Gegen die Demo-Kratik

von Stefan Blankertz

Inhalt

Vorbemerkung

Katallaktik versus (Demo-) Kratik

Misstraut der Mehrheit: Antagonistische Demokratik

Ideologie: Ungerechtfertigte Rechtfertigung

Auto-Bibliographischer Abriss

Vorbemerkung

Dieser Essay ist ohne Quellenangaben und mit nur wenigen konkreten historischen Beispielen ausgestattet. Das macht ihn allgemein und gut lesbar. Dennoch hätte ich das Verfahren nicht gewählt, hätte ich nicht bereits vielfach über Demokratie > Demokratik geschrieben und fänden sich dort nicht genügend historische Beispiele und die Quellen, auf die ich meine Analyse stütze. Im »Auto-Bibliographischen Abriss« am Ende finden sich einige Hinweise. – Die bemerkenswerten Vorgänge rund um die Präsidentschaftswahl in den USA 2020 verleihen der libertären Kritik an der Demokratie als Herrschaftsform (Kratie) erneut höchste Aktualität.

Katallaktik versus (Demo-) Kratik

Katallaktik oder Katalaxie. Griechisch καταλλαγή (katallage). Versöhnung. Tausch. Nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht eignet sich die Lehre von den Gesetzmäßigkeiten des Handelns auch zur Charakterisierung aller freiwilliger Interaktionen. In einer freiwilligen Interaktion sieht jeder Beteiligte zumindest vorab (ex ante) einen Sinn, einen Vorteil, einen Nutzen; ob sich die Erwartung im Nachhinein (ex post) auch einstellt, steht auf einem anderen Blatt. Es ist dabei egal, ob die Beteiligten wirtschaftliche Güter oder Freundlichkeiten austauschen, es ist egal, ob bei der Interaktion materielle oder immaterielle Güter im Spiel sind oder ob auf der einen Seite materielle, auf der anderen Seite immaterielle Güter eingesetzt werden. Im Vordergrund steht, dass beide Seiten sich im Plus sehen; sobald das sich ändern sollte, ziehen sie sich aus der Interaktion zurück. Dass sie sich zurückziehen können, macht die Charakterisierung aus, freiwillig zu geschehen.

Kratik. Griechisch κράτος (kratos). Gewalt. Macht. Herrschaft. Der Mensch ist leider Gottes auch dazu fähig, »Ungüter« gegen Güter zu tauschen. Das klassische Beispiel ist der Bandit, der von dem Überfallenen dessen Habseligkeiten fordert und ihm andernfalls Schläge oder gar den Tod androht. Der Bandit »tauscht« mit dem Überfallenen seinen Verzicht auf den Einsatz körperlicher Gewalt gegen dessen Güter. Sicherlich erhält nicht nur der Bandit ein Gut, sondern auch der Überfallene realisiert einen Vorteil, nämlich dass er körperlich unversehrt bleibt. Dennoch ist das keine freiwillige, katallaktische Interaktion. Der Bandit ist und bleibt der Feind. Das, was er im Tausch anbietet, ist die Vermeidung eines Unglücks, das ohne den Banditen den Überfallenen gar nicht getroffen hätte. Der Bandit ist nicht der Retter in der Not, der gute Samariter. – Meine Verwendung des Wortes verdanke ich der Anregung von Rahim Taghizadegan.

Im Folgenden werde ich zeigen, dass die Demokratie tatsächlich eine Kratik ist, weit davon entfernt, eine Segen zu sein. Sie trägt ihren Namen zurecht, denn sie ist die Gewalt des Volkes, genauer gesagt, der Mehrheit. Wie  die Diktatur tauscht sie den Verzicht darauf, (Staats-) Gewalt einzusetzen, gegen die Unterwerfung – idealtypisch der Minderheit unter das Diktat der Mehrheit, in jeder soziologisch realistischen Einschätzung der Mehrheit unter das Diktat der Minderheit, die die Macht im Staat erobern konnte. Wir werden sehen, dass der vielbeschworene Schutz der Minderheit reine Makulatur ist.

»Die für die Welt von Auschwitz charakteristischen Typen […] bezeichnet […] die blinde Identifikation mit dem Kollektiv. … Für das Allerwichtigste gegenüber der Gefahr einer Wiederholung [von Auschwitz] halte ich, der blinden Vormacht aller Kollektive entgegenzuarbeiten, den Widerstand gegen sie dadurch zu steigern, dass man das Problem der Kollektivierung ins Licht rückt.«

Theodor W. Adorno, Erziehung nach Auschwitz (1966), in: Stichworte, Frankfurt am Main 1970, S. 92:

Misstraut der Mehrheit

Antagonistische Demokratik

Demokratie scheint alternativlos zu sein. Bei genauerer Betrachtung der Rechtfertigung der Demokratie ergeben sich allerdings Widersprüche. Da sie zwar offensichtlich sind, aber niemals angesprochen werden, geschweige denn ausgeräumt, kommen Zweifel auf, ob die Rechtfertigung der Demokratie überhaupt mehr ist als eine Ideologie zur Kaschierung ganz anderer Interessen als des Interesses, eine gute und gerechte Form der Ausübung von Staatsgewalt zu begründen.

