidung auf. Ebenso betraf er die Sprache – Menschen reden sich zunehmend mit dem Vornamen und mit Du an. […] Nachdem die Eliten vom Informalisierungsprozess zuverlässig abgewertet worden waren, erlitt ihre Legitimität einen weiteren Schlag. Die Bürgerrechtsbewegung hatte dem amerikanischen Establishment ein moralisches Brandmal aufgedrückt, und als Kritiker auch andere Teile der Gesellschaft beleuchteten, kamen immer mehr solcher Makel zum Vorschein, Dazu gehörten die Gefahr eines nuklearen Holocausts, die verbreitete Armut, die Behandlung der amerikanischen Ureinwohner, die vielen freiheitsfeindlichen Militärinterventionen in anderen Ländern […] und später die Umweltverschmutzung sowie die Unterdrückung von Frauen und Homosexuellen.«[4]

Diese Passage muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Solidarität zwischen Jugendlichen, Änderungen von sozialen Vorlieben wie dem Tragen von Hut, Handschuhen, Krawatten und Anzügen ebenso wie Kritik an der Armut, dem Krieg oder der Vernichtung anderer Kulturen steigert das Gewaltpotenzial? An anderer Stelle behandelt Pinker das Duell unter den Feinen und Vornehmen, die einander selbstverständlich sauber und korrekt gekleidet gegenüber traten, und er feiert die Überwindung dieses Rituals als großen Sieg über die Gewalt.[5] Antikriegs-, Bürgerrechts-, Frauen-, Schwulen- und Umweltbewegungen sind für Pinker über weite Strecken die wesentlichen Motoren der Zivilisierung.[6] Damit reduziert sich der Erklärungswert der Passage auf null. Zum Ende des Religionskriege bemerkt Pinker, »irgendwann in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts schwand bei den Europäern der Eifer, Menschen mit dem Glauben an das falsche Übernatürliche zu töten« und »der spanischen und portugiesischen Inquisition ging im 17. Jahrhundert die Luft aus«.[7] Hier benennt er Faktoren nicht verschwommen, sondern gar nicht. Der Eifer »schwindet« und der Inquisition geht »die Luft aus«. Aber dann, im gegenwärtigen Islamismus, fängt der Eifer wieder Feuer und die Inquisition hat Luft geholt.

An dieser Stelle interessiert mich besonders ein Aspekt, der zwischen den Zeilen zu suchen ist. Es gibt genügend Beispiele, dass der Staat eine Kleiderordnung erlässt und durchsetzt, dass er Kritik an seiner Legitimität verfolgt, dass er (religiösen) Eifer (für die vom Staat aus gesehen falsche Sache) unterdrückt. Letztlich kann der Staat jedoch eine Anerkennung seiner Legitimität nicht aus sich selbst schöpfen; sie ist – wie übrigens auch der Glaube – nicht im eigentlichen (sondern nur im vorgeblichen) Sinne erzwingbar. Denn sobald der Staat die Anerkennung erzwingen muss, zeigt dies an, dass seine Legitimität eben nicht allgemein anerkannt ist und es Widerstand gibt; und dann steigt das Gewaltniveau. Gegebenenfalls kommt es zu einem Durchgangsstadium des Bürgerkriegs. An dessen Ende steht, egal welche Seite siegt und den Staat dann bestimmt, die Friedhofsruhe. Diese als Erfolg der »Befriedung« vom Leviathan ausgeben zu wollen, wäre ein starkes Stück. Und sicherlich ist es kein »langer« und schon gar nicht ein »neuer Frieden« wie Pinker ihn beschwört.[8]

Als Beispiele haben wir etwa die Friedenszeit unter Kaiser Augustus, die im Wesentlichen auf der Wahrnehmungsverzerrung durch die »Verharmlosung«[9] des vorangegangenen Bürgerkriegs basiert sowie auf der Behauptung, die kriegerischen Eroberungen seien defensive Grenzsicherungen und Gegner, die sich aufgrund von militärischen Drohgebärden unterwarfen, freiwillige Bündnispartner. Dass Augustus sich mit der großen Zahl an Gladiatorenspielen brüstete, die er in seiner Regierungszeit veranstaltete, sei nur am Rande vermerkt; dies stellte sicherlich kein Beitrag zur Reduktion des Gewaltniveaus dar. Der Friede des Augustus, die vielbeschworene »pax romana«, war brüchig und bald brachen tatsächlich auch wieder offensichtliche Kriege im Inneren und Äußeren aus.

Uns näher liegen die Beispiele des amerikanischen Bürgerkriegs und der russischen Revolution. Der amerikanische Bürgerkrieg, dessen Anlass, aber nicht dessen Ursache die Sklavenfrage war,[10] hinterließ nach der Strategie der verbrannten Erde, die die Union gegen die Konföderation anwandte, und nach der Besatzungspolitik der Sieger (euphemistisch als »Reconstruction« bezeichnet, Wiederaufbau) einen Süden, der auf Jahrzehnte die Legitimität der Zentralregierung in Washington nicht anerkannte. Darauf führt Pinker vor allem die auch heute noch zu beobachtende höhere Mordrate im Süden zurück.[11]

Der der russischen Revolution von 1917 folgende Bürgerkrieg bis in die 1920er Jahre, der Holodomor gegen die widerspenstige Ukraine während der frühen 1930er Jahre sowie die stalinistischen Säuberungen Mitte der 1930er Jahre schüchterten die Bevölkerung dermaßen ein, dass keine weiteren großen Widerstandshandlungen erfolgten und dementsprechend die Staatsgewalt sich weitgehend mit Drohgebärden begnügen konnte. Dies eine Senkung des Gewaltniveaus vermittels des Leviathans zu nennen, wäre zynisch.

