Ein Epigramm auf die Schule

Stefan Blankertz

»Verhalten im Systemkontext« von Jürgen Markowitz

System und »(soziales) Epigramm«

1986 veröffentlichte Jürgen Markowitz das Buch »Verhalten im Systemkontext: Zum Begriff des sozialen Epigramms – Diskutiert am Beispiel des Schulunterrichts«. Zu diesem Buch steuerte Niklas Luhmann ein knappes, zustimmendes Vorwort bei. Luhmanns Hauptwerk »Soziale Systeme«, das im gleichen Jahr erschien, konnte Markowitz noch nicht kennen; die neueste im Literaturverzeichnis aufgeführte Schrift Luhmanns ist die über die »Reflexionsprobleme im Erziehungssystem«, zusammen mit Karl-Eberhard Schorr 1979 veröffentlicht. Markowitz strebt eine Verbindung zwischen Systemtheorie und Phänomenologie (genannt werden Edmund Husserls und Maurice Merleau-Ponty) an, um ein Raster für die Verhaltensanalyse namentlich der Schüler und Lehrer zu entwickeln. Ich befrage den Text daraufhin, ob in ihm die mir bei Luhmanns Analyse des Schulsystems aufgefallenen Mängel behoben sind.

Der zentrale Begriff bei Markowitz ist nicht System, sondern »(soziales) Epigramm«. Ein Epigramm ist literaturhistorisch ein Gedicht, das auf einen Denkmal oder einem Grab auf die geehrte oder verstorbene Person hinweist, und sodann als eigenständige Form einen oft spöttischen kurzen Gedanken fasst (ein gereimter Aphorismus). Der Begriff des »sozialen Epigramms« hat sich, soweit ich sehe, nicht durchgesetzt. Mit ihm bezeichnet Markowitz ein Geflecht von zum Teil ausgesprochenen, zum Teil unausgesprochenen Erwartungen oder Regeln, die das Verhalten einer formell oder informell zusammengehaltenen Gruppe bestimmt. Ein Beispiel ist etwa die Frage, wann ein Schüler im Unterricht aufstehen und den Raum verlassen darf. Ausgesprochen sei die Regel, dass er den Lehrer zuerst um Erlaubnis bitten müsse. Dennoch treten Fälle auf, in denen ein Schüler seine Absicht, den Raum zu verlassen, nur mitteilen brauche oder dies sogar wortlos tun könne, ohne Sanktionen befürchten zu müssen.[1] Die Grenze zwischen »erlaubt (regelkonform)« und »unerlaubt« ist nicht einfach zu durchschauen und muss von den Beteiligten erst gelernt werden; auf jeden Fall folgt sie jedoch gewissen Regeln, ansonsten erfolgte Sanktion rein willkürlich. Das Beispiel zeigt übrigens auch, dass es Markowitz bei dem »Beispiel des Schulunterrichts« tatsächlich um ein eher unspezifisches Beispiel geht. Die gleiche Frage wie bei dem Verlassen des Klassenraums durch den Schüler tritt auch im Familienkreis auf, wenn einer aus einer gemeinsamen Situation – der einem Zusammensein im Wohnzimmer – heraus diese verlässt.[2] Über weiter Strecken bemüht Markowitz andere als schulische Beispiele, etwa das Verkehrserhalten eines Autofahrers.[3] Gerne greift er auch auf Beispiele aus dem Tierreich auf, etwa dem Verhalten von Primaten und Delphinen.[4] Dabei zitiert er die Aussagen über tierisches oder menschliches Verhalten von Gregory Bateson bis Paul Watzlawick so, als verkündeten sie geradewegs die Wahrheit. Unterrichtsprotokolle zitiert er, als spiegelten sie die Wirklichkeit eins zu eins wieder. Die Wahl der Beispiele erscheint mir eher dem didaktischen Gesichtspunkt zu folgen, auf welche Weise ein Gedanke am einfachsten zu illustrieren sei. Über die Frage, ob tierisches Verhalten ohne weiteres auf menschliches Verhalten übertragen werden könne, wird an keiner Stelle behandelt. Überdies klingen die Unterrichtsbeispiele, fast ausschließlich entstammen sie dem Kontext dem us-amerikanischen Schulalltag, bereits für 1986 antiquiert, zitieren sie doch vornehmlich Schriften aus den 1950er und 1960er Jahren.

