von Stefan Blankertz
Inhalt
Zur Einstimmung: Kritik der »Lügenpresse«
»Verschwörungstheorie« als Begriff der Stigmatisierung
»Verschwörungstheorie« als schlechte Geschichtsphilosophie
Beispiel 1: »Protokolle der Weisen von Zion«
Beispiel 2: Trump und »Deep State«
Beispiel 3: »Phoebus-Kartell«
Beispiel 4: Lewin, Adorno und Tavistock
Typologie der Verschwörungstheorien
Beschluss
Zur Einstimmung: Kritik der »Lügenpresse«
Der Begriff der »Lügenpresse« könnte falscher nicht sein. Weder lügt die Presse die Bevölkerung an, noch lässt sich die Bevölkerung belügen. Die Journalisten schreiben und die Kommentatoren sprechen in Wahrheit der Mehrheit der Bevölkerung aus der Seele, alle zusammen sind sie zutiefst und wahrhaft erschreckt über den Gedanken, der im Spätetatismus erreichte Stand staatlicher Durchherrschung und Einflussnahme auf das Leben könne auch nur um einen Hauch zurückgedreht werden.
Die Gleichschaltung ist nicht Ergebnis einer gigantischen »Verschwörung«, sondern des Spätetatismus, der jeder über hinreichenden Grad an Organisation und genügend großen Einfluss verfügenden Interessengruppe die Möglichkeit einräumt, dass sie für ihre Mitglieder und, vor allem, für ihre Spitzen Vorteile auf Kosten von Anderen erlangt. Die unterschiedlichen Interessengruppen bekriegen sich zwar, was die Gestaltung spezifischer Maßnahmen des Staats angeht, halten es jedoch alle für Recht, dass der Staat über die Macht verfüge, ihnen die erwünschten Vorteile zu gewähren. Das Interesse an einem starken und gegebenenfalls auszuweitenden Staat eint sie. Indem der Staat auf solche Weise immer verschiedeneren, folglich widersprüchlicheren Interessengruppen Vorteile beschafft, heben diese »Vorteile« sich im Spätetatismus zwar objektiv großenteils gegenseitig wieder auf, doch jede Interessengruppe glaubt nun umso fester, dass sie ohne die »schützende Hand« des Staats auf verlorenem Posten stünde und der Gier der konkurrierenden Interessengruppen ausgeliefert wäre. Opposition, sofern durch sie nichts weiter artikuliert wird als Neid einer in diesem Prozess zu kurz gekommenen Interessengruppe, die wieder zurück an die »Schalthebel der Macht« sich wünscht, ist sie alles andere als eine Opposition.
Als »Lüge« ist bloß das zu bezeichnen, was jemand wider besseres Wissen behauptet. Jemandem, den man einen »Lügner« nennt, unterstellt man, dass er es besser wisse, also dass er die Wahrheit kenne. Bei der »Lügenpresse« muss es sich demzufolge um eine gigantische Verschwörung, die die Wahrheit leugnen will, handeln. Dem Gegenüber eine Lüge zu unterstellen, nimmt ihn nicht ernst, blamiert und diffamiert ihn, stellt ihn unfair dar oder versucht, ihn auszugrenzen. So jemanden überzeugt oder ändert man nicht, man macht ihn sich zum Feind. Da dieser Feind Teil einer gigantischen »Verschwörung« sein muss, ist er auch stets mächtiger als die Opposition. Sie schneidet selber sich von der Denkmöglichkeit ab, wirksam zu werden. Gleichzeitig beweist die schiere Existenz der Opposition, dass die gigantische Verschwörung keineswegs so erfolgreich ist, wie zu sein ihr die Opposition unterstellt.
Dieser Effekt des Begriffes »Lügenpresse« leitet über zu einer zweiten Problematik, die sich offenbart, wenn wir die Seite der angeblich Belogenen anschauen. Belügen lässt sich bloß der Arglose oder der Unwissende. Die schiere Existenz einer Opposition zeugt allerdings davon, dass die Lüge nicht unterschiedslos bei jedem wirkt. Interessant wird angesichts dieser Beobachtung die Frage, warum die einen die Lügen der Presse schlucken und die Medien weiter konsumieren, während andere es nicht mehr tun. Die Medien verfügen also offensichtlich gar nicht über jene Macht, eine außerparlamentarische Opposition an der Formierung zu hindern. Da, unter der Bedingung der formal gewahrten Meinungs- und Pressefreiheit, die Konsumenten die jeweiligen Medien auswählen, die sie konsumieren, ist es schier unmöglich, dass ein Medium Meinungen, Ansichten und Haltungen in verschwörerischer Absicht transportiert, welche den Meinungen, Ansichten und Haltungen der Konsumenten widersprechen. Sofern ein Medium dies versucht, werden die Konsumenten auf andere Medien ausweichen. Angenommen, über Nacht würde eine oppositionelle Fee den Chefredakteur vom »Spiegel« durch, sagen wir, einen AfD-Sympathisanten ersetzen, welche Auflage hätte der Spiegel einige Wochen später noch?
Nun haben wir mit dem Begriff »Lügenpresse« nicht nur eine gigantische Verschwörung aller Journalisten, Medienverantwortlichen, Meinungsbildner und Kommentatoren heraufbeschworen, sondern auch noch die zumindest stillschweigende, wahrscheinlich durchaus aktive Beteiligung aller Konsumenten dieser Medien. Damit wird auch die Behauptung widerlegt, die Opposition artikuliere einen in der Bevölkerung zwar bislang noch stillschweigenden, aber schon (oder noch) verbreiteten Widerstand gegen die Inhalte, die die »Lügenpresse« verbreitet. Der Begriff der »Lügenpresse« transportiert dagegen die Wahrheit, dass bei der außerparlamentarischen Opposition es sich um eine kleine radikale Minderheit handelt, ganz so, wie die Lügenpresse das darstellt.
»Verschwörungstheorie« als Begriff der Stigmatisierung
Verschwörungstheorien haben zur Zeit eine nach meinem Dafürhalten unheilvolle Konjunktur in libertären Kreisen. Vielleicht ist der Grund dafür die Frustration über das Ausbleiben kurzfristiger politischer Wirksamkeit, die sich dann so erklären lässt, dass es ein geheimes Wirken von finsteren Mächten gebe, die daran Schuld trügen. Grund genug, um das Phänomen der Verschwörungstheorien genauer anzuschauen. Was sind Verschwörungstheorien und welchen Wert haben sie?
Der Begriff »Verschwörungstheorie« ist in mehrfacher Hinsicht problematisch. Eine Theorie ist richtig oder falsch; das ist unabhängig davon, ob sie als die Ursache irgend eines Ereignisses eine Verschwörung annimmt oder nicht. Denn Verschwörungen treten auf. Jemand, der bei Missständen generalisiert Verschwörungen unterstellt, ist aber eher unglaubwürdig. Jemand, der soziale Verhältnisse ausschließlich auf Verschwörungen zurückführt und die Wirkung von Systemen, Gruppendynamik usw. außer Acht lässt, hat einen Tunnelblick und trägt nicht zur Aufklärung bei. Eine Stigmatisierung der »Verschwörungstheoretiker« fügt der Wahrheitsfindung jedoch einen weit größeren Schaden zu. Jede Behauptung, dass ein bedeutendes Ereignis nicht in der Form stattgefunden habe, wie der offiziellen Verlautbarung es entspricht, wird in den Medien gern als »Verschwörungstheorie« abgetan. Die Kennzeichnung von jemandem als Verschwörungstheoretiker heißt so viel wie: Was der sagt, ist nicht ernstzunehmen.
Die Fragen, wer JFK ermordet habe, ob der Tod von Marilyn Monroe oder Uwe Barschel auf Mord basiere, wer die Anschläge in Paris, auf das Word Trade Center oder Charlie Hebdo plante und ausführte, ob die Regierung der USA vorab von dem Angriff Japans auf Pearl Harbor wusste, ob das Tagebuch von Anne Frank gefälscht ist, die Zahlen der in KZs und im GULAG Ermordeten, der Hungertoten beim »großen Sprung nach vorn« in China historisch korrekt angegeben werden, ob in der Vorgeschichte oder gar noch in der Antike Außerirdische auf der Erde gelandet sind, ob es eine Innenwelt gibt oder drei Jahrhunderte im Mittelalter und Karl den Großen eben nicht gab, ob Chemtrails zur Vergiftung der Bevölkerung gesprüht werden und Aluhüte davor schützen, wer Shakespeare oder Jack the Ripper wirklich waren und welche Interessen dahinter stehen, sofern die offiziellen Versionen zu allen diesen Fragen Unstimmigkeiten aufweisen, sind kriminologischer Natur. Eine Theorie über die möglichen Täter oder über den Tathergang als »Verschwörungstheorie« zu klassifizieren, sagt in solchen Fällen nichts aus, denn nur Beweise und zur Not das sinnvolle Würdigen von Indizien können jene entscheiden. Bereits die Zusammennennung verschiedener und ganz unterschiedlich relevanter »Verschwörungstheorien« – wie ich sie soeben satirisch vorgenommen habe – erweckt den Eindruck, als ob jemand, der die offizielle Theorie zum Mord an John F. Kennedy in Zweifel zieht, ebenso die hohe Zahl der Toten in Maos China und die Existenz von Karl dem Großen leugnen müsse oder als ob eine solche Verbindung gewisser Theorien wenigstens nahe liege. Aber – die Verschwörungstheorie gibt es nicht, vielmehr einzelne Hypothesen über eine Täterschaft bei bestimmten Ereignissen oder über verschleierte Fakten. Mit der Veralberung der Thesen durch sprachliche Assoziation von logisch nicht Zusammengehörigem machen es sich die Vertreter der jeweils offiziellen Darstellungen allzu leicht, kritische Fragen und Einwände vom Tisch zu wischen.