Der erste Widerspruch tut sich auf, wenn die (moderne) »Demokratie« einerseits als Mehrheitsherrschaft, andererseits als Minderheitenschutz definiert wird. Man nennt beides so zusammen, als ergebe sich das eine aus dem anderen. Dem ist aber nicht so, weder historisch noch systematisch gesehen. Die Mehrheit kann beschließen, die Minderheit zu unterdrücken. Es gibt keine systematische Begründung, warum das unmöglich sein sollte (außer die Annahme, dass die Mehrheit stets gut und tolerant entscheiden werde), und es gibt schmerzliche historische Beispiele dafür.

Der Minderheitenschutz gilt ganz besonders als Bestandteil der »Demokratie«, wenn es darum geht, dass die in einer Wahl unterlegene Partei weder unterdrückt noch auch nur benachteiligt werde, bei der nächsten Wahl zu versuchen, die Mehrheit zu erringen. Wenn diese Form von Minderheitenschutz nicht gewährleistet ist, ist es möglich, dass die Demokratik durch eine Mehrheitsentscheidung, mithin auf demokratischem Wege abgeschafft wird. Es scheint also eine logische Bedingung zu sein, dass die formale Durchführung der Demokratik den Schutz der Oppositionsparteien voraussetzt. Allerdings ist diese Koppelung mehr als fragwürdig. Jeder demokratische Verein kann sich per Mehrheitsbeschluss selber auflösen, jeder demokratische Verein kann sich per Mehrheitsbeschluss eine andere Verfassung geben, etwa die einer Aktiengesellschaft, einer Genossenschaft oder was auch immer. Es deutet nichts auf eine zwingende Notwendigkeit hin, dass die Demokratik ihre eigene demokratische Abschaffung verbietet.

Das »Verbot der Selbstabschaffung der Demokratie« ist in dreifacher Hinsicht ein gravierender Widerspruch, also einer eingehenderen Betrachtung wert.

  1. Nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch schwierig gestaltet sich die für die Durchführung des Verbots notwendige Entscheidung, welche politischen Parteien oder Bewegungen als anti-demokratisch und mithin dem Verbot unterliegend einzustufen seien. Hier muss eine Entscheidung getroffen, eine Bewertung vorgenommen werden. Wer trifft die Entscheidung? Die Mehrheit? Nun, dann ergeben sich wiederum zwei Probleme. Handelt es sich bei der Bewegung zur Abschaffung der Demokratik um eine Minderheit, so unterdrückt hier die Mehrheit eine Minderheit im eigenen Interesse, was dem Minderheitenschutz widerspricht (siehe Punkt 2). Oder es handelt sich bereits um eine Mehrheit, dann würde die Minderheit über die Mehrheit herrschen – es wäre die Frage, wie das in einer Demokratik möglich sein sollte – und würde folglich gegen die Mehrheitsregel verstoßen. Die historische Erfahrung zeigt, dass ein Verbot vermeintlich oder wirklich anti-demokratischer Bestrebungen nur solange möglich ist, wie es sich um eine sehr kleine Minderheit handelt und insofern wenig Bedeutung hat. Von dem Augenblick an, in welchem eine solche Bestrebung einen nennenswerten Teil der wahlberechtigten Bevölkerung hinter sich weiß, ist eine Verbot meist gar nicht mehr oder nur mit harter, »undemokratischer« Repression durchsetzbar. Die Unterstellung der Akteure, die das Verbot einer anti-demokratischen Bestrebung durchsetzen, lautet formelhaft: »wehret den Anfängen«. Damit wird unterstellt, dass die Mehrheit nicht sich einer anti-demokratischen Bestrebung anschließt, falls diese verboten ist, wohl aber diese Tendenz zeigt, falls sie weiterhin legal bliebt. Die Mehrheit scheint ein labiles Fähnchen im Wind zu sein. Kann man ihr überhaupt anver- und zutrauen, sinnvolle Entscheidungen zu treffen? (Siehe Punkt 3.)
  2. Das Verbot der Abschaffung der Demokratik lässt sich selbstredend nur in einer Situation durchsetzen, in der die Mehrheit noch hinter der Demokratik steht. Die Durchsetzung des Verbots ist demnach immer eine Maßnahme der Mehrheit gegen eine politisch opponierende Minderheit. Damit ist jedoch der Grundsatz des Schutzes politischer Minderheiten ausgesetzt und die Minderheit wird dem Diktat der Mehrheit unterworfen. Damit hat sich, nach der Definition der »Demokratie« als Minderheitenschutz, die Demokratik mittels des Verbotes ihrer eigenen Abschaffung auf demokratischen Wege selber bereits abgeschafft.
  3. Das Verbot der Abschaffung der Demokratik ist nur darum notwendig, weil man der Mehrheit nicht trauen kann. Würde man das Vertrauen haben dürfen, dass die Mehrheit niemals die Demokratik abschaffen und die Minderheit unterdrücken würde, bedürfte es des Verbots nicht. Nun erhebt sich die Frage, warum man der Mehrheit in allen anderen Hinsichten trauen könne, gute Entscheidungen zu fällen, nicht aber hinsichtlich diese Punktes. Das leuchtet überhaupt nicht ein. Es gibt kein Kriterium, das nahelegt, die Mehrheit sei in der einen Hinsicht der beste Entscheider, in der anderen Hinsicht aber nicht. Allerdings ist das Verbot der Abschaffung der Demokratik per Mehrheitsentschluss gar nicht der einzige Punkt, bei dem der Mehrheit – herrschender Auffassung zufolge – nicht zu trauen sei. Dies gilt auch darüber hinaus über die Grundrechte. Sie sind der Entscheidung der Mehrheit entzogen. Das heißt, man traut der Mehrheit durchaus zu, sowohl den Minderheitenschutz bezüglich der Oppositionsparteien aufzuheben als auch andere grundlegende Rechte zu verletzen. Doch sogleich hat die »moderne Demokratie« eine Hintertür offen gelassen: Die Grundrechte sind durch Gesetz, also letztlich wieder durch Mehrheitsbeschluss, einschränkbar. Zu dieser Einschränkung des Rechts auf freie Meinungsäußerung gehört dann unter anderem eben auch das Verbot von politischen Betätigungen, die die Abschaffung der Demokratik zum Ziel haben, selbst dann, wenn sie es auf demokratischen Wege versuchen.