Was versteht Markowitz unter »System«? Während er andere Begriffe ausführlich entwickelt, benutzt der den Begriff »System« stets in der Voraussetzung, der Leser wisse schon, um was es gehe. Ziemlich weit hinten findet sich eher im Vorübergehen die Bemerkung, »das eigentümliche Gefüge der Jeweiligkeit des Systems« sei »die Struktur dessen, was hier als die Aktualität des Epigramms zu fassen versucht wurde«.[5] Weiter vorn heißt es, mit ausdrücklicher Berufung auf Luhmann, lapidar, er ginge »davon aus, daß man das vielfältige, komplexe Prozedere sozialer Interaktion in einer Schulklasse als Sozialsystem, als ein System organisierter Interaktionen ansehen« könne (müsse?).[6] Die beiden Luhmann’schen Kriterien für ein System, »Autonomie« und »Selbstorganisation«,[7] sind damit nicht benannt. Die Definition des Systems durch Markowitz widerspricht derjenigen durch Luhmann nur dann nicht, wenn er für die »Aktualität des Epigramms« reklamieren würde, dass das Epigramm durch die »Mitglieder eines Interaktionssystems« in autonomer Selbstorganisation festgelegt und entwickelt wird. An dieser Stelle tut bei Markowitz sich das gleiche Problem auf wie bei Luhmann.

Bleiben wir bei dem Beispiel, dass ein Schüler den Klassenraum während des Unterrichts verlassen möchte oder faktisch verlässt. Gegenüber der ausgesprochenen Regel, dies sei nur nach dem Einholen der ausdrücklichen Erlaubnis durch den Lehrer erlaubt, ergeben sich sicherlich spezifische unausgesprochene oder sogar ausgesprochene Feinstrukturen der Regel, die von Schule zu Schule und innerhalb einer Schule selbst von Lehrer zu Lehrer unterschiedlich sind. Innerhalb des Epigramms gibt es nun drei Stufen:

1. Die allgemeine Regel, die innerhalb einer gewissen pädagogischen Grundeinstellung für die meisten Schulen eines geographisch integrierten politischen Systems gelten; allerdings kann es Ausnahmen geben wie etwa sogenannte freie oder Alternativschulen. Für die öffentlichen Schulen ist die allgemeine Regel jedoch meist eher politisch vorgegeben, als sie »autonom« im Schulsystem generiert wird. Eine solche »Autonomie« wäre nur in einer korporatistischen politischen Struktur gegeben, in der Körperschaften zwar staatlich mit der Macht ausgestattet werden, eigene Regeln zu formulieren, aber frei sind, sie unabhängig von anderen Bereichen der Legislative zu fassen. Ansätze solch einer korporatistischen Struktur gibt es im Bildungsbereich etwa bei den Universitäten; ansonsten etwa bei berufsständischen Körperschaften oder bei Arbeitsnehmer- und Arbeitgeberverbänden. Die Schulen sind in Deutschland jedoch nicht korporatistisch organisiert. Diese allgemeinen, politisch-administrativ vorgegebenen Regeln sind ausformuliert und können auch Gegenstand von Gerichtsentscheiden werden.

2. Schulinterne Regeln, die im Rahmen der Bandbreite von Auslegungsfähigkeit der politisch-administrativ vorgegebenen Regeln spezifische Festlegungen vornehmen, etwa durch eine Schulordnung, durch Anweisungen des Schuldirektors oder durch Beschluss des Lehrerkollegiums. Auch diese schulinternen Regeln sind meist ausformuliert. Möglich ist allerdings auch, dass eine Art Kultur sich in einer einzelnen Schule bildet, die gemeinsame, unausgesprochene Regeln als Handlungserwartungen artikuliert und tradiert.

3. Lehrerabhängige Regeln, die sich aus der Persönlichkeit des Lehrers im Wechselspiel mit dem Verhalten der Schüler einer Klasse entwickeln. Wie tolerant die jeweilige Schule, aber auch die zuständige politisch-administrative Instanz gegenüber lehrerabhängigen Regeln sind, wenn diese den allgemeinen oder schulinternen Regeln entgegenstehen, hängt wiederum von einer Reihe von Bedingungen ab. So müssen hier noch weitere Einflussfaktoren betrachtet werden, nämlich die Eltern und die Öffentlichkeit. Wenn Eltern mit bestimmten lehrerabhängigen Regeln nicht einverstanden sind, können sie sich beim Schuldirektor, bei der vorgesetzten Behörde oder beim Gericht gegen sie verwahren. In bestimmten Fällen können Handlungen von Lehrern via Medien auch in den Fokus der Öffentlichkeit geraten, insofern sie als Skandal gewertet werden.