In wessen Interesse dieses Verfahren liegt, ist nicht schwer auszumachen: Im Interesse all derer, die etwas zu verbergen und zu vertuschen haben.
Wer dagegen rituell alles, was an Bösem geschieht in dieser Welt, auf die Juden oder den Zionismus, auf die CIA oder den KGB, auf Rockefellers & Rothschilds, auf Bilderberger, Fabianer, Freimaurer, Illuminaten, Neoliberale, Satanisten, oder wer sonst sich anbietet, zurückführt, müsste, um glaubwürdig zu sein, zunächst Fragen zur Philosophie der Geschichte, zur Soziologie, Ökonomie, Psychologie und Biologie beantworten und seine Verschwörungstheorie mit den Erfahrungen menschlicher Gruppendynamik in Einklang bringen. Aber selbst hier gilt: Die als Abwertung und Verhöhnung gemeinte Bezeichnung »Verschwörungstheorie« sagt an sich noch nichts aus. Wer mehr nicht als Argument zu bieten hat, verliert zu Recht seine Glaubwürdigkeit zugunsten von Verschwörungstheorien.
Die Frage, wie irgendein negatives Ereignis – ein Mord, ein Anschlag, ein Krieg – zustande gekommen sei und ob der tatsächliche Hergang mit der medialen Darstellung übereinstimme, ist eine kriminologische. Jedes Verbrechen, das geplant wird und an dem sich mehr als eine Person beteiligen, stellt eine »Verschwörung« dar. Die Aufklärung von einem Verbrechen – und sei es eines politisch motivierten – mit der Behauptung zu verweigern, bei der Forderung nach Aufklärung des Falles handle es sich um eine »Verschwörungstheorie«, ist unlauter. In ihrem Gegenzug vermuten die Verschwörungstheoretiker dann gern, dass die Medien, die die Aufklärung des infrage stehenden Falls unterdrücken, ihrerseits Teil der Verschwörung seien. Am Ende ist keine der beiden Seiten mehr an der Aufklärung interessiert und es geht nur noch um die Rechtgläubigkeit anstatt um die Wahrheit. Dem Truther reicht die eigene Vermutung zum Beweis, dem Mainstreamer ein Medienbericht.
»Verschwörungstheorie« als schlechte Gesichtsphilosophie
Etwas ganz anderes als die Hypothese, einem Ereignis liege eine Verschwörung zur Täuschung der Öffentlichkeit zugrunde, ist die Behauptung, das ganze weltweite politische und sogar geschichtliche Geschehen, jedenfalls ein großer Teil von ihm, gehe auf das Wollen und Tun einer Gruppe von Verschwörern zurück. Dies ist in der Tat eine geschichts- und gesellschaftswissenschaftliche Theorie über das Gesetz der Bewegung von Politik und Historie. Die Verschwörungstheorie der Geschichte tendiert dazu, hermetisch, also nicht der Kritik zugänglich zu sein: Jedes Ereignis lässt sich als Ausdruck einer geheimen Agenda der Verschwörer deuten. Die Hermetik weist einen Riss und Schwachpunkt auf, nämlich den Verschwörungstheoretiker selber. Die Frage lautet, wie es möglich sei, dass er den genialen und allmächtigen Verschwörern auf die Schliche kommt und warum er noch nicht von ihnen entweder gekauft oder liquidiert wurde. Der Verschwörungstheoretiker selber ist ein lebendiger Beweis gegen die eigene Theorie.
Karl Popper wandte sich in seinem Buch »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde« (1945) gegen die »Verschwörungstheorie der Gesellschaft«, die er vor allem im »Vulgärmarxismus« verortete. Damit meinte er, die Erklärung für negative soziale Ereignisse werde darin gesucht, gewisse Menschen oder Gruppen zu entdecken, die am Eintreten dieses Ereignisses ein nicht öffentlich kommuniziertes Interesse hatten und konspirierten, um es herbeizuführen. Diese Theorien, so Popper, können sich das Eintreten unerwünschter sozialer Ereignisse nicht anders erklären als durch eine bewusste Planung. Doch die bewusste Planung, auch und gerade die konspirative Planung, verfehle oft ihr Ziel. Zur Aufgabe der Sozialwissenschaft erklärte Popper (hier knüpfte F.A. Hayek später an), vor allem die Analyse der unintendierten sozialen Folgen intentionaler menschlicher Handlungen.
Als Theorie ist die Verschwörungstheorie schwach. Sie setzt voraus, dass es eine Gruppe von Menschen gebe, die über ein völlig harmonisches Interesse verfüge und über die Macht, dieses Interesse nach innen als Konformitätsdruck und nach außen als Repression konstant aufrecht zu erhalten. Es gibt keine Verräter in der Gruppe (bzw. gelingt es stets, sie auszuschalten noch vorm erfolgten Verrat), auch stoßen sie auf keinerlei Schwierigkeiten bei der Umsetzung ihrer Agenda. Alles läuft nach Plan. Bis darauf, dass es da einen Einzelnen oder einen kleinen Personenkreis auf verlorenem Posten gibt, der das Spiel durchschaut. Die Erfahrung besagt allerdings, dass eine Verschwörung um so anfälliger für Verrat wird, je mehr Personen in sie verwickelt sind. Zudem wird jede Organisation um so anfälliger für Fehler, je umfassender ihr Geltungsanspruch ist. Andernfalls könnte ja auch Planwirtschaft gelingen.
Ein spezielles Problem in Verschwörungstheorien als Erklärung für historische Abläufe stellt die Kontinuität der Gruppe der Verschwörer dar. Geheimhaltung, Weitergabe der Geheimnisse an die nächste Generation, ohne dass etwas nach außen dringt, Konstanthaltung und Homogenität der Interessen sind über längere Zeiträume hinweg kaum glaubhaft. Darum eignen sich die Juden gut für solche Verschwörungstheorien: Die Juden stellen in vielen Ländern eine teils wirtschaftlich und politisch einflussreiche Minderheit. Ihr wird die Kontinuität eines homogenen Weltbeherrschungsinteresses qua gleicher Abstammung und Religion unterstellt. Diese kollektivistische Unterstellung, aufgrund der Geburt ein Interesse eingepflanzt zu kriegen, ist eine ebensolche Zumutung wie diejenige, der arme Ostjude verfolge das gleiche Interesse wie der reiche Bankier und der eine Bankier das gleiche wie sein ärgster Konkurrent.
Verschwörungstheorien, die statt einer weltweiten Gruppe zwei oder mehrere verfeindete Gruppen annehmen, enden noch früher im Selbstwiderspruch: Da keine der beteiligten Gruppen ein Interesse daran haben kann, dass die Machenschaften der Konkurrenz verborgen bleiben, sind der Möglichkeit zur Geheimhaltung engste Grenzen gesetzt
Nocheinmal: »Die« Verschwörungstheorie gibt es auch in diesem Bereich nicht, vielmehr unterschiedliche Aussagen über das Bewegungsgesetz der Geschichte. Es kommt nicht darauf an, ob etwas eine Verschwörungstheorie ist, vielmehr ob die theoretische Aussage über das Bewegungsgesetz der Geschichte einer kritischen Prüfung standhält. Verschwörungstheorien über einen Kamm zu scheren, das hilft den wahren Verschwörern.