Der An-Lushan-Aufstand[12] im China des achten Jahrhunderts wurde niedergeschlagen, führte aber nicht zu einer stabilen Lage, sondern zu Jahrhunderte andauernden kriegerischen Querelen.[13] An Lushan und sein Nachfolger Shi Siming waren wohlgemerkt wie Lenin, Trotzki und Stalin keine Anarchisten, sondern strebten die Eroberung der politischen Macht an: Sie delegitimierten die jeweils bestehenden Ausprägung der Herschaft, nicht das Prinzip des Leviathan.

Nachdem in China die Ming-Dynastie Mitte des 13. Jahrhunderts durch einen Bauernaufstand gegen die mongolische Fremdherrschaft an die Macht gekommen war, überzogen die Kaiser das Land in einem bis dahin unbekannten Ausmaß mit einem Netz von Geheimdiensten und trieben die Bauern durch Privilegierung der Feudalherrn in Armut und Not. Mitte des 17. Jahrhunderts geriet die Ming-Dynastie dann durch einen erneuten Bauernaufstand ins Wanken. Ihr Sturz forderte einen Blutzoll, der es ebenfalls in Pinkers Liste der 21 schlimmsten Dinge geschafft hat.[14] Das Ende der auf die Ming-Dynastie folgenden Qing-Dynastie läutete der Taiping-Aufstand ein, ausgelöst Mitte des 19. Jahrhunderts durch eine religiös-sozialistische Erweckungsbewegung mit christlichem Hintergrund. Auch die Niederschlagung dieses Aufstands war begleitet von Gewalt in apokalyptischem Ausmaß.[15]

Der Leviathan, wenn seine Gewalt über längere Zeit die strukturelle Form von Drohgebärde und Angst angenommen hat, taumelt früher oder später regelmäßig wieder in die unmittelbar körperlich ausgeübte Gewalt. Rahim Taghizadegan spricht von einem »Konjunkturzyklus« der Gewalt und nennt das, was ich als »Widerstand« bezeichne, schlicht einen »Bereinigungs-« oder »Korrekturprozess«: »Die Illusion läutet eine Phase scheinbarer Stabilität ein, die sogar als besonders friedvoll und gewaltfrei erscheint. Das ist gewissermaßen die Drohungshochkonjunktur. […] Durch die Gewaltzyklustheorie kann […] das Paradoxon der oft langanhaltenden scheinbaren Friedlichkeit von Zwangsherrschaft erklärt werden. Dies taucht die Frage, weshalb offene Gewalt unter Menschen in den letzten Jahrhunderten abgenommen hat, in ein neues Licht. […] Analog zu den hohen Bereinigungskosten wirtschaftlicher Rezessionen, die meist starkes Ansteigen der Arbeitslosenzahlen und Unternehmensbankrotte zeigen […], ist die Rezession aber ein Korrekturprozess, dessen negative Folgen nur eine Aufdeckung der in der Phase des Booms aufgestauten Diskrepanz zwischen wirtschaftlichem Handeln und wirtschaftlicher Realität darstellen.[16] Hobbes sieht die Angst vor Gewalt als einzige Möglichkeit der Befriedung und übersieht damit katallaktische Alternativen, dass Menschen also durchaus gegenläufige Ziele auf friedlichem Wege erreichen können, ohne sich zu schaden.«[17]

Um die These von Thomas Pinker, Bruce Knauft und all den anderen Hobbesianern – eine initiale Gewaltreduktion ergebe sich allein schon durch die Existenz einer Regierung[18] als solcher – auf den Prüfstand zu heben, eignet sich die Gründung des Zulureichs durch Shaka: Anders als über andere Staatsentstehungen, die in mythisches Dunkel getaucht sind, wissen wir über sie ziemlich viel. Durch Mord an einem seiner Halbbrüder, der die Nachfolger seines Vaters als Häuptling angetreten hatte, bemächtigt sich Shaka 1816 des kleinen Zulustammes von weniger als zweitausend Mitgliedern. Dieser Anfang bereits ist in zweifacher Weise charakteristisch. Als illegitimer, mit seiner exogamen Mutter im Exil aufgewachsener Sohn hat Shaka erstens weniger verwandtschaftliche Bindungen im Stamm der Zulu selbst. Und zweitens steht Geschwister- oder Elternmord auch mythisch gesehen immer am Anfang von Herrschaftsentwicklung. Herrschaft muss zunächst die verwandtschaftliche Solidarität überwinden, so wie die Thora es in der Erzählung vom Tanz um das goldene Kalb deutlich ausdrückt.[19] Shakas kriegerische Entwicklung wurde im Exil gefördert von Dingiswayo, dem Häuptling der Mthethwa. Die Zulu waren den Mthethwa tributpflichtig. Dingiswayo gelangte wie später Shaka durch Brudermord an die Spitze des Stammes, nachdem er ebenso wie Shaka über mehrere Jahr im Exil verbracht hatte. Im Exil eignete Dingiswayo sich Kenntnisse von Kriegstechniken der Kolonialmächte an. Bei der Gründung des Zulureichs handelt es sich also sicherlich nicht um eine primäre Staatsentstehung. Die Stämme waren seit Jahrhunderten dem Druck der Kolonialmächte ausgesetzt, und es kam zu frühfeudalistischen und protostaatlichen Entwicklungen unter den Stämmen, die vielfältige Möglichkeiten zur »internen Eroberung« vorbereiteten. Shaka beginnt seine Amtszeit mit brutaler Gewalt nach innen und nach außen. An die Stelle der ritualisierten Kämpfe mit möglichst wenigen Todesopfern, wie sie unter den Stämmen üblich waren, setzt er den unerbittlichen Kampf, die Unterwerfung des Gegners. Wer sich nicht unterwirft, wird getötet. Bei Familien, Clans, Stämmen, die sich unterwerfen, lässt er die Männer, die Konkurrenten sein und Träger von Widerstand werden könnten, töten, Frauen und Kinder werden dagegen in den Stamm der Zulus aufgenommen. Das Territorium der Zulus schwillt an; ebenso die Zahl der Zulus, bis das Staatsvolk 1827 rund 250.000 Mitglieder zählt. Doch dann stirbt Shakas Mutter und Shaka ordnet Trauer an. Wer nicht »genug« trauert, wird getötet. Die schaurigen Einzelheiten seien hier erspart. 7.000 Menschen fallen der Trauer zum Opfer, bevor ein Leibwächter und zwei Halbbrüder von Shaka sich erbarmen, ihn nach einem Jahr des Wütens töten und die Zulus von dem Tyrannen befreien. Immer wieder ist auch heute noch zu lesen, Shaka sei »ermordet« worden. Die Nachfolger von Shaka gebärdeten sich nicht so blutig wie er. Sollen wir das einem Prozess der Zivilisierung zuschreiben? Oder der Tatsache, dass ein derart eingeschüchtertes und ausgeblutetes Volk wohl kaum noch in der Lage ist, Widerstand zu leisten?

