von Stefan Blankertz
Der libertäre Diskurs in Deutschland scheint seit letztem Jahr (2015) auf das Thema Migration, Einwanderung, Flüchtlinge, Sicherung der deutschen Staatsgrenze verengt. Dies ist ein großes Glück für die Herrschenden, die hiermit eine Legitimation von ungeahnter Seite erhalten haben und zugleich freie Hand, ohne jede Kritik die Ausweitung staatlicher Tätigkeiten voranzutreiben. Wer behauptet, aus dem libertären Grundsatz des Selbsteigentums würde sich unmittelbar zwingend die Position deduzieren lassen, unter den gegenwärtigen Bedingungen für geschlossene Staatsgrenzen einzutreten, führt meist drei vermeintliche Folgen der Masseneinwanderung ins Feld.
1. Die Flüchtlingswelle münde in höhere Staatsausgaben und damit in höhere Steuern (oder Äquivalenten wie Inflation). Die Argumentation läuft dann so ab: Die Steuerzahler seien, weil ihnen der Staat die Steuern zwangsweise abgenommen hat, die rechtmäßigen Eigentümer des Staats. Der Staat müsse nun im Interesse seiner Eigentümer handeln, insbesondere jede Erhöhung der Ausgaben verhindern, und dazu gehöre dann auch insbesondere die Einschränkung oder gänzliche Unterbindung von Zuwanderung.
Formal will ich zu dieser Argumentationsfigur anmerken: Falls der Staat als Eigentum angesehen wird, trifft die Eigentümerversammlung alle Entscheidungen. Diese Eigentümerversammlung heißt in der BRD »Bundestag«. Eine Eigentümerversammlung kann selbstredend auch gemeinsam zu tätigende Ausgaben beschließen, sofern die Satzung es vorsieht; diese »Satzung« wäre das Grundgesetz. Aber gerade weil die Steuern zwangsweise erhoben werden und kein Austritt aus der Eigentümergemeinschaft möglich ist, ist die Voraussetzung des Arguments, der Staat sei Eigentum der Steuerzahler, eben falsch.
Die Folgerung der Libertären, die die Staatsgrenzen geschlossen sehen wollen, macht darüber hinaus einen zweiten formalen Fehler, der jeden Etatismus kennzeichnet: Die Argumentation unterstellt, dass es nur ein mögliches Interesse der Eigentümer geben könne; eine Unterstellung, die sich selbst widerlegt, da die Eigentümer durchaus divers abstimmen.
Aber es bestehen nicht nur diese formalen Probleme in der Begründung für geschlossene Grenzen. Auch die Unterstellung, dass Zuwanderung ein Minusgeschäft sei, ist zu hinterfragen. Hierzu zitiere ich Ludwig von Mises, nicht weil ich ihn als eine unhinterfragbare Autorität hinstellen will, sondern seines Arguments willen: Im Kapitalismus bestehe (anders als in stationären Wirtschaftssystemen) jede Knappheit letztlich aufgrund von Mangel an Arbeitskräften.