Beispiel 1: »Protokolle der Weisen von Zion«
Mitte des Jahre 2016 schlug eine Aufregung um Wolfgang Gedeon, Landtagsabgeordneter in Baden-Württemberg für die AfD, und seinen ihm zugeschriebenen Antisemitismus Wellen. Eine Rolle in der Diagnose, Gedeon sei Antisemit, spielt seine Haltung zu den »Protokollen der Weisen von Zion«, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts in antisemitischen Kreisen als Beweis für die Verschwörung des Judentums gelten, die Weltherrschaft an sich reißen zu wollen. Wenn es wie im Falle der »Protokolle« politisch korrekt ist, etwas als Fälschung (respektive in anderen Fällen: als Wahrheit) anzuerkennen, und eine Leugnung unmittelbar zur Ausgrenzung führt, wird man als kritischer Zeitgenosse hellhörig. Was hat es mit den »Protokollen« auf sich?
Gedeon verlinkte auf seiner Website zum Beweis, dass er kein Antisemit (sondern nur Antizionist) sei, das Kapitel aus einem seiner Bücher, in welchem er auf die »Protokolle« eingeht. Zu Beginn des Textes meint er, die »Protokolle« stellten »mutmaßlich keine Fälschung« dar. »Mutmaßlich« ist eine unsichere Sache. Allerdings fußt alles, was dann folgt, auf der Sicherheit, dass sie tatsächlich keine Fälschung seien. In dem Abschnitt »Zur Frage der Authentizität der Protokolle« zitiert er ausführlich Ulrich Fleischhauer, der zu dem »Berner Prozess« um die »Protokolle« von 1933-1935 (auf den ich gleich ausführlicher eingehe) ein Gutachten beisteuerte. Gedeon zitiert aus Fleischhauers Gutachten indirekt – d.h. vermittels einer Sekundärquelle – ausführlich, denn dieses Gutachten sei laut seiner Quelle »heute kaum mehr zugänglich«. Inzwischen ist es im Internet zugänglich. Was immer Gedeon ist, Fleischhauer war Antisemit und bekannte sich hierzu. Immerhin macht es, gelinde gesagt, einen weniger überzeugenden Eindruck, sich gegen den Vorwurf des Antisemitismus zu verteidigen, indem man seitenlang einen Antisemiten als Beweis der eigenen Thesen zitiert.
Auch Fleischhauer kann in seinem über 400 Seiten umfassenden Gutachten nicht die Autorenschaft oder Entstehungsgeschichte der »Protokolle« klären, bemüht jedoch einen besonders perfiden Indizienbeweis für deren Authentizität: Sie entsprächen der »jüdischen Denkungsweise«. Die schon damals bekannten Vorbilder, an die sich weite Passagen der »Protokolle« anlehnen, nimmt Fleischhauer als Beweis, dass es einen authentischen gemeinsamen Urtext gegeben haben müsse. Auf diesen gemeinsamen Urtext etwa habe der deutsche antisemitische Schriftsteller Hermann Goetsche (Pseudonym: Sir John Retcliffe) zurückgegriffen. Sein Roman von 1869 wird kurzerhand zum Dokumentartext umgedeutet. Ein anderes Vorbild ist eine Schrift von Maurice Joly aus dem Jahr 1864. Joly ließ mit einem fiktionalen Dialog im Jenseits Machiavelli und Montesquieu untereinander streiten. Ziel war eine Anklage gegen Napoleon III., dem Joly Machiavellismus vorwarf, also skrupelloses Machtstreben; deshalb wurde die Schrift in Frankreich konfisziert und verboten. Die »Protokolle« nun enthalten das Machiavelli durch Joly in den Mund gelegte Programm; allerdings als explizit jüdische Strategie, während bei Joly das Judentum weder positiv noch negativ konnotiert vorkommt. Großen Wert legte Fleischhauer darauf zu beweisen, dass Joly ein Jude gewesen sei, und zitiert später die Machiavelli zugeschriebenen Passagen so, als geben sie die persönlichen Ansichten Jolys wieder (denn es entspreche der »jüdischen Denkungsweise«, zum eigenen Nutz und Frommen zu lügen und seine wahren Absichten zu vertuschen). Umgekehrt »beweist« Fleischhauer, dass die »Protokolle« keine Fälschung sein können, die Antisemiten angefertigt haben, indem er die Übereinstimmung einiger antikapitalistischer Passagen mit dem nationalsozialistischen Programm erwähnt, die ein Nationalsozialist doch niemals seinen Gegnern in dem Mund gelegt hätte. »Würde man nur diese Stellen des Protokolls [z.B. Abschaffung der Wertpapierbörsen, Beseitigung des Bestechungswesens, Entlastung der ärmeren Schichten bei Steuern, Verurteilung der Goldwährung] veröffentlichen und die Wege, mit denen die Macht erreicht werden soll, fortlassen, so würde jeder, der diesen Ideal-Zustand durchstudiert hat, mit fliegenden Fahnen zum Judentum überlaufen. Dieser Punkt allein müsste genügen [sic], die Behauptung einer Fälschung zu entkräften.« Entsprechen die »Protokolle« also nationalsozialistischer »Denkungsweise«? Was für eine Ironie des Schicksals!
Als ein weiteres Schmankerl aus Fleischhauers Gutachten liest sich, dass er die Vermutung, der russische Geheimdienst sei Urheber der »Protokolle«, mit dem Hinweis »entkräftet«, die »Protokolle« seien ein unvollständiges Werk und kein Geheimdienst hätte sich getraut, seinem Dienstherrn etwas Unvollständiges vorzulegen. Eine gewagte Annahme, denn die Unvollständigkeit könnte beispielsweise die Absicht gehabt haben, den Eindruck des Authentischen zu verstärken. Nicht nur das. Da das Original, wie Fleischauer betont, nicht vorlag, konnte man überhaupt nicht wissen, ob es ursprünglich einen vollständigen oder unvollständigen Charakter hatte. (Ein Original gibt es bis heute nicht.)
Soweit zum Gutachten von Fleischauer. Der Prozess von Bern um die »Protokolle« ist für beide Seiten der Debatte von Bedeutung, denn 1935 wurden Nationalsozialisten, die die »Protokolle« in der Schweiz publiziert hatten, wegen Verbreitung von »Schund« verurteilt. Das Gericht stellte fest, dass es sich bei den »Protokollen« um Fälschungen handele. »Das Urteil wurde dann in zweiter Instanz [1937] aufgehoben«, schreibt Gedeon weiter: »Was freilich auch heute noch Tausende von Journalisten nicht abhält, die Protokolle immer wieder als ›gerichtskundig entlarvte Fälschung‹ zu präsentieren!« Ob die Urteilsbegründung von 1937 schon 2009, als Gedeons Buch (unter dem Pseudonym W.G. Meister) erschienen ist, öffentlich zugänglich war, konnte ich nicht recherchieren. Seit 2012 jedenfalls kann man es im Internet nachlesen. Die Urteilsbegründung der Revision 1937 beschäftigt sich überhaupt nicht mit der Frage, ob die »Protokolle« authentisch seien oder nicht, sondern vielmehr ausschließlich damit, ob sie den Tatbestand des Anreizens zu Straftaten oder der Unsittlichkeit erfüllen, denn nur diese Tatbestände wären nach geltendem Recht verboten. Eine Entschädigung der Angeklagten lehnte das Gericht trotz der Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils ab: »Wer aber solche Hetzartikel gemeinster Sorte in Verkehr setzt, muss die ihm daraus entstehenden Kosten selber tragen.« Es geht mir ausdrücklich nicht darum zu behaupten, ein Berner Gericht könne oder dürfe 1935 über die historische Wahrheit entscheiden; kein Gericht der Welt zu irgendeiner Zeit ist dazu befugt. Aber Gedeons Behauptung, die Revisionsverhandlung habe den Fälschungsvorwurf kassiert, entspricht schlicht und einfach nicht dem Wortlaut der Urteilsbegründung.
Der nationalsozialistische Philosoph Alfred Rosenberg legt in seinen Tagebüchern, Eintrag vom 23. 8. 1936, einem Juden (!) die Äußerung in den Mund, ob die »Protokolle« nun echt seien oder nicht, »die jüdische Weltpolitik werde in ihnen so dargestellt, wie sie sich in der Tat zeige«.
Was kann hier »echt« (oder: »authentisch«, oder: »keine Fälschung«) heißen? Es kann heißen, dass die »Protokolle« wirklich von einem Juden verfasst wurden. Es kann sogar heißen, dass am Rande des Ersten Zionistenkongresses 1897 in Basel eine Geheimtagung stattfand, auf der, wie Gedeon behauptet, jemand diese Vorträge hielt. Das ist zwar unwahrscheinlich, weil politische Rhetorik, auch die von Verschwörern, meist positive, altruistische und idealistische Ziele für sich ins Feld führt, aber nicht unmöglich. Hiermit aber wäre nun rein gar nichts bewiesen. Denn was zu beweisen wäre, ist nicht die böse Absicht eines Einzelnen oder einer kleinen Gruppe (und seien es geschickte Verschwörer), sondern die Macht dieses Einzelnen oder dieser kleinen Gruppe, ihre böse Absicht politisch umzusetzen. Darüber hinaus wäre zu beweisen, dass es eine stabile, verlässlich geheime zu haltende und wirkmächtige Verschwörung über die Länder und die Zeiten hinweg allein aufgrund einer gemeinsamen (in diesem Falle: jüdischen) Abstammung geben könnte.