Um zur Mordrate zu gelangen, mit der Bruce Knauft und Steven Pinker das Gewaltniveau weltweit und über die Zeiten vergleichbar zu machen trachten, teilen wir die 7.000 Opfer durch 2,5 und erhalten dann den Wert pro 100.000 Einwohnern. 2.800. Dagegen nehmen sich die von Knauft beschworenen hohen Werte bei den Gebusi von Neuguinea, 683 in der Zeit von 1940 bis 1962 bzw. 419 in der Zeit von 1963 bis 1982, eher bescheiden aus. Die San !Kung, die Shaka nicht unterwerfen kann, weil sie sich durch Flucht entziehen, sind auf der Skala mit dem Wert von 41,9 (1920 bis 1955) nun kaum noch auszumachen. Dass die Werte, die Knauft (und Pinker vermittels ihm) für die Gebusi und San !Kung behauptet, problematisch sind, ebenso wie der in der Grafik zum Vergleich gesetzte Knauft-Pinker-Wert für die Semai (Malaysia) von 30,3 (1955 bis 1977), habe ich schon ausführlich diskutiert.[20] Wohlgemerkt: In diese Rechnung geht nicht, ein, dass es auch unter den Zulu trotz des entstandenen Leviathans weiterhin auch Tote durch private Streitigkeiten oder durch Niedertracht geben konnte. Ebensowenig sind die Kriegstoten eingerechnet.

Die traurige Geschichte von Shaka verdeutlicht die Gefahr des Leviathan: Das Wüten eines einzelnen Potentaten kann um sich greifen; ein Widerstand setzt, wenn überhaupt, erst sehr spät ein, viel später als in prä-staatlichen Sozialstrukturen. Auch die Behauptung, die Entstehung der Staaten sei gerade auch dann funktional unumgänglich, wenn die Kolonialisierung drohe, weil anders kein Widerstand zu leisten sei, bewahrheitet sich nicht am durch Shaka aus Blut und Tränen geformten Zulureich. Shaka selbst focht keinen Krieg mit dem Kolonialmächten aus, aber 1879 griffen Truppen der britischen Krone an und unterwarfen das Zulureich nach kaum mehr als einem halben Jahrhundert seines Bestehens. Also auch in dieser Hinsicht hat sich der Blutzoll, den der Leviathan forderte, nicht »gelohnt«.

Als weiteren Testfall will ich die Konflikte zwischen weißen Siedlern und Indianern Nordamerikas in den Zeugenstand rufen. Dass die Grenzer und Pioniere ihre Konflikte mit den Indianern während der Zeit des schwachen Staats nach der amerikanischen Revolution 1776 per Vertrag lösten, während der wiedererstarkte Staat nach dem Bürgerkrieg 1861-1863 Krieg einsetzte, habe ich schon dargestellt.[21] Werfen wir nun einen Blick auf die Opfer. In der Zeitspanne 1775 bis 1890 starben in kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Indianern und den USA deutlich mehr als viermal so viele Menschen wie in individuellen Konflikten. Zwar fielen den individuellen Konflikten auch mehr Indianer als Weiße zum Opfer und zwar im Verhältnis 1,0:1,7, aber das Verhältnis verschlechterte sich zuungunsten der Indianer bei Leviathans Kriegen zu 1,0:3,2.[22] Und hierbei sind nur die direkten Kriegsopfer gezählt, nicht die Opfer der Umsiedlungen und Einweisungen in Reservate.

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Eine gradlinige Abnahme von Gewalt gibt es wohl nicht, weder ausgehend vom ersten Entstehen von Staaten noch in den folgenden Jahrhunderten. Ohne Quantifizierung schätzt Martin Zimmermann: »Die allgemeine Gewaltbereitschaft im antiken Alltag war zweifellos höher als die in der Gegenwart, auch wenn sie nicht das Ausmaß spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Gewalt erreichte.«[23]