Die ebenfalls als ein Pfeiler der »modernen Demokratie« präsentierte Unabhängigkeit der Justiz ist ein weiteres Beispiel dafür, dass ein Misstrauen gegenüber der Mehrheit herrscht. Zwar kann die Mehrheit die Gesetze machen, aber man kann ihr (bzw. ihren politischen Vertretern) nicht trauen, sie richtig zu interpretieren und anzuwenden. Das ist schon in sich eine ziemlich verquere Situation. Darüber hinaus ist die Justiz in vielen demokratischen Ländern organisiert wie jede Diktatur: Der Richter wird auf Lebenszeit ernannt. Er ist abhängig davon, dass er von den Vertretern der Mehrheit ernannt wird und bleibt abhängig davon, dass die Mehrheit bzw. deren politische Vertreter ihm das Gehalt bezahlt, aber darüber hinaus ist er der politischen Weisung entzogen – nicht jedoch dem Fall, dass die Mehrheit die Gesetze, nach denen er zu urteilen hat, ändert. Die Herrschaft der Mehrheit, der man nicht trauen kann, die Gesetze anzuwenden, ist demnach um den Prozess der Gesetzgebung verzögert. Eine hartnäckige Mehrheit kann sich demnach immer durchsetzen, auch gegen die Justiz. In anderen demokratischen Ländern gibt es Teile der Judikative, die gewählt werden – damit sind sie wiederum vom Mehrheitsvotum abhängig und noch weniger unabhängig.

Verfassungsrichter können innerhalb einiger demokratischer Systeme zwar eine bestimmte Maßnahme der Regierung kippen, sie werden aber nicht das Prinzip des Staats in Frage stellen und damit unter anderem den eigenen Job gefährden. In der Bundesrepublik Deutschland hat das Verfassungsgericht der Regierung (gegen deren lautstarken Protest) untersagt, das Existenzminimum der Bürger zu besteuern. Das war mutig, aber nicht sehr mutig, denn die Einnahmen des Staats aus der Besteuerung von Löhnen am Rande des Existenzminiums werden nicht so groß sein, dass deren Wegfall die Auszahlung der Richtergehälter gefährden würde. Und selbstredend betrifft das Urteil nur die direkten Lohnsteuern, nicht die indirekten Steuern und die Verarmung der Bevölkerung durch Inflation (das heißt: staatlich verfügte Geldvermehrung, meist via dem durch den Staat privilegierten und regulierten Banksystem).[1]