Die Unterstellung, dass es eine solche Verschwörung tatsächlich gibt, unterscheidet den Antisemiten von einem möglichen Antizionisten, der nichts weiter bekämpft, als eine vom ihm abgelehnte Idee wie der Antifaschist, der Antikommunist, der Antiliberale, der Antiislamist, der Antidemokrat, der Antieuropäer oder der Antietatist. Die derzeit modische »Islamkritik« ist insoweit tatsächlich die kleine Schwester des Antisemitismus, als sie jeden, den der Zufall des Schicksals hat als Moslem geboren werden lassen, unter Generalverdacht stellt.
Beispiel 2: Trump und der »Deep State«
In dem Maße, in welchem die Regierung von Donald Trump sich tiefer in den Verstrickungen des politischen Alltags verheddert, weniger von dem umsetzen kann, als vollmundig angekündigt wurde, und zunehmend zentrale Wahlversprechen bricht, bringen seine Verteidiger immer häufiger und schriller die Erklärung an, der »Deep State« trage die Schuld, nicht der Präsident, der weiterhin die lautersten Absichten hege.
Zum ersten Mal und noch ohne den Begriff »Deep State« habe ich eine solche Gedankenfigur im Zusammenhang mit der Präsidentschaft von Ronald Reagan gehört. Ich weiß noch, wie schockiert ich war, als der von mir hoch geschätzte libertäre Historiker und Weggefährte von Murray Rothbard Leonard Liggio auf einer Konferenz 1985 in Beitostølen bei Oslo die Interpretation vorbrachte, Ronald Reagan sei als einziger Politiker, weil vom ganzen Volk gewählt, ehrlich an Staatsabbau interessiert; er würde als einziger Politiker den »Willen des ganzen Volks« widerspiegeln, allerdings gehindert durch nur einer partikularen Wählerschaft verpflichteten Kongressabgeordneten. In einem Gespräch am Rande der Konferenz spitzte er seine These noch zu und behauptete, der ehrlich an Staatsabbau interessierte Reagan werde durch seine Berater und hinter seinem Rücken ausgebootet. Da fiel mir nur der alte Glaube der russischen Bauern ein, der gute Zar würde, wenn er von ihrem schlimmen Joch unter den Feudalherrn wüsste, ihnen sofort zur Hilfe eilen.
Die Mächtigen sind die Ehrlichen, ihre Untergebenen dagegen das Problem?
Das Narrativ vom »Deep State« reicht tatsächlich zurück zum Präsidenten Dwight D. Eisenhauer, der in seiner Abschiedserklärung 1961 von der Gefahr eines die Politik beherrschenden militärisch-industriellen Komplexes warnte und zwar so, als ob er bzw. die ihm nachfolgenden Präsidenten nicht Teil desselben seien, sondern seine Opfer. Die Rede vom »militärisch-industriellen Komplex« wurde dann zu einer Redewendung, die eher auf der politisch linken, der außerparlamentarischen Neuen Linken gebraucht wurde. Allerdings gingen diejenigen, die vom »militärisch-industriellen Komplex« sprachen, stets davon aus, dass die jeweiligen Präsidenten sich ihm willig unterwarfen.
Da Ronald Reagan nun zwar durchaus in wirtschaftspolitischer Hinsicht eine staatskritische und gegen das sozialstaatliche Establishment gerichtete Rhetorik pflegte, jedoch ganz eindeutig eine gigantische Aufrüstung vornahm sowie die militärische Verstrickung der USA in immer weitere Konflikte (wie Afghanistan, Iran, Nicaragua, Panama) vorantrieb, war es kaum möglich, ihn als explizites Opfer des militärisch-industriellen Komplexes dazustellen, denn der konnte mit ihm mehr als zufrieden sein.
Auf dem Weg des Begriffs »militärisch-industrieller Komplex« von links nach rechts auf der politischen Landkarte erwies es sich als zunehmend unpraktisch, die Hauptstoßrichtung gegen den militärischen und industriellen Aspekt des Staats zu richten. In dieser Situation nutzte der der republikanischen Partei nahestehende Autor Mike Lofgren einen Begriff, der im Amerikanischen für »Staat im Staat« oder »Schattenregierung« bereits hin und wieder in Gebrauch war: »Deep State«. Es handelt sich um nicht-gewählte Personen, die als Staatsbeamte, als Meinungsmacher, als Lobbyisten, als Geheimdienstler, als Militärs, als Juristen, als Funktionäre der Großindustrie oder der Finanzwelt über Einfluss verfügen.
Dass es eine solche, informellen Einfluss nehmende Personengruppe in vermutlich jedem komplexen Staat gibt, wird kaum jemand bestreiten. Die spannende Frage lautet, ob sie durch ein einheitliches Interesse gekennzeichnet ist und koordiniert wie eine Gruppe Verschwörer handelt. Dies ist eher unwahrscheinlich. Viel wahrscheinlicher ist, dass innerhalb der genannten Personengruppe mehrere, auch sich widerstreitende Interessen anzutreffen sind. Diese um spezielle Interessen formierten Untergruppen mögen mitunter auch teilweise verschwörerisch vorgehen. Umgekehrt muss ein Politiker sich mit der einen oder anderen Fraktion innerhalb des »Deep State« verbünden, sowohl um überhaupt gewählt zu werden, als auch um, wenn er gewählt wurde, etwas durchsetzen zu können. Damit wird er sich andere Fraktionen zum Feind machen. Das ist das Geschäft der Politik.
Nun hat Trump sicherlich innerhalb des »Deep State« seine Feinde, ebenso wie Ronald Reagan es hatte, doch andere Teile des »Deep State« profitieren von ihm und sind seine Stützen. Darauf zu hoffen, durch die Wahl von irgendeinem Politiker gegen den »Deep State« ankommen zu können, ist reichlich naiv und verkennt die Spielregeln der Politik, jeder Politik. Das Fatale an der Hoffnung auf einen mächtigen Superman (oder eine Wonderwoman), die den »Deep State« besiegt, ist zweitens, dass sie darin besteht, dass dann ein sauberer, besserer Staat entstehen könnte.
Es gibt noch eine dritte Problematik in der Hoffnung auf einen Sieg über den »Deep State« nicht durch Staatsabbau, sondern durch die Installation eines mächtigen, aber reinen Politikers. Solange wir mit dem Inhalt des Kampfes eines Politikers gegen die konservativen Beharrungskräfte einverstanden sind, sind diese konservativen Beharrungskräfte ein Ärgernis, das wir beseitigt sehen möchte, je früher und je radikaler, um so besser. Ganz anders sieht es aus, wenn unsere Gegner am Drücker sind. Dann loben wir die konservativen Beharrungskräfte des Systems, des »Deep State«, dann sind uns Klagen vor dem Verfassungsgericht gegen politische Veränderungen willkommen und wir hoffen darauf, dass den entsprechenden Initiativen der Veränderung auf rechtlichem Weg Einhalt geboten wird. Das Lob des Beharrungsvermögens eines sozialen Systems gegen die heißblütige Veränderung »von oben« hat vor allem F.A. Hayek gesungen. »Was mit dem scheinbaren Sieg des demokratischen Ideals geschah, war, dass die Macht, Gesetze zu verabschieden, und die Macht der Regierung, Anweisungen zu erteilen, in die Hände ein und derselben Versammlung gelegt wurden. Die Wirkung davon war notwendigerweise, dass die höchste Regierungsautorität freie Hand bekam, sich selbst laufend all diese Gesetze zu geben, die ihr am besten dabei halfen, die besonderen Zwecke des Augenblicks zu erreichen. Wir können eine Regierung nur so daran hindern, besonderen Interessen zu dienen, dass wir ihr die Macht nehmen, dabei Zwang auszuüben«, schrieb F.A. Hayek 1973.
Wer also den »Deep State« beseitigt, beseitigt dann auch jede Bremse, wenn denn »die andere Seite« eine Wahl gewinnt und nun das durchsetzen will, was auf ihrer Agenda steht, was immer das sei.
Staatsabbau: ja, immer. Aber nicht Abbau der Bremsen im System, die uns davor schützen, dass die jeweils Mächtigen ihre Ideen ungehindert durchdrücken können.