Der von Zimmermann in dieser Einschätzung ausgesparte Zeitraum ist der des »dunklen« Mittelalters. Ich setze jedoch noch früher an, nämlich bei der Ambivalenz des Einflusses, den das Christentum ab seiner Inthronisierung als Staatsreligion ausgeübt hat. Das Christentum zügelte die Exzesse der Gewalt, die sich die römischen Kaiser als weitgehend über dem Gesetz stehend erlaubten, indem es sie der göttlichen Moral unterstellte, zugleich bekräftigte es gegen die Lehren dessen, auf den es sich berief, die Notwendigkeit und Heilswirkung des Kriegs.[24] Im Alltag führte es neue Formen der Delikte ein, Delikte gegen die Religion und gegen die Sittlichkeit. Dies stellten Delikte dar, die es ohne Kläger zu ahnden galt und deren Ahndung nicht in der Wiedergutmachung des dem Opfer zugefügten Schadens bestehen konnte: Das sollte die Geburtsstunde des »öffentlichen Rechts« werden, oder, vom prä-staatlichen Rechtsstandpunkt aus gesehen, des öffentlichen Unrechts, des Staatsrechts, des Staatsanwalts, dessen, was man später das geschriebene Recht und das »ius romanum« oder »ius scriptum« nannte. Das römische Recht war, entgegen seinem Ruf, ursprünglich und für lange Zeit, »nur in geringem Umfang Gesetzesrecht gewesen, sondern im wesentliche Juristenrecht«, wie Uwe Wesel darstellt: Römisches Recht blieb »Privatrecht«, das auf Eigentum, Vertrag und Delikt beruht.[25] Jemand, der sich geschädigt sieht, ruft einen Richter an, vor dem der Fall verhandelt wird. Auch Tötung sieht es als Schädigung an, und zwar als Schädigung der Hinterbliebenen.[26] Das Instrument der Rechtsherstellung ist die Ausgleichszahlung oder das Bußgeld, das den Geschädigten zugute kommt und nicht an die Staatskasse ausgehändigt werden muss; alle prä-staatlichen Rechtsvorstellungen kennzeichnet diese Vorstellung und lange lebt sie weiter im extra- und sub-staatlichen Rechtsverständnis. Gefängnisstrafen gibt es nicht; Gefangennahme dient nur der Vorbeugung gegen Fluchtgefahr. Auch Verstümmelungs- und andere Körperstrafen sind dem römischen Recht zunächst eher fremd. Vor allem mit und ab der Kaiserzeit wurden die Strafen härter. In politischen Auseinandersetzungen entstand das Instrument der Folter.

Das Christentum dagegen brauchte Strafbestimmungen für opferlose »Verbrechen« wie Verstöße gegen die religiösen Regeln, aber auch Homosexualität und andere sexuelle »Unzuchtsdelikte«. Diese Delikte, bestraft teilweise mit dem Feuertod, wurden den Gesetzessammlungen der spätrömischen Kaiser (wie dem Codex Theodosianus 438 oder der Kodifikation von Justinian 528-534) einverleibt.

Nach dem Zusammenbruch des weströmischen Reichs besteht der rechtliche Doppelstatus fort. Das Stammesrecht, das nur bei Klageerhebung des Geschädigten in Aktion tritt, das mit dem Instrument der Ausgleichzahlung (zum Beispiel dem »Wergeld«) arbeitet und das Urteile vom Richter-Schlichter-Mediator »finden« lässt und nicht etwa aus Gesetzen ableitet, tritt an die Stelle des alten römischen Privatrechts, während als »römisches« das geschriebene Gesetz gilt, das sich schnell mit dem »kanonischen« der Kirche verbindet. Uwe Wesel nennt die Entwicklung weg vom Privat- hin zum Strafrecht zwar eine »Verbesserung« und einen »Fortschritt«, muss allerdings zugeben, dass es einer ist »mit grausigen Folgen«,[27] zu denen er etwa die Ketzerprozesse zählt. Die im späten Mittelalter und in früher Neuzeit sich beschleunigende Verstaatlichung des römischen kasuistischen Fallrechts, des germanischen Stammesrechts sowie des englischen »common law« hat zwei »grausige Folgen«, die die Rechtssicherheit senken und das Gewaltniveau anheben – an die Stelle des Opferschutzes und der Versorgung der Opfer tritt nun eine vom Opfer losgelöste Bestrafung, die zunehmend zur Bestrafung des Körpers und am Körper wird,[28] und Bestrafung wird dann letztlich vollständig abgelöst von der Tatsache, dass es überhaupt ein Opfer gibt. Aus Recht wird Gesetz, das Wachs ist in den Händen des Leviathans. Jetzt erst, nach 700 Jahren, wurde von kirchlichen und staatlichen Gerichten die Folter wiederentdeckt.[29] Nicht die »Zunahme der Kriminalität, die man [besonders in Westeuropa] seit dem 13. Jahrhundert feststellen kann«, erklärt die »Blutrünstigkeit der Strafen«,[30] sondern umgekehrt, die Blutrünstigkeit und vom Recht losgelösten Strafen erklären die Zunahme der Kriminalität. Oft erschienen Richter und Geschworenen die Strafen als zu hart und unangemessen und man sprach Angeklagte frei, auch wenn sie offensichtlich schuldig waren.[31] Aber der Weg in die »Barbarei« ist nicht aufzuhalten, die Strafen werden schlimmer, die Kataloge der Delikte länger, »immer mehr abweichendes Verhalten wurde bestraft«,[32] die »Barbarei«, die nicht den wirklichen Barbaren, sondern der »zivilisierenden« Wirkung des Leviathans zuzuschreiben ist. Doch dann, sagt Uwe Wesel genauso schwammig wie es Steven Pinker eigen ist, ist dieses Strafrecht »im Laufe der Zeit milder geworden, ohne Änderung des Rechts, einfach so in der Praxis der Gerichte, die damals [gegen Ende der frühen Neuzeit] einen sehr viel größeren Spielraum hatten als heute. Der Zeitgeist wurde menschlicher, auch der von Juristen.«[33]

Ist es demzufolge nicht der Leviathan, der zivilisiert, der die Gewalt reduziert, der die Gesetze ändert und mildert, sondern der »Zeitgeist«? Was sind Faktoren der Zivilisierung?