Eine solche Klassifikation der Einflussfaktoren auf die Bildung von sozialen Epigrammen nimmt Markowitz freilich nicht vor, weil er wie Luhmann an keiner Stelle Macht oder politische Herrschaft thematisiert. Die Verhaltensregeln und -erwartungen (Epigramme) werden seinen Beschreibungen zufolge zwar sozial codiert, jedoch scheint laut Markowitz Macht, Herrschaft oder auch nur ein asymmetrischer Einfluss der verschiede Beteiligten keine nennenswerte Rolle zu spielen. Dies werde ich am Beispiel der Disziplinprobleme im Einzelnen nachzeichnen. Hier vorab ein Unterrichtsprotokoll, dass Markowitz zitiert, ohne den Aspekt der Macht auch nur zu streifen. Es handelt sich darum, dass eine Schülerin etwas vorträgt und beobachtet das Blickverhalten der Klasse: »Keine einzige im Bildausschnitt sichtbare (Schülerin) schaut (Schülerin 6) an, alle sehen (zum Lehrer), um auf seinen Zügen möglichst früh ablesen zu können, ob der Beitrag von (Schülerin 6) sein Wohlgefallen findet.«[8] Unabhängig davon, dass die Aussage »um … ablesen zu können«, keine Beobachtung, sondern eine – vermutlich richtige, jedenfalls mir unmittelbar einleuchtende – Interpretation oder Projektion darstellt: Wenn die Projektion oder Interpretation zutrifft, dann tun die Mitschüler dies, weil ihr Interesse nicht darin besteht, zu hören, was die junge Frau zu sagen hat, sondern das Urteil der Autoritätsperson abschätzen zu können. In einem Lernkontext, der durch Interesse strukturiert ist, wäre das Blickverhalten anders. Diesen Gedanken nehme ich am Ende der Lektüre des Markowitz-Buches noch einmal auf.

Schulische Disziplinprobleme

Disziplinprobleme sind das Zentrum dessen, was Markowitz beschreibt; allerdings benutzt er es meist verquaste Euphemismen wie »okkulte (verdeckte) Engagements«,[9] »Störverhalten«[10] oder Verweigerung der »Disponibilität« oder »Folgebereitschaft«;[11] Begriffe wie Disziplin, Disziplinlosigkeit, Disziplinierung und Sanktion kommen selten vor. Rund die Hälfte seines Buches ist dem Problem der Aufmerksamkeit gewidmet, was er »Attention« nennt. Es geht um den Wechsel der Aufmerksamkeit des Lehrers zwischen dem Stoff, dem aktiven Schüler (der etwa eine Antwort gibt) und der Klasse, um zu prüfen, ob die übrigen Schüler dem Unterricht folgen, sich passiv entziehen oder aktiv stören. Sowohl bei Passivität als auch beim Stören stellt dem Lehrer sich die Herausforderung, ob er eingreifen solle und in welcher Form der ermahnende oder sanktionierende Eingriff zu erfolgen habe. Diesen Vorgang nennt Markowitz »attentionales Alternieren«,[12] Wechselspiel der Aufmerksamkeit. Aber warum verweigern manche Schüler sich passiv dem Lernangebot und andere sabotieren es aktiv durch Stören? Und warum muss der Lehrer darauf achten, die Passiven zur Aufmerksamkeit zu ermahnen?

Noch zu Beginn seiner Ausführungen stellt Markowitz eine entscheidende Frage, auf die er meines Erachtens später weder eingeht, geschweige denn eine Antwort präsentiert: »Warum lernen manche Schüler, warum viele andere jedoch nicht?« Er bietet eine mögliche Antwort aus der pädagogischen Literatur an, die ihm (zurecht) als doch recht beschränkt vorkommt: »Können wir uns mit dem limitierenden Verweis auf die jeweilige ›biographische Situation‹ begnügen?« Damit meint er (vermutlich) die Erklärung von unterschiedlichen Reaktionen auf das Lernangebot in der Schule, die durch die Sozialisation in der Familie und in dem Umfeld gegeben sind (Stichworte: Bildungsnähe und Bildungsferne, subkulturelle Orientierung). Und schließlich formuliert er als »forschungsleitendes Interesse«: »Warum partizipieren Menschen – z.B. Schüler oder politische Bürger – so ungemein unterschiedlich an Kontexten, in denen – ob mit ihnen oder ohne sie – auch über ihr Geschick entschieden wird?«[13] So dicht an die Machtfrage, nämlich dass in der Schule über das Geschick der Schüler entschieden werde, kommt er an keiner Stelle später. Auch die Ausweitung der Frage auf die politische Teilnahme (Partizipation) kommt nicht wieder vor.