Die verschwörungstheoretische These, das gegenwärtige »Big Government« basiere auf Kriminellen, die das Volk mit »schmutzigen Tricks« manipulierten, während ein von den kriminellen Elementen »gereinigtes« demokratisches System als liberaler Staat weiterexistieren könne, halte ich für theoretisch falsch und praktisch desaströs. Sie lässt es so erscheinen, als könne der Staat auch anders, wenn wir bloß andere Politiker hätten. Aber warum haben wir nicht solche anderen Politiker? Weil das System des Staats notwendig diese Art Politiker hervorbringt. Auf ihre Weise sind sie zum Teil geniale Krisenmanager, wenn wir uns anschauen, was für Krisen sie allein in den letzten Jahren gemeistert haben – Krisen, an denen Staaten auch schon mal zerbrochen sind. Michel Foucault lehrt uns, die Macht nicht als dumm anzusehen: Sie wisse, wie sie sich erhält, gleichsam hinter dem Rücken des Bewusstseins der Handelnden.
Beispiel 3: »Phoebuskartell« Oder: Ein Kapitel aus dem Märchenbuch »1001 Verschleißteil«
Seit dem Dokumentarfilm »The Light Bulb Conspiracy« (2010, dt. »Kaufen für die Müllhalde«) erhielt die alte, mir schon in meiner Jugend begegnete Behauptung neuen Auftrieb, die Lebensdauer von Glühbirnen werde aufgrund der willkürlichen Setzung kapitalistischer Industrie verkürzt, um den Umsatz anzuheizen.
Die Behauptung ist so einleuchtend, dass sie nur selten angezweifelt wird: Wenn ein Produkt, egal ob ein teures Auto oder ein Pfennigsartikel wie eine Glühbirne, schneller verschleißt, wird es eher nachgekauft, also macht der Hersteller mehr Umsatz (ob er auch einen größeren Gewinn macht, steht dann noch auf einem anderen Blatt). Aber wenn die Lebensdauer einer Glühbirne von 2.000 auf 1.000 Stunden willkürlich um die Hälfte herabgesetzt werden kann, warum nicht gleich auf 500 Stunden? Oder, wem dies allzu kühn klingt, auf 750? Damit ließe sich doch ein noch höherer Umsatz erzielen! Für Autos brachte man die Behauptung geplanten Verschleißes just in jenen 1950er und 1960er Jahren in Stellung, als in den USA Autos gebaut wurden, die heute noch auf Kuba fahren. Ende 1999 wurde in New York das letzte Checker-Cab-Taxi ausgemustert, 21 Jahre alt, Gesamtlaufleistung 1,5 Mio km. Wenn die Angehörigen der Mittelschicht damals sich alle zwei Jahre ein neues Auto kauften, dann nicht wegen der angeblich eingebauten Verschleißteile mit Sollbruchstellen. Denn die Autos führten nach ihrem Erstbesitzer meist ein langes Leben in zweiter, dritter und vierter Hand. Die Autoindustrie hätte doch genau doppelt so viele Autos absetzen können, wenn sie die Lebensdauer auf ein Jahr »begrenzt« hätte, oder? Diese Überlegungen reichen aus, um ein Fragezeichen hinter die Behauptung der »Glühbirnenverschwörung« zu machen. Jedoch der Reihe nach.
Ein Kartell der großen Glühbirnenhersteller hat es tatsächlich gegeben. Es wurde 1924 in Genf von General Electric, Osram sowie Philips u.a. gegründet und unter dem Namen Phoebuskartell bekannt, weil die Kartellmitglieder für ihre Zwecke in der Schweiz die Firma Phoebus S.A. gründeten. Ziel des Kartells waren Gebiets- und Preisabsprachen sowie die Definition gemeinsamer Normen, um den Wettbewerb zu beschränken. Zu den Normen gehörte auch die von der Lebensdauer. Das Kartell hat offiziell bis 1941 bestanden, die Verfechter der »Bulb Conspiracy« gehen jedoch davon aus, dass es inoffiziell möglicherweise sogar bis heute weitergeführt werde.
Das Kartell war mächtig, aber nicht allmächtig. Von Anfang an gab es auch Hersteller, die dem Kartell nicht angehörten. Sie stellten langlebigere, aber auch teurere und vor allem mehr Energie benötigende Glühbirnen her, die sich auf dem Markt nicht durchsetzen. In den 1930er Jahren endeten die Patente von General Electric; japanische Hersteller griffen das Kartell nun an. In den USA antwortete General Electric mit einer gegen die Kartellabsprachen verstoßenden Preissenkung plus der politisch durchgesetzten Maßnahme eines Importzolls auf Glühbirnen. 1936 urteilte ein US-Gericht, dass trotz abgelaufener Patente deren Schutz fortbestehe. Außerhalb der USA gelangen Maßnahmen des politischen Schutzes nicht: Der Marktanteil dem Kartell angehörender Unternehmen am Verkauf von Glühbirnen sank.
Eine spätere Herausforderung für die 1.000-Stunden-Glühbirne des Phoebus-Kartells war die »Ewigkeitsglühbirne« von Dieter Binninger (1938 -1991). Für die Mengenlehreuhr in Berlin (1975 -1995 auf dem Mittelstreifen des Kurfürstendamms, Ecke Uhlandstraße; seit 1996 im Berliner Europa-Center, Budapester Straße) entwickelte er eine Glühbirne mit ca. 150.000 Stunden Lebensdauer, weil das Auswechseln einen großen Aufwand fordert. Nach der Wende übernahm er das Narva Leuchtmittelwerk in Ostberlin, starb aber bei einem Flugzeugabsturz, bevor er die Produktion umstellen und aufnehmen konnte. Die lange Hand des Kartells? Das ist wenig glaubwürdig. Denn die von Binninger erfundene Technologie war patentiert; sie lag also vor und ist nach seinen Tod weiterhin verfügbar. Wenn für Binningers Glühbirnen keine Massenproduktion gelang, liegt es daran, dass weder Herstellung noch Betrieb effizient ist, abgesehen von Sonderfällen, bei denen der Birnentausch höhere Kosten verursacht als der Mehrverbrauch an Strom, und inzwischen haben LED-Lampen die Haltbarkeitsfrage sowieso erledigt. Warum sah das angeblich ach so mächtige Kartell, das selbst vor Mord nicht zurückschreckt, bei der Entwicklung und Einführung der LEDs nicht nur zu, mischte vielmehr eigens kräftig mit, z.B. Royal Philips?
Noch eine andre Frage tut sich auf. Der Legende nach waren bereits die Narva-Glühbirnen deutlich haltbarer; die Rede ist von einer Lebensdauer um die 2.500 Stunden. Weswegen produzierte man sie denn nicht weiter? Nun, hier vergleicht man Äpfel mit Birnen. Bei der 1.000-Stunden-Lebensdauer der ollen West-Birnen ging es um einen Durchschnittswert, der im Alltag sowohl deutlich unter- als auch überschritten werden konnte. Dagegen handelte es sich bezogen auf die 2.500 Stunden Lebensdauer der hochwertigen Narva-Glühäpfel um den politisch vorgegebenen Soll-Wert, von dem zweifelhaft ist, ob er je als Durchschnitt eingehalten wurde. Darüber hinaus nennt die Legende für chinesische Glühkartoffeln der Zeit vor der Reformphase gar 5.000 Stunden Lebensdauer. Wenn China und die Staaten des Warschauer Paktes auch keine Freunde waren, frage ich mich, warum Narva die Technologie der feindlichen Brüder nicht einfach kopiert hat. Das sollte laut der »Bulb Conspiracy« kein Problem gewesen sein, denn die Technologie war ihr zufolge jedem bekannt und hätte ohne Mehrkosten eingesetzt werden können.
Weiter zurück datiert ein vermeintlich zusätzlicher Beweis für die Möglichkeit einer langlebigeren Glühbirne (vor der LED): Seit 1901 brennt das »Centennial Light« (hundertjährige Licht) in der Feuerwache der Stadt Livermore bei San Francisco, eine Glühbirne, die in den 1890er Jahren produziert wurde. Sicherlich stellt dies ein bemerkenswertes Phänomen dar. Die Glühpflaume des »Centennial Light« emittiert allerdings ein Licht von nur noch gerade mal vier Watt, was nicht vielversprechend aussieht für eine Alltagsbeleuchtung. Wenn es sich bei ihrer Konstruktion um ein für die Massenherstellung geeignetes und im Betrieb kosteneffizientes Prinzip handelte, aus welchem Grund haben die chinesischen Kommunisten und die ostdeutschen Sozialisten es nicht kopiert? (Das Prinzip der Konstruktion ist nicht geheim.) Auch hat das Kartell nie versucht, diesen angeblichen Beweis für seine Schuld zu unterdrücken und vor der Öffentlichkeit geheim zu halten. Im Gegenteil. Techniker von General Electric untersuchten jene Glühbirne und bestätigten ihre Authentizität.