Schauen wir unter dieser Fragestellung noch einmal genau nach, was Steven Pinker zu den Faktoren der Zivilisierung zu sagen hat. Unter seinen Aussagen finden sich erstaunliche. Bei der Diskussion um den Rückgang der Gewalt in den USA während der 1990er Jahre nach dem Anstieg in den 1960er Jahren – den Pinker, wie wir uns erinnern, der »Anarchie«,[34] der »Selbstverstümmelung« des Leviathan sowie der Kritik von Paul Goodman und Herbert Marcuse,[35] der unter anderem von Thomas Szasz, Ronald D. Laing und Michel Foucault inspirierten Anti-Psychiatrie-Bewegung,[36] der Informalisierung von Kleidung und Sprache[37] zuschreibt – führt er, wenig überraschend als wichtigen Punkt die Wiederaufrüstung des Leviathans an: die »Aufblähung des Polizeiapparats« unter Bill Clinton[38] sowie die Erhöhung der Zahl der Gefängnisinsassen auf »die höchste Häftlingsquote der Welt«.[39] Ob nun Abschreckung funktioniert oder nicht, ist allerdings hier gar nicht die Frage. Denn offensichtlich gehört Abschreckung nicht zu den Instrumenten der Zivilisierung. Wer abgeschreckt werden muss, hat den Impuls zur Übertretung einer Norm, er ist Barbar, der sich gebärdet wie ein Zivilisierter, ohne es zu sein. Und dann, bam!, die Überraschung: Auch der allerdings schon von Richard Nixon 1971 erklärte Krieg gegen die Drogen (bekräftigt von Ronald Reagan 1981), »durch den schon der Besitz kleiner Mengen von Kokain und anderer Betäubungsmittel zum Verbrechen erklärt wurde«,[40] spiele eine Rolle bei der Senkung der Kriminalität in den USA während der 1990er Jahre. Die Begründung, die Pinker liefert, ist ziemlich schwach: »Durch eine Strategie, mit der Drogenkonsumenten und andere Kleinkriminelle aus dem Verkehr gezogen werden, geht als ›Beifang‹ auch eine gewisse Zahl von Gewalttätern ins Netz, womit die Reihe derer, die Gewalttaten begehen und auf den Straßen verbleiben, weiter ausgedünnt werden.«[41] Nun macht selbstredend erst die Kriminalisierung von Drogenkonsumenten und -händlern diese zu Kriminellen. Sie macht sie nicht nur zu Kriminellen, sondern sie intensiviert auch die Gewaltbereitschaft im Verhalten, es kommt zu Beschaffungskriminalität. Da sowohl Konsumenten als auch Händler sowieso sich strafbar machen, sinkt die Hemmschwelle, weitere Delikte zu begehen und womöglich Gewalt zur Konfliktlösung einzusetzen. Außerdem nimmt die Rechtssicherheit ab, da die Option, die Polizei zu rufen, mit der Gefahr verbunden ist, selbst verhaftet, angeklagt und ins Gefängnis gesteckt zu werden. Der illegale Handel führt zur Bildung krimineller Banden. Wenn dann unter dem »Beifang« von den wegen Drogendelikten Verhafteten und Verurteilten solche sich befinden sollten, die auch ohne Kriminalisierung der Drogen Gewalttaten begehen würden (etwas, das nahezu unmöglich ist zu verifizieren), so handelt es sich um Zufallstreffer, die sich bei der Kriminalisierung einer jeden anderen Bevölkerungsgruppe – egal ob die Definition »Personen mit dem Vornamen Steven«, »Juden«, »Neger«, »Rednecks«, »rothaarige Frauen«, »Homosexuelle«, »Klimaleugner« oder wie auch immer lautet – ebenso ergeben würden. Umgekehrt zeigt sich, dass durch die Entkriminalisierung Drogen das Gewaltniveau sich senken lässt.[42]

Zurück zur Geschichte. »Leider besteht zwischen dem Zivilisationsprozess und der Humanitären Revolution kein enger zeitlicher Zusammenhang, der nahelegen würde, dass einer den[43] anderen verursacht hätte. Die Stärkung von Regierungen und Handel bei gleichzeitigem[44] Rückgang der Morde, die den Zivilisationsprozess vorangetrieben haben, waren bereits seit mehreren Jahrhunderten im Gange, ohne dass irgendjemand sich um barbarische Bestrafungen, die Macht der Könige oder die gewaltsame Unterdrückung der Ketzerei besondere Sorgen gemacht hätte. Als die Staaten an Macht gewannen, wurden sie sogar noch grausamer. Die Folter zum erpressen von Geständnissen (und nicht als Bestrafung) wurde beispielsweise im Mittelalter[45] wieder eingeführt, als viele[46] Staaten das römische Recht neu belebten. Für die Verstärkung der humanitären Empfindungen im 17. und 18. Jahrhundert muss es also andere Ursachen geben.«[47] Dem Mann kann geholfen werden.

»Stärkung der Regierungen«, »Handel« und »Rückgang der Morde« zählt Pinker als gleichrangige und vermutlich in die gleiche Richtung wirkende Ursachen des Zivilisierungsprozesses auf. Aber: Sollte nicht der Rückgang der Morde umgekehrt Folge des Zivilisierungsprozesses sein und der Zivilisierungsprozess laut Leviathan-Theorie Folge der Stärkung der Regierungen? Aber nein, »als die Staaten an Macht gewannen, wurden sie sogar noch grausamer.« Was besagt das über die Leviathan-Theorie? Die Begrenzung der Macht des Leviathans zur Grausamkeit scheint demnach nicht aus dem Anwachsen der Staatsmacht »als solcher«[48] resultieren zu können. Die Begrenzung muss dem Leviathan abgerungen werden – durch Widerstand, durch Delegitimierung seiner unbegrenzten Macht. In der »humanitären Revolution« machten »prominente Autoren nun ebenfalls gegen sadistische Bestrafungen mobil. […] Viele […] appellierten […] an das gemeinsame Menschsein von Lesern und den Leuten, die Ziel von Bestrafungen waren. […] [Laut Cesare Beccaria sollte] eine Bestrafung proportional zu dem durch das Verbrechen angerichteten Schaden sein. […] [Die Todesstrafe sollte] nicht zu den Kompetenzen gehören […], die man einem Staat zugesteht.«[49] Die Zivilisierung ergibt sich nicht aus dem Staat und seinem Prinzip heraus, heißt das, sondern aus einer gesellschaftlichen Delegitimierung seiner Gewalt, man gesteht ihm nicht mehr alles zu und führt das Recht zurück auf das prä-staatliche Prinzip der Proportionalität.