Schließlich ist der Mehrheit nach herrschender demokratietheoretischer Auffassung nicht zu trauen, eine stabile politische Regierung zu wählen. Es gibt eine Reihe von Maßnahmen, die offensichtlich sowohl die Mehrheitsbildung als auch den Minderheitenschutz unterlaufen und keine andere Rechtfertigung haben, als dass sie notwendig seien, um überhaupt zu einer Regierungsbildung per Mehrheit zu gelangen. Die erste Maßnahme besteht darin, dass Nichtwähler unberücksichtigt bleiben. Gezählt werden immer nur die gültigen Stimmen, die für eine der offiziell zugelassenen Parteien oder Kandidaten abgegeben werden. Die Begründung lautet, die Nichtwähler seien uninteressiert und es wäre ihnen egal, wer auch immer die Wahl gewinnt. Aber dies ist eine bloße Unterstellung. Vielleicht protestieren die Nichtwähler gegen alle zur Wahl stehenden Parteien oder Kandidaten. Vielleicht sind sie Anhänger einer der nicht zugelassenen Parteien oder Kandidaten, zum Beispiel einer verbotenen anti-demokratischen Richtung. Aber selbst wenn sie uninteressiert sind, besagt das nicht, dass die Übrigen das Recht haben, sie zu beherrschen. Über den Ausschluss der Nichtwähler hinaus gibt es in den meisten derzeitigen »Demokratien« weitere Maßnahmen, die die Stabilität der Regierungsbildung auf Kosten der Mehrheitsentscheidung sicherstellen sollen, dazu gehört zum Beispiel in der Bundesrepublik Deutschland die sogenannte Fünf-Prozent-Klausel, nach der die Parteien, die weniger als fünf Prozent der Stimmen auf sich vereinigen, nicht vertreten sein werden. Auch ihre Stimmen »gehen verloren« genauso wie die der Nichtwähler. Bei ihnen ist es allerdings völlig unmöglich zu behaupten, ihnen sei es egal, wer die Wahl gewinne. Ganz im Gegenteil. Sie haben für eine Partei votiert und trotzdem wird ihre Stimme nicht gewertet. Ein alternatives Verfahren ist das sogenannte Mehrheitswahlrecht, das in der Praxis zu krassen Minderheitenentscheidungen führt. Wenn nur zwei Kandidaten antreten, bedeutet das Mehrheitswahlrecht zwar, dass formal tatsächlich die Mehrheit sich durchsetzt. Aber um sich auf zwei Kandidaten zu »einigen« (wie immer diese Einigung formal zustande kommt: durch mehrere Wahlgänge oder durch »innerparteiliche Demokratie«), bedarf es des Ausschlusses von vielen bedeutsamen Stimmen. Sobald jedoch mehr als zwei Kandidaten zur Wahl stehen, kommt beim Mehrheitswahlrecht wie in England und in den USA eine krasse Minderheitenentscheidung zustande. Andererseits: Je knapper das Ergebnis in einer Wahl nach Mehrheitswahlrecht ausfällt, um so weniger leuchtet ein, dass es Legitimität verleiht: Möglicherweis entscheiden eine Handvoll Wähler über das Schicksal von Millionen Mitmenschen.

Nun gehören die Parteien selber zu den Faktoren, durch die die »moderne Demokratie« gegenüber möglicherweise wechselhaften Mehrheiten stabilisiert werden soll. Parteien sind, weil sie eigene Machtzentren bilden, demokratietheoretisch durchaus fragwürdig. Sowohl etliche der frühen Demokratietheoretiker im 18. Jahrhundert als auch gegenwärtige Kritiker der konkreten Form der Demokratik sprechen von einer »Parteiendemokratie«, die den »wahren Wählerwillen« verzerre. Aber wie wollte man die Bildung von Parteien verhindern, wenn nicht durch ein »undemokratisches« Verbot? Auf der anderen Seite ist es durchaus fraglich, ob Entscheidungen der Mehrheit, wenn die Einflussnahme von Parteien verboten wäre, vernünftiger ausfallen. Jedenfalls fördert der demokratische Staat die Parteien (z.B. durch Wahlkampfkostenerstattung, durch Finanzierung der parteieigenen Stiftungen usw.) und verlangt von ihnen dafür jedoch unerbittlich »innerparteiliche Demokratie«. Damit werden wiederum autoritäre Organisationsformen, die von einer Minderheit oder gar von der Mehrheit gewollt werden, untersagt – weil man also weder der Mehrheit noch den Minderheiten trauen kann, sich in der gewollt demokratischen Weise zu organisieren.

Neben der Problematik der »Parteiendemokratie« ist auch der Einfluss von Lobbyisten und von Interessengruppen immer wieder als Hindernis auf dem Weg, den wahren Willen »(der Mehrheit) des Volks« in Wahlen abzubilden, Thema kritischer Diskussion. Allerdings haben die Kritiker nie vermocht aufzuzeigen, wie eine Verhinderung der Einflussnahme auf entweder Kandidaten oder auf die Wähler ohne krasseste Formen des Organisationsverbots und der Aufhebung von Meinungs- und Pressefreiheit möglich wäre. Darüber hinaus leuchtet auch gar nicht ein, warum Personengruppen, die von Maßnahmen der Regierung in der einen oder anderen Weise betroffen sind, also entweder als Opfer oder als Nutznießer, nicht das Recht haben sollten, gemeinsam je nach Eigeninteresse sich für oder gegen diese Maßnahmen auszusprechen. Einflussnahme wird meisten recht parteiisch immer dann problematisiert und als ungebührlich hingestellt, wenn die in Frage stehende Maßnahme den eigenen Interessen oder der eigenen Meinung widerspricht, aber nicht wahrgenommen, wenn sie ihnen entspricht. Der Feind der Industrie oder einer spezifischen Branche wird den Einfluss von mächtigen und reichen Unternehmensverbänden beklagen, aber vielleicht nicht das Übergewicht, welches in der Bundesrepublik Deutschland etwa der »Wohlfahrtsverband« »Arbeiterwohlfahrt« (AWO) dadurch erhält, dass parteiübergreifend eine große Zahl von Abgeordneten zu ihren Mitgliedern zählt. Der Freund der Wirtschaft dagegen wird genau dies als Skandal empfinden und die Aktionen der Unternehmensverbände als Selbstschutz ansehen, um die Behinderungen der Produktion durch die Regierung zu minimieren oder um Subventionen zu kriegen, damit sie die Produktion aufrecht erhalten können.