Am Rande notiert: Im Rahmen der Weltwirtschaftskrise der 1930 er Jahre wurde in den USA vorgeschlagen, Produkte mit einem Verfallsdatum zu versehen, nach dessen Ablauf sie bei einer Behörde abgeliefert & zerstört werden müssten. Auf diese Weise sollten der Konsum angeregt sowie Arbeitsplätze geschaffen werden, so Bernard London in »Ending the Depression Through Planned Obsolescence«. Dieses Buch wird von Cosima Dannoritzer in »Kaufen für die Müllhalde« als ein weiterer Beleg für die Existenz geplanten Verschleißes, »planned obsolescence«, auch bei Glühbirnen angeführt, so als ob irgend eine Forderung, formuliert von irgendwem, bereits deren Umsetzung beweise. Ganz abgesehen von der Frage, ob bzw. wie dieser Vorschlag tatsächlich umgesetzt wurde, handelt es sich bei ihm eindeutig um eine vermittels einer staatlichen Intervention herbeizuführende Wegwerfwirtschaft, welche sich offensichtlich gerade nicht von allein auf dem Markt etablieren würde: Denn wenn dem so wäre, bedürfte es keiner Intervention.
Beispiel 4: Lewin, Adorno und Tavistock
Bei meinen Recherchen zu Kurt Lewin (der eine optimal die durch Ludwig von Mises formulierten praxeologischen Anforderungen an eine psychologische Theorie erfüllende Psychologie entwickelt hat) bin ich auf eine absonderliche Verschwörungstheorie gestoßen. Dr. John Coleman, den eigenen Angaben zufolge einst für den britischen Geheimdienst »MI 6« tätig, behauptet in seinem Klassiker »Conspirators Hierarchy: The Story of the Committee of 300« von 1997, Kurt Lewin sei verantwortlich für
- die Flächenbombardierungen der Achsenmächte durch die Alliierten im zweiten Weltkrieg,
- die Etablierung des US-Geheimdienstes OSS (der Vorgängerorganisation des CIA) sowie
- die Gehirnwäsche der Deutschen in Folge des zweiten Weltkriegs mittels »re-education«.
Nachdem er diese Geschichte unter dem Titel »The Tavistock Institute of Human Relations: Shaping the Moral, Spiritual, Cultural, Political and Economic Decline of the United States of America« 2005 fast unverändert ein zweites Mal erzählte, hat Daniel Estulin sie 2015 als »Tavistock Institute: Social Engineering the Masses« recycelt. Daniel Estulin ist der Verschwörungstheoretiker, der es mit der spanischen Ausgabe seines »Bilderberger«-Buches dahin brachte, 2010 ausgiebig vom Máximo Líder Fidel Castro (1926 - 2016) höchstselbst zitiert zu werden. (Hinweis für Insider: Beide, John Coleman und Daniel Estulin, werden dem Lager von Lyndon LaRouche zugerechnet.)
Die Herleitung des Vorwurfs, »verantwortlich« für die Flächenbombardierungen im zweiten Weltkrieg zu sein, läuft über eine angebliche Beteiligung am »United States Strategic Bombing Survey«. Diese Untersuchung über die Auswirkung von strategischen (Flächen-) Bombardements wurde gegen Ende und nach dem Krieg durchgeführt. Sie diente eher der Abwehr von inneralliierten Zweifeln am militärischen Sinn des Luftkriegs, kam allerdings zu keinem eindeutigen Ergebnis, das heißt, die Erwartung des Auftraggebers wurde nicht erfüllt. Aus der Untersuchung wollte man Schlussfolgerungen für zukünftige Strategien ziehen, auf den Verlauf des zweiten Weltkriegs hatte sie keinen Einfluss. Bis zu tausend Wissenschaftler waren mit der Untersuchung beschäftigt. Die Untersuchung ist öffentlich leicht zugänglich und die Hauptverantwortlichen werden dort genannt. Es gibt keinen Grund, weshalb Lewins Name hätte unterschlagen werden sollen.
Später dann, fährt Coleman fort, habe Lewin »die Strategic-Bombing-Initiative in die FEMA integriert«. FEMA steht für »Federal Emergency Management Agency«. Sie wurde 1979 gegründet, da war Kurt Lewin seit 32 Jahren tot. Die angebliche Höhle des Löwen, das »Tavistock Institute« in London, wird ebenso als Lewins Kreatur dargestellt, und er sei der »Chef-Theoretiker« des Instituts gewesen, das allerdings erst … nach seinem Tod gegründet wurde. Auch bei der Gründung der »Tavistock Clinic« 1920 spielte Lewin offensichtlich keine Rolle. 1920 beschäftigte Lewin, 30 Jahre alt und international unbekannt, sich mit gestaltpsychologischen Experimenten zur Widerlegung des »Assoziationismus«. Der Gründer der Klinik, Hugh Crichton-Miller (1877 -1959), war übrigens Jungianer. Eine Verbindung zu Lewin bestand nicht.
Laut dem noch ominöseren Gyeorgos C. Hatonn »kreierte« das »Tavistock Institute« auch die NATO. Hatonns Buch »Players in the Game: Destiny of Doom« von 1993 ist das erste, das ich als den Quelle der Tavistock-ist-das-Zentrum-des-Bösen-Story ausfindig machen konnte. (Möglicherweise ist die inhaltliche, nicht verschwörungstheoretisch ausgebaute Quelle Caspar von Schrenck-Notzing mit seinem Buch »Charakterwäsche: Die Re-education der Deutschen und ihre bleibenden Auswirkungen« von 1965.)
Daniel Estulin zitiert aus einem Essay von Lewin, in dem Lewin das Brechen der Moral durch »strategischen Terror« darstellt. Es ist offensichtlich, dass Lewin die Erfahrungen aus dem Terror des Stalinismus und des Nationalsozialismus verarbeitet und keineswegs gutheißt.
Dies ist der Text von Lewin, verfasst 1942, in deutscher Übersetzung: »In der Tat besteht eins der Hauptmittel, die Moral durch die ›Strategie des Terrors‹ zu brechen, in genau dieser Taktik – den Betreffenden über seinen Standort und über das, was ihm bevorsteht, im Unklaren zu lassen. Wenn außerdem häufige Schwankungen zwischen strengen Disziplinarmaßnahmen und Aussichten auf gute Behandlung gleichzeitig mit der Verbreitung sich widersprechender Nachrichten die ›Erkenntnisstruktur‹ der Lage äußerst unklar machen, dann weiß der Mensch nicht einmal mehr, ob ein bestimmter Plan zu seinem Ziele hin oder von ihm wegführen würde. Unter diesen Umständen werden sogar diejenigen Menschen, die bestimmte Ziele haben und zu einem Risiko bereit sind, durch heftige innere Konflikte für die zu treffenden Entscheidungen gelähmt.«
Estulin deutet diese Passage als eine »Anleitung zur psychologischen Kriegsführung«. Lewin sei, wie »viele andere deutsche Intellektuelle«, aus Deutschland geflohen, weil er Jude und keineswegs weil er mit Hitler nicht einverstanden war. In den USA »verfeinerte er die durch die Nazis formulierte Technik der führerlosen Gruppe«, plante, den Amerikanern »die faschistoide [fascist-like] Form der Kleingruppenorganisation« aufzuzwingen. Eine führerlose Gruppenstruktur als Nazi-Idee? Die Kleingruppe als typische Form faschistischer Organisation? Damit der Merkwürdigkeiten nicht genug. Lewin sei von der »Frankfurter Schule« gekommen. Sicherlich, es gab neben dem »Frankfurter Institut für Sozialforschung« von Horkheimer und Adorno auch eine »Frankfurter Schule der Gestaltpsychologie« (die Estulin aber offensichtlich nicht meint), doch der gehörte Lewin nicht an, sondern der »Berliner Schule der Gestaltpsychologie«. Von Adorno trennte ihn aber vor allem sein Engagement für die Empirie. Und weder mit Marx oder Hegel noch mit Freud hatte er viel im Sinn.
Aber, wie kann es anders sein, auch Adorno ist angeblich eine Schlüsselfigur im Tavistock-Imperium. Für irgendeinen Zusammenhang zwischen Adorno und Tavistock gibt es wiederum keinen Beleg, außer dem einen, dass Adorno in einem Projekt zur Untersuchung von Massenkultur neben einem Wissenschaftler arbeitete, der später ans Tavistock-Institut wechselte. Und wenn man schon die »falschen« Leute kennt und ihnen womöglich die Hand zur Begrüßung geschüttelt hat, ist man – schwuppdiwupp – Teil der Verschwörung. Wie schon bei Lewin, zitiert Estulin Adorno in einer Weise, dass er, sooft er das Wort »faschistisch« benutzt, das damit Bezeichnete nicht ablehne, vielmehr zum Ideal erhebe. Das ist, als wenn man F.A Hayeks »Road to Serfdom« (1944) derart auslegte, dass es eine Anleitung für Herrschende darstelle, das Volk knechten zu können.