Einen möglicherweise zentralen Faktor der Zivilisierung zu benennen, hat Pinker sich vergeben, weil er ihn zwischen der »Stärkung der Regierung« und dem »Rückgang der Morde« eingeklemmt hat: den Handel. Der Handel geht nicht mit der Stärkung der Regierung (oder dem Machtzuwachs des Staats) einher, sondern er ist der Regierung, dem Staat, der Herrschaft entgegengesetzt. Die Bourgeoisie entwickelt sich zu einer eigenständigen Macht neben oder vielfach auch explizit gegen Kirche und Staat. Extra-staatlich und sub-staatlich entwickelt sich ein dem Handel angemessenes Recht. Die Hanse etwa wird zu einem Modell, wie ohne Staat komplexe Handelsbeziehungen über weite Entfernungen sich selbst regulieren und auch zu schützen vermögen. Andererseits geraten mächtige Fürsten und Könige, fortwährend in Geldschwierigkeiten, in die Fänge reicher Kaufleute, die die Staatsgewalt zuerst alimentieren und dann in ihrem Sinne modellieren. Im Handel und durch den Handel werden die alten, prä-staatlichen Rechtsgrundsätze wieder lebendig und auf ein höheres Entwicklungs- und Komplexitätsniveau gehoben, Eigentum, Freiwilligkeit (Gegenseitigkeit) und Opferschutz.[50] In der Folgezeit gibt sich die Bourgeoisie mit dem Liberalismus zudem eine Theorie, die ihr Handeln in einen auch politischen Zusammenhang stellt und von der Politik vor allem eins fordert, nämlich die Staatsgewalt so klein wie nur irgend möglich zu halten. Diese Theorie bestimmt einen evolutionären Prozess in England, in Nordamerika gelingt ihr mit einer Revolution ein grandioser Sieg, die Revolution in Frankreich läuft gründlich aus dem Ruder, aber nachdem Napoleon den Kontinent verwüstet hat, realisiert das konservative Preußen aus Eigenschutz Teile des liberalen Programms und der Staat beschränkt sich hier in einem historisch nahezu einmaligen Akt selber. Der von Pinker angehimmelte Thomas Hobbes jedoch steht auf der anderen Seite, der Seite der unumschränkten und nicht einschränkbaren Staatsgewalt. Darum lesen wir bei Pinker auch nichts vom klassischen liberalen Programm.[51] Lieber hält er sich an die etatistische Karikatur dieses Programms, die in den USA mit dem Begriff »liberals« heute verbunden wird.

Und was ist mit dem Christentum? Steven Pinker erklärt sich zum Atheisten und hält wenig von Religion, sodass das Christentum als zivilisierender Faktor bei ihm nicht vorkommt. Weiter oben habe ich in der Tat dargestellt, wie das Christentum ab seiner Rolle als Staatsreligion der spätrömischen Reichs eine rechtsverletzende Rolle spielte. Dennoch gibt es auch die andere Seite des Christentums, seine Rolle war und bleibt ambivalent. Da gilt es, den Aufruf zu Feindesliebe und Vergebung, zum Nichtrichten und Nichtkämpfen zu beachten. Das brachte die Herrschenden auch der Kirche immer wieder in Erklärungsnot und diente vielen Christen zum Anreiz, der Staatsgewalt Widerstand entgegen zu setzen. Die Kirche brachte sich oft und über lange Zeit in Konkurrenz zum Staat und bot Rebellen ebenso wie Kriminellen Asyl. Sie ließ die Herrschenden einschließlich ihrer Justiz nicht schalten und walten, wie sie wollten.

Einen wichtigen Beitrag zum Zivilisierungsprozess hat darüber hinaus eine spezielle Eigenart der christlichen Religion geleistet. Ihre Grundlagen bezieht sie aus der jüdischen Thora, geschrieben in Hebräisch. Ihr Messias sprach Aramäisch. Das Buch über sein Leben und Wirken ist in Griechisch geschrieben. Durchgesetzt hat sich das Christentum unter Römern und Germanen. Diese sprachliche und kulturelle Vielgestaltigkeit zwang das Christentum von Anfang an, über Sprache und kulturelle Differenzen nachzudenken, darüber nachzudenken, was eine Aussage in ihrem jeweiligen kulturellen, sprachlichen und geschichtlichen Kontext bedeutet. Von Anfang an war Interpretation verlangt, Buchstabentreue half nicht weiter. Zudem wuchs das Christentum auf in der hellenistischen Welt, die über eine lange Tradition der Philosophie verfügte. Für die wichtigsten Kirchenväter stellte es die Herausforderung dar, das Christentum auch in dieser Hinsicht diskursfähig und für die intellektuelle Schicht attraktiv zu halten. Mit reiner Innerlichkeit, Frömmigkeit, Geistesarmut, Gottgläubigkeit und Autoritätshörigkeit war es nicht getan. Abergläubigkeit musste auf den Prüfstand erhoben werden. Ratio, Logik und Argumentation wollten bedacht sein. Insofern entwuchs die Aufklärung mit all ihrer Kritik an dem seinerseits abergläubisch und autoritätshörig gewordenen Christentum ihrerseits aus der christlichen Tradition.