»Die Versuche, die Politik der Einwanderungsbeschränkung vom wirtschaftlichen Standpunkt aus zu rechtfertigen«, schrieb Ludwig von Mises 1927 (Liberalismus, S. 122f), »sind […] von vornherein ganz aussichtslos. Die Einwanderungsbeschränkungen verringern, darüber kann nicht der geringste Zweifel bestehen, die Ergiebigkeit der menschlichen Arbeit. Wenn die Gewerkschaften der Vereinigten Staaten oder Australiens die Einwanderung behindern, so kämpfen sie nicht nur gegen die Interessen der Arbeiter der übrigen Länder der Erde, sondern auch gegen die Interessen aller übrigen Menschen, um sich einen Sondervorteil herauszuschlagen. Dabei bleibt es noch durchaus ungewiss, ob nicht die Steigerung der allgemeinen Ergiebigkeit der menschlichen Arbeit, die durch die Herstellung der vollen Freizügigkeit bewirkt werden könnte, so groß wäre, dass sie auch für die Mitglieder der amerikanischen und australischen Gewerkschaften die Einbuße, die sie durch die Zuwanderung der fremden Arbeiter erfahren könnten, vollkommen wettmachen müsste.«
Nun pflegt der gepflegte Pöbler der sozialen Medien an dieser Stelle einzuwerfen, die Flüchtlinge seien doch wohl nicht die erwarteten und eventuell in Deutschland fehlenden, staatlich gut ausgebildeten und lizenzierten Ärzte und Ingenieure. Aber von Ärzten und Ingenieuren hatte Ludwig von Mises nicht gesprochen, von staatlicher Lizenzierung schon gar nicht. Und selbst wenn es Ärzte und Ingenieure wären, würden man ihnen in Deutschland nicht die Lizenz aushändigen, ihr Können einzubringen, aus genau dem Grund, den Ludwig von Mises bezogen auf die Gewerkschaften genannt hat, nämlich um aus berufsständischen Rücksichten Sondervorteile zu erhalten. Es ist ganz eindeutig der planwirtschaftliche Ansatz und es sind die wirtschaftlichen Interventionen, die dahin führen, dass Zuwanderung als wirtschaftlich nachteilhaft angesehen werden kann.
Eine konkretere Form nimmt das wirtschaftspolitische Argument für geschlossene Grenzen an, wenn darauf verwiesen wird, durch die Zuwanderung drohten die Sozialsysteme zusammenzubrechen. Schon grotesk klingt es, wie sehr sich einige Libertäre dazu haben verleiten lassen, den Status quo des Staats zu verteidigen. Die wirtschaftlichen Interventionen und die Sozialsysteme seien, bauen die libertären Verfechter geschlossener Staatsgrenzen ihre Begründung aus, Fakt und darum müsse man sich pragmatisch dementsprechend verhalten. Doch auch dieses pragmatisch-taktische Argument steht auf tönernen Füßen: Wenn es möglich ist, die Politik des Staats in einem Bereich, also etwa der Zuwanderung, zu beeinflussen und zu korrigieren, ist nicht einzusehen, warum es prinzipiell weniger erfolgversprechend wäre zu versuchen, sie in einem anderen Bereich, dem der Wirtschafts- oder Sozialpolitik, umzugestalten. Oder auch: Falls es einen legitimen Grund darstellt, für geschlossene Staatsgrenzen einzutreten, dass offene Grenzen die Sozialsysteme belasten, dann wäre es ebenso »rational«, beispielsweise gegen Schwarzarbeit einzutreten, weil diese die Sozialsysteme bedroht.
2. Eine andere Folge der Zuwanderung, die nach Ansicht einer Reihe von Libertären das Schließen der Grenzen als einzige freiheitliche Option zulässt, ist die befürchtete Zunahme an Kriminalität., Eine Institution, die das eine nicht fertig bringt, was als ihre zentrale Aufgabe angesehen wird, nämlich Sicherheit, mit der Schaffung dessen zu beauftragen, was sie fortwährend nicht gewährleistet, ist makaber. Aber das bloß am Rande. Auch hier wieder das allgemeine etatistische Muster: Sei nur der »Richtige« am Drücker, macht er es besser. Aber wenn er es tatsächlich besser könnte, wäre es doch zweckdienlicher, dass der Staat seine Aufgabe erfüllt, zum Beispiel vor Kriminalität schützt, als kollektiv Menschen an den Grenzen abzuwehren, egal ob sie nun kriminell sind oder sich vor Kriminalität in Sicherheit bringen wollen.
Es ist übrigens eine unausweichliche Folge des Versagens staatlicher Sicherheitsversprechen, dass die Bevölkerung sich durch kollektive Vorurteile mehr schlecht als recht zu schützen versucht. Das heißt, zunehmende Ausländerfeindlichkeit ist eine natürliche Reaktion auf Staatsversagen in den Bereichen Wirtschaft und Kriminalitätsbekämpfung. Dass auf diese Weise die Legitimität des Staats vergrößert anstatt in Frage gestellt wird, ist bedauerlich und trägt nicht zur Problemlösung bei. Wer statt die Probleme anzugehen, die der Staat schafft, Menschen bekämpft, die unter den Problemen leiden, verfolgt keinen libertären Ansatz, wie ich ihn verstehe.