Die Kennzeichnung der »Demokratie« als Mehrheitsherrschaft ist ihrerseits idealtypisch. Denn niemand wird realistischerweise davon ausgehen, dass der Einfluss eines jeden Wählers gleich groß sei. Die herrschende Meinung bildet sich weder zufällig (dann wäre sie überhaupt als Entscheidungsquelle nicht besser als Würfeln) noch findet sie in einem herrschaftsfreien Raum statt; sie kann dies auch gar nicht, selbst unter den besten Bedingungen nicht, denn die »Demokratie« ist eine Form von Herrschaft.

Aber ob die wirkliche Mehrheit oder die angebliche Mehrheit (eine wirkliche Minderheit) herrscht, ist angesichts der Tatsache, dass die Demokraten selber die Mehrheit als gefährlich qualifizieren, relativ unwichtig. Es würde keinesfalls eine Verbesserung, sondern möglicherweise sogar eine Verschlechterung der politischen Situation entstehen, wenn Reformen dazu führen würden, dass die Mehrheitsmeinung ein stärkeres Gewicht bekäme oder sogar sich ungebremst durchsetzen könnte. Wir sollten froh sein um all die Mechanismen, die eine Bremse in der Durchsetzung der Mehrheitsmeinung darstellen.

Jede Mehrheit ist brandgefährlich. In der angelsächsischen »pragmatischen« Demokratietheorie spricht man von »checks and balances«, von Kontrollmechanismen, die die Gefahren der Mehrheitsentscheidung eingrenzen sollen. Allerdings fragt sich, warum überhaupt man sich der Gefahr aussetzen sollte? Die Antwort lautet: Weil ja irgendwie eine Regierung gebildet werden müsse – und darum sei es dann doch besser, wenn die Mehrheit ihre Ideen umsetzen könne als eine diktatorische Minderheit. Doch die Antwort ist unzureichend. Warum muss es eine Herrschaft geben?

Oder anders gesagt: Eine Herrschaft (Regierung) ist nicht schon darum legitim, weil die Mehrheit sie wünscht und auf die Weise wünscht, wie sie konstituiert ist, denn der Mehrheit ist sogar nach gängiger Demokratietheorie nicht zu trauen. Sie neigt vielmehr zur Totalität und muss mittels institutioneller undemokratischer (also nicht der Mehrheitsregel unterliegender) Kontrollen im Zaum gehalten werden. Gerechtfertigt zu sein, kann die Herrschaft nur für sich reklamieren, wenn sie unabhängig von der Mehrheitsregel zu zeigen in der Lage ist, notwendig oder wenigstens wünschenswert zu sein – und dann erst würde das Argument ziehen, »Demokratie« sei besser, diese notwendige oder wünschenswerte Herrschaft zu bestimmen, als eine Diktatur einer einzelnen Person oder einer kleinen Gruppe.

Ideologie: Ungerechtfertigte Rechtfertigung

Herrschaft egal in welcher Form, die nicht so offen wie brutal die Verfügung über anderer Leute Leben oder Eigentum bedeuten will, muss sich als notwendig oder wünschenswert rechtfertigen. Allerdings wäre eine notwendige und wünschenswerte Herrschaft gar keine Herrschaft, sondern eine, die die Mehrheit zumindest passiv dulden würde (sonst würde sie Widerstand leisten). Insofern kann sich eine als notwendig oder wünschenswert anerkannte Herrschaft wiederum nur gegen die Minderheit richten. Wenn der Mehrheit allerdings nicht zugetraut werden kann, gute Entscheidungen zu treffen, stehen die Chancen für eine legitime Herrschaft, und sei sie demokratisch, ziemlich schlecht.

Einzugestehen, dass Herrschaft des Rechtfertigens bedarf, hebt die Herrschaft implizit auf, denn das Rechtfertigen sucht nach der freiwillig zu gebenden Zustimmung, denn eine erzwungene Zustimmung wäre keine und würde kein Gerechtfertigt-Sein begründen. Wenn die Person, von der um Zustimmung zu einem Rechtfertigung verleihenden Argument ersucht wird, die Zustimmung erteilt, liegt keine Herrschaft vor. Wenn sie sie nicht erteilt, darf die Herrschaft nicht ausgeübt werden, jedenfalls fehlt ihr das Gerechtfertigt-Sein.