Zu guter oder schlechter Letzt in dieser Akte noch ein Statement von Steven Pinker, das nach meinem Dafürhalten eine arge Zumutung ist: »Ganz ähnlich wie heute das Rauchen, das in Büros und Seminarräumen allgemein üblich war, dann verboten wurde und mittlerweile undenkbar ist, so werden auch Praktiken wie Sklaverei und öffentliche Hinrichtungen spätestens dann, wenn kein lebender Mensch sich mehr an sie erinnern kann, absolut unvorstellbar, so dass sie niemand mehr zur Diskussion stellt.«[52]

Als arge Zumutung empfinde ich es, das Nichtrauchen in Büros und Seminarräumen gleichzusetzen mit der Überwindung von Sklaverei und öffentlichen Hinrichtungen. Aber was sollen wir von einem Theoretiker erwarten, der die Zunahme von Gewalt mit der Tatsache verbindet, dass die Männer keine Anzüge mehr tragen und dass die Menschen sich mit dem Vornamen anreden? Dennoch gibt es auch im hier zitierten Statement einen doppelten Boden. Martin Zimmermann, mit dem ich diese Akte eröffnet habe, stellt es genau andersherum dar: Die Menschen sind so »barbarisch« wie eh und je, aber der »Gesetzgeber« hindere sie daran, ihre Gewaltfantasien auszuleben. Bei Pinker hingegen ist der Zivilisierungsprozess eben trotz seiner anderslautenden Beteuerungen keiner, den der Leviathan initiiert. Immer wieder deutet er selber an, dass es umgekehrt ein gesellschaftlicher Prozess sei, der den Leviathan die Zügel anlegt. Auch beim Rauchen dachte der Leviathan aus eigener Herrlichkeit daran, es einzuschränken. Vielmehr waren es in den 1970er Jahren vor allem Frauen, wie ich mich gut erinnern kann, die, sobald sie einen öffentlichen oder privaten verqualmten Raum betraten, die Fenster aufrissen, ob’s sonnte oder ob’s schneite, und einen »Beschluss« herbeiführten, nur in den Pausen »möglichst draußen« zu rauchen. Die zunehmende Verstaatlichung der Antiraucher-Bewegung ab der zweiten Hälfte der 1980er Jahre wurde dann zu einem Lehrstück in Etatismus, gab Einblick in die Wirkungsweise des Leviathans: An die Stelle von freiwilligen Übereinkommen werden Verbote gesetzt. Der Staat stellt sich der idealtypischen Mehrheit, mithin den meinungsbestimmenden Kräften in der Gesellschaft zur Verfügung als dasjenige Mittel, welches ihre Wünsche und Interessen per Gewalt durchsetzt. Je mehr Interessengruppen sich an diesem scheinfriedlichen, strukturelle Gewalt inthronisierenden Run auf Privilegien beteiligen, um so mehr schwinden Freiheit und Selbstbestimmung. Der soziale Frieden wird erkauft mit Unterdrückung des Individuums und seiner freiwilligen Gruppenzugehörigkeiten und Kooperationsbestrebungen, die von Akzeptanz, Gegenseitigkeit und Vertrag gekennzeichnet sind; das ist die »Drohungshochkonjunktur«, um mit Rahim Taghizadegan zu sprechen.[53] Der nächste »Gewaltzyklus« macht sich auf den Weg. Zivilisierung verkehrt. Die Alternative wäre die neue Anarchie, das Thema der Schlussakte.

[1] Manches Mal geht, wie bei Pinker, die Frage nach Widerstand, die Frage nach Recht, die Frage nach Offensive und Defensive verloren (etwa in seiner Charakterisierung der !Kung als »kriegerisch«, wenn sie sich gegen Kolonialmächte und Angriffe benachbarter Stämme verteidigen; Pinker, S. 100). Oder in den Daten, die Bruce Knauft für die Gebusi und ihre hohe Homizidrate präsentiert, befinden sich auch Opfer von Angriffen aus den Reihen der benachbarten Bedamini (Violence Reduction Among the Gebusi of Papua New Guinea, in: Robert W. Sussman, C. Robert Cloninger [Hg.], Origins of Altruism and Cooperation, New York 2011, S. 208).

[2] Martin Zimmermann, Gewalt: Die dunkle Seite der Antike, München 2013, S. 340f.

[3] Pinker, S. 800.

[4] Pinker, S. 174f.

[5] Pinker, S. 53f.

[6] Vor allem in dem Kapitel »Die Revolution der Rechte«.

[7] Pinker, S. 224.

[8] Pinker, Kapitel 5 resp. 6.

[9] Martin Zimmermann, Gewalt: Die dunkle Seite der Antike, München 2013, S. 304.

[10] Vgl. Charles Adams, When in the Course of Human Events: Arguing the Case for Southern Secession, Lanham 2000. Ursache des us-amerikanischen Bürgerkriegs 1861-1865 war die steuerliche Ausbeutung des Südens durch den Norden (80% des Staatshaushaltes der USA wurden im Süden erwirtschaftet, aber im Norden verausgabt) in Kombination mit dem durch die anti-europäische Schutzzollpolitik zum Wohle der nordstaatlichen Industrie heraufbeschworenen Preisanstieg für importierte Güter und mit der Gefahr, dass die südstaatlichen Exporte in Europa in Reaktion auf die us-amerikanischen Zölle ebenfalls einem Schutzzoll unterworfen werden.

[11] Pinker, S. 151ff.

[12] Vgl. Akte 6.

[13] Ähnliche Prozesse sehen wir heute im Irak, in Libyen und in Syrien am Werk. Wer wollte behaupten, die Probleme seien daraus entstanden, dass die legitimen, weisen und vor allem gewaltlosen Leviathane Saddam Hussein, Muammar Gaddafi und Beschar Assad in Frage gestellt wurden? Wer wollte den Menschen in Syrien den Rat geben, um Frieden zu kriegen, sollten sie sich einem Regime der Art von Saudi Arabien unterwerfen? Wer sollte im Frieden, der in Iran herrscht, etwas anderes als Friedhofsruhe sehen?