In der Schule geht es demnach nicht nur um Lehren und Lernen, sondern auch, vielleicht sogar vordringlich um das »Geschick« (Schicksal) der Schüler: Über ihre Möglichkeiten und Chancen im späteren Leben, ganz speziell über ihre ökonomische Zukunft (Stichwort: Berechtigungswesen). Diese beruflich-ökonomischen Möglichkeiten und Chancen – Geschicke – werden wesentlich über die Zeugnisse definiert. Die Themen Notengeben und Abschlüsse jedoch sucht man in Markowitz’ weiteren Ausführungen vergebens. Selbst die Anwendbarkeit des Gelernten im späteren Leben und die Brauchbarkeit desselben für den Beruf sind kein Gegenstand der Reflektion mehr. An keiner Stelle des Textes geht es darum, ob das, was gelehrt wird, in sich sinnvoll, ob es für die Schüler nützlich, brauchbar oder auch nur von augenblicklichem (vorübergehendem) Interesse sei.

Nach diesen Überlegungen könnte ein Schüler möglicherweise dann in Tagträume abdriften, mit dem Banknachbar quatschen oder zur Sabotage (Störung) greifen, wenn er

– an dem Stoff des Unterrichts kein aktuelles Interesse hat (er driftet in Gedanken zu dem ab, was ihn momentan beschäftigt; trägt einen Konflikt mit Klassenkameraden aus usw.). Das hehre pädagogische Ziel ist es, der Lehrer möge das (aktuelle) Interesse im Schüler »wecken«. Manchmal gelingt dies. Aber niemals verliert man in der Wissenschaft auch nur ein Wort darüber, was geschieht, wenn es nicht klappt!

– den Stoff oder die spezifische Herangehensweise des Lehrers für sein Fortkommen als nicht nützlich ansieht. Oft ist der Verweis, man brauche den Stoff später im Leben (vulgo: im Beruf). Doch meist wissen die Schüler, die ein klares berufliches Ziel bereits haben, viel besser als die Lehrer, was sie brauchen werden. Und für alle anderen ist die Motivation über die Nützlichkeit des Stoffs eh für die Katz.

– die Erfahrung gemacht hat, dass, egal was er anstellt (zum Beispiel Nachfragen), er sowieso von dem Lehrer ignoriert oder gar schikaniert und gedemütigt wird. Demütigung! Schikane! Selbst wenn jemand zu den glücklichen Schülern gehört, die dies nicht am eigenen Leib erfahren haben, kennt es nicht von Klassenkameraden! Und wo gibt es die pädagogische, erziehungswissenschaftliche, soziologische oder psychologische Beschäftigung mit diesen alltäglichen Erfahrungen!

Die Sinnfälligkeit weder des Lehrer- noch des Schülerverhaltens erörtert Markowitz, obgleich er in seiner erkenntnistheoretischen Einleitung an Edmund Husserls Begriff der »Intentionalität« anknüpft.[14] Er zitiert vielmehr einen Soziologen aus den 1950er Jahren, der Lehrer sei »verpflichtet, die Ordnung aufrechtzuerhalten«.[15] Wie stets steht die Aussage des Zitats da, als verkünde sie ex cathedra die Wahrheit; eine andere Interpretation der Pflicht des Lehrers gab es nicht und gibt es nicht. Aber ist die Ordnung Selbstzweck? Und haben die Angriffe auf die Ordnung, mithin Konflikte mit den Schülern (denn ohne Angriff auf die Ordnung keine Notwendigkeit, sie »aufrechtzuerhalten«, also zu verteidigen), keine Gründe? Statt auf solch naheliegenden Fragen einzugehen, schließt Markowitz folgendermaßen an das Zitat an: »Die Verantwortlichkeit des Lehrers nötigt ihn dazu, sämtliche seiner Schuler mit Aufmerksamkeit zu belegen.«[16] Das Verteidigen der Ordnung wird mit dieser Formulierung zum allein technischen Problem. Dass es sich hierbei um ein Problem der Disziplinierung handelt, wird nur indirekt deutlich an den Unterrichtsprotokollen, die Markowitz zitiert, und die von den Anweisungen und Zurechtweisungen handeln, mit denen ein Lehrer »fast gleichzeitig« verschiedene Schüler bedenkt.[17] In diesem Zusammenhang zitiert Markowitz auch eine Beschreibung der Situation in einer us-amerikanischen Schule eines Problembezirks, an der Disziplinierung nicht mehr gelingt und die Schüler regulären Unterricht verunmöglichen.[18] Auch an dieser Stelle kehrt er nicht zu seiner Frage zurück, warum die Schüler in diesem Fall nahezu geschlossen den Unterricht sabotieren, der doch »auch über ihr Geschick entscheidet«.[19] Vielleicht deshalb, weil die Schüler bereits wissen, dass der Unterricht ihnen das ihnen zugedachte Geschick (Schicksal) nicht ersparen wird? Wie dem auch sei, es liegt hier vermutlich nicht ein Problem vor, das sich durch die rechte Form der Aufmerksamkeit lösen lässt.