3. Schließlich wird in zum Teil zunehmend fanatischer Weise als Folge der Migration die Bedrohung ethnischer Homogenität benannt. Libertär kann das dahinter stehende Ideal homogener regionaler Ethnien nur begründet werden mit der bereits genannten Analogie des Staats als Eigentümerkollektiv, das von einem homogenen Interesse bestimmt sei: Weil in einer Gesellschaft von Eigentümern Abwehr von ungewollter Nutzung möglich ist, mithin auch die Aufrechterhaltung einer beispielsweise kulturell, ethnisch oder religiös definierten Ausschließlichkeit, müsse jetzt der Staat eine derartige Homogenität im Interesse der Eigentümer wahren. Von einer Möglichkeit auf eine Notwendigkeit zu schließen, ist logisch unzulässig. Denn Eigentümergemeinschaften können ja durchaus unterschiedliche Nutzungsregeln aufstellen.
Zusätzlich finden sich noch andere, nicht proprietäre Argumentationen für die Aufrechterhaltung ethnischer Homogenität. Da wäre zum Beispiel der Ethnopluralismus, der das Recht eines jeden Volkes auf ein bestimmtes angestammtes Gebiet behauptet. Auch hier leuchtet sofort ein, dass dieses Konstrukt nur greift, sofern ein homogenes Interesse für „das Volk“ an seiner ethnischen Reinheit und der Ausschließlichkeit des von ihm bewohnten Gebiets angenommen wird. Darüber hinaus gibt es überhaupt kaum größere zusammenhängende ethnisch homogene Gebiete, zumindest an den Rändern ergibt sich überall Vermischung, historisch oftmals den staatlichen Grenzen zum Trotz. Homogenität in größeren Territorien ist im Wesentlichen das Ergebnis von staatlichen Kriegen. Schließlich sei noch die klassisch nationalistische Vision der Überlegenheit einer Rasse, Religion oder Kultur genannt. Formeln wie »Deutschland schafft sich durch Migration ab« oder »das deutsche Volk soll durch Vermischung ausgelöscht werden« (Stichworte: »Migrationswaffe« und »Umvolkung«) fallen in diese Kategorie. Hier nur so viel zu diesen Konstrukten: Die Auffassung von »Überlegenheit« widerspricht sich selber, wenn sich diese durch die schiere Anwesenheit von kulturell, religiös oder ethnisch Anderen gefährdet sieht. Eine »Überlegenheit«, die mit blanker Staatsgewalt hergestellt oder aufrecht erhalten werden muss, ist für mich kein Ideal. Insofern spricht keiner, der die nationalistische Karte spielt, in meinem Namen. Da ich Deutscher bin, ist schon allein mit dieser Aussage das Konstrukt eines homogenen Volksinteresses als ideologisch erwiesen. Auch den größten Verfechtern der Vorstellung vom Volks-als-Ganzes ist klar, dass die Homogenität der Interessen im Volk eine Illusion ist; daher der Begriff »Volksverräter«.
Liberalen und libertären Gegnern geschlossener Staatsgrenzen wird von Henryk M. Broder und weniger formulierungsstarken, dafür um so fäkalsprachigeren Facebookern gern »Realitätsverweigerung« vorgeworfen. Die Realität allerdings sieht bei genauem Hinschauen genau andersherum aus, als sie es unterstellen: Die Closed-Border-Libertären zeichnen ein unrealistisches, ein idealistisches Bild vom Staat, der gut sein könnte. Darüber hinaus agieren sie wie alle Etatisten als Bevormunder: Sie wollen ihre Interessen mit Staatsgewalt durchsetzen.
Etwas erweiterte und überarbeitete Version des Statements, vorgetragen beim Libertären Stammtisch Erfurt und Weimar, am 21. Oktober 2016.