Die Rechtfertigen von Herrschaft läuft also immer so ab, dass eine gewisse Gruppe A von Menschen untereinander überzeugt ist, gerechtfertigt zu sein, Herrschaft ausüben zu dürfen (bzw. zu müssen), während die andere Gruppe B der Herrschaft unterworfen ist, ohne ihr die Zustimmung zu geben. Nun kann Gruppe A die Mehrheit, Gruppe B die Minderheit darstellen oder umgekehrt. Falls Gruppe A die Minderheit ist, liegt eine Form von Diktatur vor, die grundsätzlich ungerechtfertigt zu sein scheint. Aber ist die Lage besser, wenn Gruppe A die Mehrheit repräsentiert? Jedenfalls kann sie nicht das Gerechtfertigt-Sein der Demokratik in der Hinsicht für sich in Anspruch nehmen, in der Demokratik für Minderheitenschutz steht. Ohne Minderheitenschutz ist Demokratik, reduziert auf die Mehrheitsregel, allerdings nichts anderes als die Diktatur der Mehrheit.

Die Inhalte, die angeführt werden, um die demokratische Herrschaft als notwendig oder wünschenswert zu rechtfertigen, lassen sind drei Gruppen zuordnen:

  1. Herrschaft sei notwendig, um Chaos und infolge davon eine schlechtere Herrschaft zu verhindern, nämlich die Herrschaft durch Banden, Bürgerwehren, Clans, Parallelgesellschaften, Mafia, Milizen, Stammesführern oder Warlords. Die demokratische Herrschaft unterscheidet von der Bandenherrschaft allerdings die Zustimmung: Dem gegenüber, der die Zustimmung nicht gibt, unterscheidet sich die demokratische nicht von der Bandenherrschaft. An dieser Stelle greift eine zweite Strategie des Rechtfertigens von Herrschaft, nämlich dass es, um dem Chaos der Bandenherrschaft vorzubeugen, notwendig sei, ein territoriales Gewaltmonopol aufrecht zu erhalten: Das erst macht die Herrschaft zum Staat. Das macht die Sache weder besser noch legitimer, denn auch die Banden etc. beanspruchen gewisse Gebiete als ihre eigenen. Sie sind Protostaaten oder, wie man auch sagt, »Staat im Staat« (falls sie innerhalb eines Staatsgebietes operieren). Neben dieser immanenten Schwierigkeit in der Rechtfertigung der Staatsgewalt zur Abwehr vor Bandenherrschaft sollte auch klar sein, dass diese Strategie des Rechtfertigens nur einen ganz kleinen Teil der Tätigkeit der Staatsgewalt abdeckt und rechtfertig, eben die Abwehr der informellen Herrschaft durch einzelne Gruppen, also die Abwehr von Kriminalität. Ein so gerechtfertigter Staat hätte ein ultraminimaler Nachtwächterstaat zu sein. Alle weiteren Tätigkeiten wären nicht legitim. Aber was könnte schlimmstenfalls geschehen, wenn es Personen gäbe, die sich dennoch der Herrschaft des demokratischen Staats verweigern? Sie selber würden im Chaos der Bandenherrschaft und Kriminalität versinken. Sollten sie sich dann nicht freudig an den Staat wenden und ihn um Aufnahme bitten? Es wäre, wenn die der Rechtfertigung zugrundeliegende Argumentation sich als stichhaltig erweisen sollte, gar kein Zwang, also gar keine Herrschaft notwendig.
  2. Herrschaft sei notwendig und wünschenswert, um die Bedingungen von Wohlstand zu ermöglichen; das heißt, es wird unterstellt, dass es ohne Herrschaft keine höher entwickelte Wirtschaft geben könne. Von dieser Form der Rechtfertigung von Herrschaft gibt es die »ordoliberale« und die »sozialistische« Variante. Die ordoliberale Variante verweist darauf, nur Herrschaft könne die Sicherheit des Marktes und der Verträge garantieren, die für einen funktionierenden, Wohlstand generierenden Markt notwendig sei. Die sozialistisch Variante verweist darauf, nur Herrschaft könne eine im Interesse Aller geplante Wirtschaft gewährleisten. Beide Varianten verfehlen jedoch ebenfalls ihr Ziel, Herrschaft auf die nicht zustimmenden Personen auszuweiten. Sie würden, wenn sie sich der Herrschaft nicht unterwerfen, möglicherweise in Armut versinken. Wie bei der Frage der Rechtfertigung der Herrschaft als Abwehr von Kriminalität müsste dieses Argument zu einer freiwilligen Zustimmung führen. Sobald es Personen gibt, die sich der Oberhoheit nicht unterwerfen, muss es so sein, dass das Argument sich als fehlerhaft erweist (und sei es, dass Wohlstand nicht ungeteilter Wert aller Menschen ist). Der (Staats-) Sozialismus hat in dieser Hinsicht besonders schlechte Karten. Er hat zwar eine größere Effektivität bei der Produktion von Gütern versprochen, indem er die kapitalistische Verschwendung und das Chaos des Marktes überwindet, aber genau das Gegenteil ist eingetreten. Dieses Ergebnis ist so konstant und unausweichlich, dass heutige (Staats-) Sozialisten das Argument geradezu umkehren und dem Kapitalismus vorwerfen, zu viel zu produzieren. Nur Herrschaft könne die Auswüchse des anarchistischen Marktes korrigieren und die Menschen zwingen, mit weniger zufrieden zu sein. Dies führt zu der dritten Kategorie der Strategien des Rechtfertigens von Herrschaft.
  3. Herrschaft sei wünschenswert, um negative Ergebnisse der freiwilligen Interaktion zu korrigieren. Es werden dabei sehr unterschiedliche und zum Teil widersprüchliche negative Ergebnisse der freiwilligen Interaktion genannt wie Ungleichheit, Betrug auf dem Markt, Armut, gesundheitliche Gefahren, Umweltzerstörung und Überfluss. Es gibt spieltheoretische Modelle, nach denen freiwillige Interaktionen zu Ergebnisse führen könnten, die den Interessen aller Beteiligten gegenüber ungewollt sind. Dass diese Modell für den Alltag vermutlich nicht taugen, tut hier nichts zu Sache, denn selbst wenn sie zutreffen sollten, würden sie nicht als Rechtfertigung von Herrschaft taugen. Denn wenn die Ergebnisse wirklich für alle ungewollt sind, können sie sich einfach auf andere Regeln verständigen. Jeder würde zustimmen. Es bedürfte keiner Herrschaft. Wenn sie für einige gewollt, für andere ungewollt sind, können sich diejenigen, für die sie ungewollt sind, aus der Interaktion zurückziehen, denn es wurde ja vorausgesetzt, dass die Interaktion freiwillig ist. Wenn diejenigen, für die die Interaktion ungewollte Ergebnisse hat, sich nicht zurückziehen können, liegt keine Freiwilligkeit vor, sondern Herrschaft. Herrschaft mit Herrschaft bekämpfen zu wollen, ist allerdings aberwitzig. Diese Problematik lässt sich sehr gut an dem (staats-) sozialistischen Standard der beklagten »Ungleichheit« aufzeigen, die mit einer Besteuerung der Reichen auszugleichen sei. Nun sind die Reichen entweder aufgrund freiwilliger Interaktionen reich und dann entfiele die Rechtfertigung, sie mit Herrschaft weniger reich zu machen, denn diejenigen, die zu ihrem Reichtum beigetragen haben, tun dies eben freiwillig. Die herrschaftliche Korrektur wäre nicht nur eine Herrschaft gegenüber den Reichen, sondern auch eine Bevormundung derjenigen, die freiwillig ihnen zum Reichtum verholfen haben. Oder sie sind Reich aufgrund einer nicht-freiwilligen Interaktion. Dann ist der legitime Weg, den Missstand auszugleichen nicht der indirekte und unsichere Weg über die Besteuerung, sondern der Weg, die Bedingung der Freiwilligkeit für die Interaktion herzustellen. Sofern die Reichen sich diesem Weg widersetzen, sind sie es, die Herrschaft ausüben oder an ihr festhalten.