Trotz dieser Zitate behauptet Markowitz dann im weiteren Verlauf seiner Überlegungen, »gravierende« Fälle von »Regelverletzungen« seien »nicht typisch für den unterrichtlichen Alltag«.[20] Später schließt er an ein Zitat von Irenäus Eibl-Eibesfeldt zu der Tendenz von Tier und Mensch, geschützte Nischen und Höhlen aufzusuchen, die Bemerkung an: »Die Schule ist, gemessen an solch einer basalen Disposition, natürlich eine befriedeter Bereich, Existentielle Betreffbarkeit gehört nicht zu diesem Alltag.« Damit vergisst er nicht nur sein eigenes Zitat zu den Zuständen in einer Schule eines sozialen Brennpunkts, sondern auch den alltäglichen Wahnsinn von Demütigung der Schüler und einer Drangsalierung von Lehrern, die ihren Beruf zu dem mit einer hohen Rate von Frühverrentung macht: »Jeder vierte [Lehrer] scheidet weit vor Erreichen des Rentenalters infolge einer psychischen Erkrankung aus.«[21] Von diesem Datum schweigt Markowitz, wie wenn es keine Bedeutung für das »Verhalten im Systemkontext« habe, Aber es kommt noch schlimmer: »[Als befriedeter Bereich] ist [die Schule] gedacht. Ob das alltäglich erreicht werden kann, hängt nicht unwesentlich ab von der Disponibilität der Schüler.«[22] Mit »Disponibilität« der Schüler ist nun nichts anderes als deren »Folgebereitschaft« bezeichnet; Aktivitäten außerhalb der Folgebereitschaft (außerhalb »der glatten Fassade der Aufmerksamkeit«) nennt Markowitz »verdeckte Engagements«,[23] oder ganz profan »Störverhalten«.[24] Und hiermit landen wir bei der Aussage, die Schule sei dann ein befriedeter Bereich, sofern die Schüler Gehorsam üben, sofern sie auf »verdeckte Engagements« verzichten.

Aber aus welchem Grund weichen Schüler auf »verdeckte Engagements« aus? Die Frage stellt Markowitz nicht, sie kommt wiederum nur versteckt in einer Nebenbemerkung eines Zitats von einem Lehrers vor, ohne dass er sie weiter interpretiert: »Es ist erstaunlich […], wenn es um Sachen geht, die sie für wichtig halten – nicht erwischt werden … sie setzen ihren Verstand manchmal verkehrt ein.«[25] Was für eine Pädagogik, in der das, was die Schüler für wichtig halten, ein verkehrter Einsatz des Verstandes ist!

Alternativen zur Schule

Anders als bei Luhmann tut sich bei Markowitz allerdings ein Spalt in der Tür zur Einsicht auf, dass es erstens bestimmte politische Festlegungen sind, die die Schule zu dem machen, was sie ist, sie also nicht einer Systemnotwendigkeit entspringt, und zum anderen dass es eine andere Möglichkeit der Schulorganisation gäbe. Beide Einsichten sind freilich versteckt – »okkult« sozusagen – und die Möglichkeit einer Alternative wird nur indirekt angesprochen.

Der Modus der sozialen Integration, den die (öffentliche, staatliche) Schule darstellt, lege fest, so Markowitz, »daß junge Menschen mit erheblichem Bewegungsdrang für die Dauer mehrerer Stunden eines Tages möglichst bewegungslos an einer Stelle sitzen bleiben müssen und daß ihnen außerdem auch noch minutiös vorgeschrieben wird, wann sie mit wem worüber und wie reden dürfen«.[26] Dies klingt fast schon schulkritisch; jedoch erfolgt eine Rückbindung dieses Statements an die Problematik der Disziplin nicht.