Euphemistisch behauptet Max Horkheimer 1953 in seinem Vorwort zu der deutschen Ausgabe der posthumen Sammlung von Lewins sozialpsychologischen Essays »Resolving Social Conflicts« – weiß der Teufel, wer oder was ihn geritten hatte, es zu verfassen –: »Innige Bezüge meiner eigenen Arbeit zu der Lewins ergaben sich, als ich in den Vereinigten Staaten an der Erforschung von Problemen der Minderheiten tätig war. Unser Forschungsgegenstand, die Diskriminierung von Minderheiten, war der gleiche, und wir haben guten Kontakt gehalten.«
Das ist glatt gelogen. Die Gruppen um Lewin und um Horkheimer konkurrierten miteinander. 1944 schrieb Adorno an Horkheimer, die »F-Skala« sei »unser ›Gegenschlager‹ gegen das Zeug von Lewin«. Die F-Skala war allerdings eine ziemlich konventionelle Angelegenheit. Mit Hilfe der Zustimmung von Befragten zu bestimmten Aussagen, bei denen sie nicht merken durften, dass sie auf ihr Verhältnis zu Minderheiten anspielten, sollte »Faschismusanfälligkeit« determiniert werden. Da sah Lewins Ansatz doch deutlich innovativer aus; er sei, schreibt er 1946, den »Umfragen in Sachen Intergruppenbeziehungen gegenüber etwas bedenklich geworden. Obgleich sie möglicherweise [!] wichtig sind, haben sie sich in der Regel ziemlich oberflächlicher Methoden der Auswahl […] bedient. […] Der zweite Grund der Unzufriedenheit ist die wachsende Erkenntnis, dass reine Diagnose – und Umfragen sind eine Art Diagnose – nicht genügt. Im Falle der Intergruppenbeziehungen wie anderer Gebiete der Sozialarbeit ist die Diagnose durch experimentelle vergleichende Studien über die Wirksamkeit verschiedener Methoden der Veränderung zu ergänzen.«
Letztendlich schießt dann aber John Coleman den Vogel ab und die goldene Verschwörerhimbeere geht an ihn. Denn allen Ernstes will er uns weismachen, dass niemand anderes als Adorno die Songs der Beatles komponiert und getextet habe, natürlich im Auftrag des Tavistock Institute, und zwar aus dem einen einzigen sinistren Grund, um die westliche Kultur zu unterminieren. – Doch der Reihe nach. – Adorno musste laut Coleman nicht wie Lewin Deutschland verlassen, weil er Jude war, sondern weil die »deutschen Behörden auf seine Tätigkeit aufmerksam geworden waren«. Diese »Tätigkeit« bestand darin, wie Coleman suggeriert, diabolische Musikexperimente mit Kindern durchzuführen (das entnehme ich dem Kontext, explizit sagt er an der Stelle nicht, was die »deutschen Behörden« an Adornos Tätigkeit auszusetzen hatten). Und »mit seinen eigenen Worten sagte Adorno, dass seine Musik stalinistisch oder faschistisch sei«, da haben wir also den Beweis; leider aber sucht man vergeblich nach einer Quellenangabe für diese Selbstoffenbarung von Adorno. Wie jeder Musikliebhaber weiß, basiert die Musik der Beatles auf Schönbergs Zwölftontechnik; und jedem, der schon einmal auch nur einen Blick in die Werke von Adorno geworfen hat, leuchtet sofort ein, dass Adorno am laufenden Band hitverdächtige Zeilen wie »Yeah, Yeah, Yeah« oder später auch »Lucy in the Sky with Diamonds« und »I’m the Walrus« einfallen mussten. Als ihm die Beatles nicht mehr zum Angriff auf den westlichen Kapitalismus reichten, entwickelte er laut Coleman den »Heavy Metal«. Auch das muss als posthume Kreation angesehen werden, selbst wenn man »Heavy Metal« mit dem Album »Led Zeppelin II« beginnen lässt, das im Oktober 1969 erschien. Adorno starb im August des Jahres. Der Begriff allerdings kam erst in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre auf. Und wer um Himmels willen hat dann die unter Adornos Namen publizierte »Negative Dialektik« getextet? Womöglich John Lennon? Oder dann doch eher noch Paul McCartney?
Das traurige Ende vom Lied will ich euch nun ebenfalls nicht vorenthalten: Da John Lennon schließlich rebellierte und »aus dem Adorno-Tavistock-Plan« ausstieg, »sollte das zu seinem Tod führen«. 1980 ist der Teufel Adorno also dem Grab entstiegen und hat seiner guten alten Heimaterde noch einmal die letzte Ehre erwiesen, indem er den Abtrünnigen John Lennon in einem Akt höherer Gerechtigkeit erschoss. Schade eigentlich, dass die LaRouche-Leute Adorno nicht bezichtigen, er habe die Bob-Dylan-Lieder komponiert. Dann wäre er jetzt posthum Literaturnobelpreisträger. Und vielleicht hätte der andre Teufel, Kurt Lewin, sich ja mit ihm freuen dürfen.
Typologie der Verschwörungstheorien
A) Einzelereignisse. Eine Verschwörungstheorie, die ein isoliertes Ereignis betrifft, ist eine Theorie im Sinne einer kriminologischen Hypothese, dass ein Ereignis nicht in der öffentlich kommunizierten Weise abgelaufen sei und dass die offiziell kommunizierte Darstellung der Verschleierung der wahren Drahtzieher des Ereignisses diene. Beispiele betreffen etwa die Person von Shakespeare, die Identität von Jack the Ripper, den Suizid von Marylin Monroe, der Gefangenen der RAF, die Kennedy-Morde, die angeblich nur vorgetäuschte Mondlandung, den Anschlag auf das World Trade Center, die Grenzöffnung in Deutschland 2015, Chemtrails. Weitere, umfassendere (und oft in den Typ B übergehende) Beispiele sind die Behauptung, es gebe eine »Verbotene Ägyptologie« (die Ägypter nutzten schon Hochtechnologie, die unserer heutigen sogar überlegen war), Karl der Große stelle nichts als eine Fiktion dar (dreihundert Jahre im frühen europäischen Mittelalter habe es nicht gegeben) und die Erde sei flach. Verschwörungshypothesen bezogen auf Einzelereignisse sind im Prinzip wahr oder falsch, sie lassen sich mithin verifizieren oder zumindest falsifizieren. Häufige Schwachstellen in Verschwörungstheorien dieses Typs, die die Auseinandersetzung mit ihnen oft schwierig und anstrengend machen, sind allerdings:
A.1. Eine Lücke in der offiziellen Darstellung wird bereits als Beweis genommen, dass etwas vertuscht werden solle. Jede Lücke müsse als beabsichtigt gewertet werden.
A.2. Ein Zweifel an der Richtigkeit eines Details in der offiziellen Darstellung wird bereits als Beweis genommen, dass sie insgesamt falsch sei.
A.3. Der (vermeintliche) Beweis, dass die offizielle Darstellung falsch sei, wird bereits als Beweis genommen, dass eine andere, nämlich die vom Verschwörungstheoretiker präsentierte Hypothese richtig sei. (Eine solche Beweisführung ist nur dann stichhaltig, wenn bezüglich eines Faktums logisch gesehen nur zwei Möglichkeiten existieren.)
A4. In der Beantwortung der Frage nach dem die Verschwörung motivierenden Interesse zeigt sich häufig eine Schwachstelle, und zwar in zwei entgegengesetzten Ausprägungen:
A.4.a. Die Behauptung, eine gewisse Personengruppe habe ein Interesse an einem Ereignis, wird bereits als Beweis genommen, dass sie es auch bewirkt habe. In jeder kriminologischen Untersuchung ist zwar das Motiv wichtig für die Formulierung einer Hypothese über den Täter, doch kann das Motiv allein noch nicht die Täterschaft beweisen.
A.4.b. Umgekehrt gibt es auch Verschwörungstheorien des Typs A, die gar keine nachvollziehbaren Interessen (Motive) namhaft machen können. Die derzeitige Popularität einiger Verschwörungstheorien aus der Kategorie A4b ist fast noch verstörender als die aus der Kategorie A4a.
A.5. Die Beweislage. Viele Verschwörungstheorien präsentieren auf der einen Seite einen fast unübersehbaren (und nur mühsam nachzuvollziehenden) Wust an Beweisen. Damit wird dann bisweilen genau der neuralgische Punkt in der der Kette von Indizien, der unbelegt ist, vernebelt. Das heißt, Verschwörungstheorien funktionieren allzuoft nach dem Prinzip, das sie der Gegenseite unterstellen. Ein guter Beweis ist besser als 1.000 Vermutungen.