Für sich genommen scheitern diese drei Strategien, Herrschaft zu rechtfertigen. Es tritt meist ein weiteres Element hinzu, das vermeintlich die letztgültige Rechtfertigung leistet: Mit dem Verzicht, die Herrschaft gegenüber den nicht-zustimmenden Personen auszuüben, würden diese entweder sich selbst oder andere gefährden. Der erste Punkt, die Selbstgefährdung, ist zwar derjenige, der gegenwärtig als Haupttriebkraft der Ausweitung von Staatsgewalt dient, es sollte allerdings unmittelbar einleuchten, dass er eigentlich wenig an Gerechtfertigt-Sein verleiht. Jemanden mit herrschaftlicher Gewalt daran zu hindern, sich selber zu schaden, stellt klarerweise eine nicht zu rechtfertigende Bevormundung dar.

Der Vorwurf, diejenigen, die der Herrschaft nicht zustimmen, würden dadurch Andere gefährden, wiegt dafür um so schwerer. Wenn diejenigen, die sich den Regeln der Herrschaft nicht unterwerfen, denen schaden oder sie gefährden, die sich ihr (freiwillig) unterworfen haben, so sind sie es, die die Herrschaft ausüben. Doch die berechtigte Frage lautet, ob ein solcher Fall bzw. unter welchen Umständen er eintreten könnte.

Die Crux an diesem Argument ist, dass es niemals getestet wird. Es wird immer vorausgesetzt und damit hat es sich. Damit erweist sich, dass das Argument nicht wirklich überzeugen soll, es dient einfach zu einer wohlfeilen Scheinrechtfertigung: Es ist schlichtweg Ideologie.

Einem Test können wir das Argument ohne aufwändigen und gegebenenfalls gefährlichen Feldversuch in der realen Welt als Gedankenexperiment unterziehen. Wir fragen uns, was passieren würde, wenn die territoriale demokratische Herrschaft, die demokratische rechtsstaatliche Gewalt, auf einem der Gebiete Alternativen zulassen würde, die als ihre genuinen Gebiete gelten, in denen eine zwangsweise Unterwerfung auch ohne Zustimmung der Betroffenen notwendig bzw. wünschenswert sei.