Die »Grundentscheidung«, »wonach Unterricht kaserniert stattzufinden habe«[27] und auf einer »Zwangsmitgliedschaft« (Verweis auf Schulpflicht?) beruhe, geht laut Markowitz mit einem »Autonomieverlust« (der Schüler) einher, »da die Schüler die Erziehungsziele nicht selbst ausgesucht haben«.[28] Diese Grundentscheidung ist »normativ«[29] und legitimiert die Beschneidung der Autonomie; wie aber ist die normative Grundentscheidung legitimiert? Dazu kein Wort, außer der Hinweis, »in der politischen Umwelt« gebe es »heftige Auseinandersetzungen« um Fragen der Gestaltung der Schule.[30] Als die allgemein für die Schule akzeptierte und ihrer Gestaltung zugrundeliegende Norm benennt Markowitz das »Recht auf Bildung«, aus dem das »Konzept der Chancengleichheit« abzuleiten sei.[31]

Freilich ist das mit »Autonomieverlust« und »Zwangsmitgliedschaft« – beides Kennzeichnungen, die Markowitz benutzt – erkaufte »Recht auf Bildung« und seine »Chancengleichheit« nur dann begrifflich zu halten, wenn man eine »gleiche Kompetenz« aller Kinder projiziert (zudem, über Markowitz hinaus: ein gleiches Interesse). Markowitz nennt diese Projektion »fiktional«,[32] denn sie widerspricht offensichtlich jeder Empirie. Für die Kinder, die in der Schule nichts lernen, als dass sie Versager sind, realisiert sich kein Recht auf Bildung und keine Chancengleichheit. Die tatsächliche Ungleichheit (oder Individualität) der Kinder könne, so zitiert Markowitz den us-amerikanischen Anthropologen Jules Henry (1904-1969), die Schule nicht handhaben.[33] Obwohl der zitierte Autor sein Statement dezidiert kritisch meinte – das Buch, dem es entnommen ist, trägt den Titel »Culture Against Man« (1963) und vertritt die (an Sigmund Freuds »Unbehagen in der Kultur« erinnernde) These, viele kulturelle Institutionen des modernen Lebens schadeten den Menschen –, folgt bei Markowitz nicht die Frage, ob und gegebenenfalls wie Lernen, Schule und Bildung eventuell anders organisiert werden könnten, sodass der Individualität der Aufwachsenden Rechnung getragen wird.

Es gibt genau eine Stelle, an der Markowitz die Möglichkeit einer Alternative diskutiert. Sie zitiere ich ausführlicher, um sie dann zu interpretieren:

»Schulen wie zum Beispiel Tvind, aber auch die meisten traditionellen Privatschulen, schließen Schüler endgültig aus, wenn festgestellt wird, daß mit ihnen der Konsens nicht herstellbar ist. […] ›Öffentliche Schulen wirken u.a. deshalb gewaltsamer, weil sie nicht die Möglichkeit haben, Kinder oder Jugendliche, die den Grundkonsens nicht einhalten, von der Schule zu verweisen. Sie müssen also den Konsens erzwingen, was, wenn es nur noch gewaltsam geschieht, ein Widerspruch in sich ist‹ (Lingelbach, Diederich […]). […] In der Jensener Pädagogik z.B. wurde versucht, dem Auseinanderfallen […] in Form von Patenschaften zu begegnen. ›Ältere Schuler übernahmen für Jüngere die Verantwortung und damit zugleich die Verpflichtung, sich selbst vorbildlich zu verhalten‹ (Lingelbach/Diederich […]).«[34]

Tvind-Schulen wurden 1973 in Dänemark aus dem alternativen Hippie-Milieu heraus gegründet. Sie sind den deutschen Alternativ-, freien und antiautoritären Schulen jener Zeit in Deutschland ähnlich (und es fragt sich, weshalb Markowitz nicht etwa auf die Freie Schule Frankfurt verwiesen hat). Ende der 1980er Jahre gerieten die Tvind-Schulen aufgrund von unterstellter Sektenhaftigkeit und von undurchsichtigen Finanzierungspraktiken sowie von angeblich fehlender Sicherheit der Schüler nach einem tragischen Unglück mit Todesopfern in die Kritik, in den 2000er Jahren wurden verschiedene Prozesse gegen Repräsentanten der Schulen geführt. Es ist hier nicht der Ort, diese Details zu überprüfen.