[14] Pinker, S. 298; Rang 5 nach realen, Rang 4 nach hochgerechneten fiktiven Opfern.

[15] Pinker, S. 298; Rang 6 nach realen, Rang 10 nach hochgerechneten fiktiven Opfern.

[16] Laut der Konkunkturzyklen-Theorie der österreichischen Schule der Ökonomie (Ludwig von Mises, F.A. Hayek, Murray Rothbard).

[17] Rahim Taghizadegan, Gewalt, in: Scholien 01/[20]16, S. 122ff.

[18] Im angloamerikanischen Sprachraum wird immer noch vornehmlich von »government« statt »state« gesprochen (und dann steht »administration« für unser Wort »Regierung«).

[19] Vgl. Akte 6.

[20] Vgl. Akte 3.

[21] Vgl. Akte 3.

[22] Die Angaben zu den Opfern befinden sich in: Russell Thornton, American Indian Holocaust and Survival: A Population History Since 1492 (1987), Oklahoma 1990, S. 48f.

[23] Martin Zimmermann, S. 34. Auch die mehr als ein Jahrtausend umfassende Antike kann nicht als Einheit gesehen werden. Raimund Schulz schreibt etwa (Feldherrn, Krieger und Strategen: Krieg in der Antike von Achill bis Attila, Stuttgart 2012, S. 44): »Natürlich mussten die [griechischen] Poleis viel vorsichtiger und achtsamer mit ihrem Wehrpotential umgehen als die östlichen Monarchien und später Rom – weil es so begrenzt war.« Und: »Welche herausragende Bedeutung der militärische Erfolg für die Elite und die Bürgerschaft [in Rom] besaß, belegen […] einige Verhaltensweisen, die in der girechischen Welt so nicht denbar waren. Dazu gehören neben den Gladiatorenspielen und der spezifischen bildlichen Darstellung des Krieges besonder der Triumph, ein Siegesritual, das weder die griechisch-hellenistische noch die keltisch-germanische Welt kannte« (S. 181f). Auch im Vergleich zwischen Griechenland – wohlgemerkt nur bis hin zu Alexander »dem Großen« – und Rom zeigt sich, dass ein Weniger an ausgeprägter staatlicher Macht weniger Gewalt bedeutet (und umgekehrt).

[24] »Von Beginn an ging es [den Christen] nie darum, den Krieg abzuschaffen und ihn aus der Welt zu verbannen. Kein Kirchenvater zweifelte daran, dass Kriege geführt werden müssen.« Raimund Schulz, Feldherrn, Krieger und Strategen: Krieg in der Antike von Achill bis Attila, Stuttgart 2012, S. 421.

[25] Uwe Wesel, Geschichte des Rechts in Europa, München 2010, S. 49ff.

[26] »Zur Zeit des Zwölftafelgesetzes war selbst die Verfolgung von Mord nur teilweise Aufgabe öffentlicher Gerichte, im Wesentlichen private Aufgabe der Verwandtschaft der Getöteten. Nur in ganz wenigen Fällen gab es öffentliche Strafverfahren mit öffentlicher Vollstreckung, möglicherweise nur bei Landesverrat.« Uwe Wesel, Geschichte des Rechts in Europa, München 2010, S. 87.

[27] Uwe Wesel, Geschichte des Rechts in Europa, München 2010, S. 239ff.

[28] Michel Foucault, Überwachen und Strafen, Frankfurt/M. 1976.

[29] Uwe Wesel, Geschichte des Rechts in Europa, München 2010, S. 282.

[30] Uwe Wesel, Geschichte des Rechts in Europa, München 2010, S. 281.

[31] Uwe Wesel, Geschichte des Rechts in Europa, München 2010, S. 282.

[32] Uwe Wesel, Geschichte des Rechts in Europa, München 2010, S. 350. Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft (1969), Frankfurt/M. 1971. Thomas Szasz, Die Fabrikation des Wahnsinns (1970), Olten 1970.

[33] Uwe Wesel, Geschichte des Rechts in Europa, München 2010, S. 350.

[34] Pinker, S. 188.

[35] Pinker, S. 180.

[36] Pinker, S. 182.

[37] Pinker, S. 174.

[38] Pinker, S. 194.

[39] Pinker, S. 192.

[40] Pinker, S. 192.

[41] Pinker, S. 193.

[42] Eine von vielen Studien: Evelina Gavrilova, Takuma Kamada und Floris Zoutman, Is Legal Pot Crippling Mexican Drug Trafficking Organizations? The Effect of Medical Marijuana Laws on US Crime (27. Dezember, 2014). Verfügbar über: http://ssrn.com/abstract=2350101.

[43] »that one caused the other« – »dass einer den anderen verursacht hätte«: So geht das im Deutschen nicht. Der Prozess. Die Revolution.

[44] Im Original ist es eine schlichte Aufzählung: »The rise of government and commerce and the plummeting of homicide, that propelled the Civilizing Process has been under way …«.

[45] unabhängig davon, wo die Zeitenwende angesetzt wird, ist es sicherlich klarer, hier von früher Neuzeit zu sprechen.

[46] Auch dies ist eine salvatorische Klausel des Übersetzers. Im Original: »as states became more powerful …«.

[47] Pinker, S. 263.

[48] Pinker, S. 800.

[49] Pinker, S. 230f.

[50] Vgl. Akte 8 (und Akte 5).

[51] Zwar gesteht Pinker »einen eindeutigen friedensstiftenden Effekt kapitalistischer Variablen« (S. 431) zu, sieht jedoch überhaupt nicht, dass der Kapitalismus vor allem gegen den Leviathan steht.

[52] Pinker, S. 261.

[53] Rahim Taghizadegan, Gewalt, in: Scholien 01/[20]16. S. 122ff.