A.6. Das Verräterproblem. In der Beantwortung der Frage nach der Akzeptanz der offiziellen, vermeintlich falschen Darstellung zeigt sich die Verwundbarkeit vieler Verschwörungstheorien, die dann meist zum Übergang in den Typ B führt. Wenn es den Verschwörern gelingt, Verrat zu verhindern und Verräter mundtot zu machen, wie kann der Verschwörungstheoretiker selber trotzdem unbehelligt bleiben? Und wenn es einen Verräter gibt bzw. der Verschwörungstheoretiker in der Lage ist, seine alternative Version öffentlich zu machen, warum wird dennoch weiterhin der (falschen) offiziellen Darstellung geglaubt?
Trotz all der Problematik und der Vielzahl von inzwischen kursierenden, teilweise abstrusen Verschwörungshypothesen bleibt festzuhalten, dass es Verschwörungen gegeben hat und weiterhin geben wird (schon Popper hat dies, wohlgemerkt, zugestanden), bestimmte Ereignisse herbeizuführen und ihre Ursachen zu verschleiern. Und es gilt, dass sich eine ernsthafte Verschwörungshypothese nicht durch das Zitieren einer abstrusen anderen Verschwörungshypothese auch nur im geringsten in ihrer Glaubwürdigkeit erschüttern lässt. Sofern eine Verschwörungshypothese tatsächlich ein isoliertes Ereignis betrifft, muss sie auch im Einzelnen gewürdigt werden.
Der politische Wert der Verschwörungstheorien diesen Typs ist es, dass sie den Herrschenden signalisieren, mit Lügen und Vertuschungen nicht durchkommen zu können. Aber einen solchen Wert haben sie nur, wenn sie auch wahr sind. Ansonsten wirken sie diskreditierend. Und auch dies ist wahr: Die Herrschenden haben in der Vergangenheit gern auf Verschwörungstheorien zurückgegriffen und tun dies auch heute noch. In Ungarn etwa lässt der Ministerpräsident durch seine Partei das 2016 erschienene Buch von Andreas von Rétyi über Georges Soros in hoher Auflage verteilen. Es enthält allerdings eine Verschwörungstheorie, die eher dem nun folgenden Typ B zuzurechnen ist.
B) Geschichtsverlauf. Der zweite Typ Verschwörungstheorie schreibt einen größeren Zusammenhang der gegenwärtig oder historisch relevanten Ereignisse dem Wirken einer Verschwörung zu. Derartige Verschwörungstheorien unterscheiden sich formal in dreierlei Hinsicht, nämlich ob sie erstens
B.1.1 eine Gruppe oder
B.1.2 (seltener) zwei im Konflikt miteinander befindliche Gruppen
als die laufenden Ereignisse planend annehmen, ob sie zweitens ausgehen von
B.2.1 einem Geheimbund oder
B.2.2 einer Gruppe, die durch Geburt bestimmt ist (Rasse, Kultur, Religion, Familie) sowie drittens
B.3 in welcher Zeitausdehnung sie das Agieren der Verschwörer ansehen. Eine Verschwörungstheorie kann sich etwa nur auf die unmittelbare Gegenwart beziehen oder weit zurückreichen, in extremen Fällen gar Jahrtausende. Das klassische Negativbeispiel ist die Annahme einer jüdischen Weltverschwörung (eine Gruppe, durch Geburt bestimmt, große Zeitspanne). Andere Beispiel betreffen die Illuminaten, die Freimaurer, die Jesuiten, den Opus Dei, die Verschwörung des »Komitees der 300«, die Bilderberger, die Rothschilds.
Sofern eine Verschwörungstheorie besagt, eine real existierende Gruppe habe sich verschworen, um ein bestimmtes Ereignis (oder eine Reihe von Ereignissen) herbeizuführen und ihre Urheberschaft zu vertuschen, handelt es sich um den Typ A, der zumindest formal falsifizierbar ist. Sie gehört nur dann zum Typ B, wenn der Gruppe der Verschwörer über lange Zeit und in einer gewissen größeren geografischen Ausdehnung die hegemoniale Macht zugesprochen wird. Die hegemoniale Macht begegne keinem (oder nur geringem) Widerstand, sie sei in sich homogen (es gebe keine unterschiedlichen Interessen) und sie sei clever genug, um keine (oder nur geringfügige) Fehler zu begehen, sodass sie ungehindert agieren könne. Dies unterscheidet sich von einer totalitären Herrschaft insofern, als die totalitäre Herrschaft nicht geheim ist, starker innerer Differenzierung unterliegt und ihre Absichten häufig nicht gelingen.
C) Generelle Fragen (an den Typ B der Verschwörungstheorie). Nach meiner Übersicht bleiben Verschwörungstheoretiker, die den Typ B vertreten, meist die Antworten auf drei Schwachpunkte schuldig, nämlich:
Wie gelingt es …
C.1 … den homogenen Willen der Verschwörer, der für einen »Masterplan« notwendig ist, aufrecht zu erhalten? Gruppen von Menschen sind normalerweise von inneren Konflikten und Interessengegensätzen gekennzeichnet; dies gilt auch für straff geführte, hierarchische Organisationen. Die Zwistigkeiten innerhalb einer Gruppe sind mitunter schärfer als die mit Außenstehenden.
C.2 … die Geheimhaltung gegen Verrat zu schützen? Je größer die Gruppe ist und je länger die Verschwörung andauert, um so wahrscheinlicher wird es, dass es Personen gibt, die sich Vorteile ausrechnen, wenn sie Verrat begehen. Ganz besonders schwierig ist die Erklärung der Position des Verschwörungstheoretikers: Die Verschwörer müssen einerseits über große Macht und Skrupellosigkeit verfügen, anderseits lassen sie den Verschwörungstheoretiker unbehelligt.
C.3 … den Plan gegen Scheitern zu wappnen? Je komplexer ein Plan, um so größer ist auch die Gefahr, dass Unvorhergesehenes eintritt oder es zu Widerstand kommt. Würde sich die Planung von welt- und zeitumspannenden Verschwörern umsetzen lassen, hätte auch die Planwirtschaft gelingen sollen.
Für den Typ B der Verschwörungstheorie sehe ich keinen politischen Wert. Verschwörungstheorien dieses Typs vermitteln den Eindruck, die Probleme seien nicht auf das System der staatlichen Herrschaft zurückzuführen, sondern auf das Wirken von geheimen Mächten hinter den Kulissen. Der Staat könne ein guter sein, sofern es gelänge, ihn vom Einfluss der Dunkelmänner zu befreien.
Beschluss
Warum mit Verschwörungstheorien sich befassen? Sie sind Ideologie. Die politisch-wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Welt führen sie auf die böse Absicht einer Gruppe von Verschwörern zurück. Hiermit wird verschleiert, dass die Schwierigkeiten unerwünscht, aber mit Notwendigkeit aus einem System folgen, welches durch Gewalt, Monopol, Zentralismus und Zwang beste Absichten in die schlechtesten Ergebnisse verwandelt. Verschwörungstheorien stellen Verschwörungen dar zugunsten der Herrschenden.
Die Hoffnung darauf, dass der Zar, der Präsident, der große Steuermann, der Führer, die Partei komme und als Superman, als Wonder Woman, als deus ex machina den »Tiefen Staat«, die Verschwörung der Bürokraten, die Gierigen der politischen Klasse, die Psychopathen des Finanzkapitalismus zerschmettere – sie ist nicht nur eitel, sondern hilft dem Staat auch, seine Legitimität aufrechtzuerhalten: Nicht der Staat sei das Problem, sondern die charakterliche Schwäche einiger seiner Vertreter. Das Problem sei zu lösen, indem die problematischen Repräsentanten ausgetauscht werden von solchen Personen, die dem Volk wahrhaft dienen. Soziologie durch Verschwörungstheorie zu ersetzen, mag die einfache, mag die »populärere« Erklärung der Probleme liefern, aber keine Handhabe, sie zu überwinden.
Die Politik, die mit dem Staat ins Leben der Menschen Einzug hält, wird von einer Rationalität geprägt, die an den Notwendigkeiten der Machterhaltung orientiert ist, landläufig »Staatsraison« genannt. Besteht das aufklärerische Versprechen der »rationalen Ordnung« darin, die menschliche Gesellschaft aus dem brutalen Naturzusammenhang zu lösen, so bildet die Staatsraison den mitleidlosen Naturzusammenhang auf gleichsam höherer Stufe ab: Aus ihr gibt es kein Entrinnen; die Staatsraison ist gleichgültig gegen den Menschen wie die Natur: Dialektik der Aufklärung.