Der Begriff »Jensener Pädagogik« verweist auf den sogenannten »Jenaplan« des Refompädagogen Peter Peterson (1884-1952), den dieser an der Universität Jena in den 1920er Jahren entwickelt hatte. Heute gibt es, trotz der Kritik an Peterson als (angeblicher) Parteigänger des Nationalsozialismus, eine Reihe von Schulen, die dem Jenaplan folgen, der als Grundprinzipien die Einzigartigkeit jedes Menschen und einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess der Schule statuiert. Auch in diesem Fall ist ein Eingehen auf die Details und die Frage der Berechtigung der Kritik nicht notwendig. Entscheidend für die vorliegende Problematik ist eine Diskussion der Aspekte Ausschluss und (was Markowitz nicht nennt) Austritt.

Zunächst einmal sei festgestellt, dass es auch im öffentlichen Schulsystem den Ausschluss gibt, den Schulverweis. Im Bereich nach der Vollzeitschulpflicht wird ein der Schule verwiesener Schüler, sofern keine andere weiterführende Schule ihn aufnimmt, teilzeitschulpflichtig (Berufsschule) bis zu dem Alter, in dem die Schulpflicht ganz erlöscht. Doch kommt es auch bei Schulen im Bereich der Vollzeitschulpflicht gelegentlich zum Schulverweis, weil meist keine absolute Verpflichtung einer einzelnen Schule besteht, jeden Schüler anzunehmen und unter allen Bedingungen zu dulden. Der Schulverweis bei vollzeitschulpflichtigen Kindern führt zu der paradoxen Situation, dass sie bzw. ihre Eltern sich aufgrund des Verstoßes gegen die Schulpflicht strafbar machen, andererseits ihnen keine Möglichkeit offensteht, ihrer »Pflicht« nachzukommen. In vielen Fällen wird das Nichtzurschulegehen dieser »schwierigen«, »renitenten«, »aggressiven« Kinder – Kinder mit »herausforderndem Verhalten« – von den Behörden stillschweigend geduldet. Um wie viele Kinder es sich handelt, ist unbekannt, da Daten hierfür von den Behörden nicht erhoben oder nicht veröffentlicht werden, genauso wie es keine Daten gibt, wieviele Kinder sich in Erzwingungshaft befinden bzw. wieviele Eltern von Zwangsmaßnahmen betroffen sind. Aber niemand bestreitet, dass es vorkommt. Das heißt: Es gibt Schüler, bei denen die Integrationsmechanismen versagen. Sie haben derzeit kaum Alternativen. Und es gibt Kinder, die, obwohl der Weg zur Partizipation an der Gesellschaft besonders in ökonomischer Hinsicht fast einzig an der erreichten Schulbildung hängt, den Besuch der Schule verweigern.

Was würde sich ändern, würde die Grundentscheidung über die Organisation des Schulsystems die Möglichkeit des Austritts (seitens der Schüler) und Ausschlusses (seitens der Schule) einräumen? Ganz offensichtlich würde jedenfalls ein Teil der Konfrontation von Schülern und Lehrern wegfallen, die Lehrer wären nicht neben ihrer Funktion als Lehrer auch Vollstrecker der Zwangsmaßnahmen, denn Unwillige könnten austreten. Und durch die Möglichkeit des Ausschlusses könnten renitente Störer, die nicht nur den Lehrer, sondern auch die lernwilligen Mitschüler belasten, entfernt werden. Allerdings entstammt ein anderer Teil des Zwangscharakters der Schule nicht der Pflicht zu ihrem Besuch, vielmehr dem Berechtigungswesen, das Markowitz freilich unberührt lässt (ich habe es ausführlich im Zusammenhang der Luhmann-Lektüre diskutiert).

Erinnern wir uns an das Beispiel des Blickverhaltens im Unterricht, das Markowitz zitiert.[35] So unauffällig es scheinen mag, es gibt doch Einblick in das Grundproblem eines Unterrichts, der durch Schulpflicht und Berechtigungswesen gekennzeichnet wird. Das Interesse der Schüler richtet sich nicht auf die Sache und aufs Lernen, sondern auf das Wohlwollen des Lehrers: Nicht das, was die Schülerin sagt, ist von Interesse, sondern wie der Lehrer es einschätzt. In einer Sprachschule, in einer Fortbildungsveranstaltung und in allen anderen Situationen einer freiwilligen Teilnahme an einem Lernprozess wird die Aufmerksamkeit sich auf den richten, der gerade etwas Substanziellen beiträgt, nicht auf den Leiter des Prozesses, wenn dieser nicht selber spricht.

Auf seine eingangs gestellte Frage, warum Schüler teilweise die Partizipation in einem Prozess zeitweise oder vollkommen verweigern, der doch über ihr »Geschick« bestimme,[36] nimmt Markowitz in seinen weiteren Ausführungen keinen Bezug mehr. Die Antwort lautet, meines Erachtens eindeutig und unzweifelhaft, dass die erzwungene Teilnahme (Schulpflicht) und die Erfahrung, in der Schule eben das eigene Geschick nicht positiv beeinflussen zu können, zumindest die beiden wesentlichen Faktoren für die vielbeschworenen und beklagten Disziplinprobleme in der Schule sind.

Die nächstliegende Frage, warum die Schule so organisiert und strukturiert sei, wie sie es ist, stellt Markowitz erst gar nicht; warum die von ihm immerhin angedeuteten Alternativen nicht erlaubt oder in ihrer Reichweite stark eingeschränkt werden. Luhmann gibt folgende Antwort: Die Schule mit ihrer Struktur der erzwungenen Teilnahme und ihrer Vergabe der Berechtigungen zur Partizipation an den gesellschaftlich-ökonomischen Chancen diene der sozialen Integration. Und diese Art der Integration sei objektiv alternativlos (also kein möglicher Gegenstand einer anderen politischen Entscheidung). Doch das leuchtet nicht ein. Denn Freiwilligkeit würde ebenfalls eine soziale Integration bewirken, ja  sie integriert in noch viel weitergehenden Weise sozial: Mehr Kinder hätten bessere Chancen, ihr »Geschick« (ihre ökonomischen und sozialen Chancen) positiv zu beeinflussen. Recht auf Bildung und Chancengleichheit wären in viel effektiverer Form verwirklicht.

Fazit: Markowitz hat aufgrund seiner Phänomenologie einen etwas realistischen Blick auf die die Schulwirklichkeit, heilt aber nicht die systemtheoretischen Defizite Luhmanns.


[1] Jürgen Markowitz, Verhalten im Systemkontext: Zum Begriff des sozialen Epigramms – diskutiert am Beispiel des Schulunterrichts, Frankfurt/M. 1986, S. 70ff.

[2] Jürgen Markowitz, S. 255.

[3] Jürgen Markowitz, S. 190.

[4] Jürgen Markowitz, z.B. S. 90 (Primaten), S. 113 (Delphine).

[5] Jürgen Markowitz, S. 275: »Die Mitglieder eines Interaktionssystems [beziehen] sich ›immer schon‹ – in einer nur selten bewußten Weise – auf das eigentümliche Gefüge der Jeweiligkeit des Systems, eben auf die Struktur dessen, was hier als die Aktualität des Epigramms zu fassen versucht wurde.»

[6] Jürgen Markowitz, S. 17.

[7] Niklas Luhmann, Das Erziehungssystem der Gesellschaft (1998), Frankfurt/M. 2002, S. 123.

[8] Jürgen Markowitz, S. 269.

[9] Jürgen Markowitz, S. 76, S. 81ff.

[10] Jürgen Markowitz, S. 190.

[11] Jürgen Markowitz, S. 74ff, S. 81.

[12] Jürgen Markowitz, S. 13.

[13] Jürgen Markowitz. S. 39.

[14] Jürgen Markowitz, S, 11.

[15] Jürgen Markowitz, S. 59. Bei dem zitierten Soziologen handelt es sich um Wayne C. Gordon (1941-2020).

[16] Jürgen Markowitz, S. 59.

[17] Jürgen Markowitz, S. 60f.

[18] Jürgen Markowitz, S. 66.

[19] Jürgen Markowitz, S. 39. Siehe oben.

[20] Jürgen Markowitz, S. 71.

[21] Karl Oswald Bauer im Vorwort zu: Pierre W. Kemna, Messung pädagogischer Basiskompetenzen von Lehrerinnen und Lehrern, Münster 2012, S. 9.

[22] Jürgen Markowitz, S. 80.

[23] Jürgen Markowitz, S. 81.

[24] Jürgen Markowitz, S. 190.

[25] Jürgen Markowitz, S. 82.

[26] Jürgen Markowitz, S. 273.

[27] Jürgen Markowitz, S. 267.

[28] Jürgen Markowitz, S. 260.

[29] Jürgen Markowitz, S. 155.

[30] Jürgen Markowitz, S. 166.

[31] Jürgen Markowitz, S. 155.

[32] Jürgen Markowitz, S. 155.

[33] Jürgen Markowitz, S. 145.

[34] Jürgen Markowitz, S. 291.

[35] Jürgen Markowitz, S. 269. Siehe oben.

[36] Jürgen Markowitz, S. 39. Siehe oben.