Wir nehmen an, die Republik Ruritanien beschließe, das Experiment der Möglichkeit zu wagen, dass jeder Bürger auf Leistungen des Staats verzichten kann und dann auch davon befreit ist, den entsprechenden Beitrag zu leisten. Dafür muss die Republik Ruritanien übrigens alle ihre Leistungen – Polizeidienst, Justiz, Bildung, Gesundheit, soziale Absicherung, selbst Straßen usw. – mit einem Preis versehen: Sie muss offenlegen, was wieviel kostet. Falls eine Person, die teilweise auf Leistungen oder pauschal auf alle Leistungen verzichtet hat, diese dennoch nutzen wollte, müsste sie den entsprechenden Preis bezahlen. Zudem müsste festgelegt werden, unter welchen Umständen ein Wiedereintritt in den Staat möglich ist. Im Detail sind das spannende und schwierige Fragen, für unser Gedankenexperiment jedoch sind sie nebensächlich. Überdies ist unerheblich, ob jemand das neu geschaffene Austrittsrecht in Anspruch nehmen kann oder will. Ruritanien räumt nur die Möglichkeit ein.

Jeder, der daran interessiert ist, von dem neu geschaffenen Recht Gebrauch zu machen, kann also angeben, dass er eine bestimmte staatliche Leistung nicht mehr in Anspruch nimmt und der entsprechende Betrag wird ihm von seiner Steuerlast heruntergerechnet; bei Leistungen, die in Ruritanien allen zustehen, müsste Ruritanien dem Austrittswilligen die negative Differenz auszahlen, falls die Steuerlast geringer ist als der Preis der Leistung (so zum Beispiel, wenn die Kosten, die Ruritanien je Schüler ausgibt, höher sind als die Steuerlast einer Familie mit Kindern, die darauf verzichtet, sie in die ruritanische öffentliche Schule zu schicken). Wenn er eine der entsprechenden Leistungen früher schon einmal in Anspruch genommen hat – etwa hat er früher einmal ein Prozess geführt, seine Kinder haben früher einmal eine öffentliche Schule besucht, er hat einmal Sozialhilfe bezogen –, ist zu ermitteln, ob seine Steuern die Leistung bereits abgedeckt haben oder ob noch ein Rest offen bleibt, den er abzubezahlen hätte.

Dennoch hätte der Staat in diesem Deal einen ungerechten Vorteil. Denn bei allem anderen gemeinsamen Eigentum, aus dem sich einer der Eigentümer zurückzieht, kann er seinen Anteil am Eigentum, sofern er einen Wert hat, kapitalisieren. Lassen wir dem Staat Ruritanien diesen Vorteil.

Derjenige, der bezüglich einer Leistung ausgetreten ist, wäre zwar frei, in seinem Bereich, mit seinem Eigentum, mit seinen Interaktionspartnern nicht mehr den Regeln (Gesetzen) Ruritaniens unterworfen, aber er dürfte selbstredend niemanden, der weiter zum Staat Ruritanien gehört, schädigen oder dessen Eigentum etwa verschmutzen usw.

Dieses Experiment wäre, wenn die vorgebrachten Argumente zur Rechtfertigung der Herrschaft stichhaltig sind, völlig folgenlos: Niemand würde das Recht in Anspruch nehmen. Da nun kein Staat der Welt augenblicklich diese Möglichkeit einräumt, ist das bereits ein starker Hinweis darauf, dass die Staaten, inklusive der sich stolz als »frei« und »demokratischen« proklamierenden – nicht einmal über das Selbstbewusstsein verfügen, gegenüber möglichen Konkurrenten besser dazustehen: Ihre Rechtfertigung ist eben reine Ideologie. An drei Beispielen will ich das Gedankenexperiment noch etwas weiter treiben.

  1. Schule. Mit der Möglichkeit, bei Verzicht darauf, die Kinder in eine ruritanische öffentliche Schule zu schicken, die Steuerlast entsprechend zu mindern, kann erstmals niemand mehr sagen, private Alternativschulen seien »nur etwas für Reiche«. Die öffentlichen Schulen müssen sich der echten Konkurrenz stellen und das ganz ohne all die Eltern zu behelligen, die kein Interesse an einer Veränderung des Schulsystems haben. Für diese ändert sich nichts, sie brauchen sich um nichts zu kümmern, sie brauchen ihre Kinder nur weiter zu der ihnen bekannten Schule zu senden, ja, sie erfahren von der neuen Möglichkeit gar nichts, sofern sie es nicht wollen. Dementsprechend kann die neue Methode der Konkurrenz zum Staat keine Personen schädigen, nicht einmal behelligen, die alles beim Alten belassen wollen. Allerdings gibt es einige Ziele der öffentlichen Schule, die sich nicht mehr erreichen lassen: und dies ist die Applizierung von Methoden oder Inhalten in der Schule gegen den ausgesprochenen Willen der Schüler bzw. deren Eltern. So wird es nicht mehr möglich sein, (ethnische, kulturelle, religiöse, soziale) Integration zu erzwingen. Die Frage ist, wem mit Zwangsmaßnahmen gedient sei. So wird es nicht mehr möglich sein, zum Beispiel Sexualkundeunterricht gegen den Willen der Betroffenen zu verabreichen. Diejenigen, die den Einsatz von Schulzwang befürworten, um etwa Integration oder die Teilnahme am Sexualkundeunterricht sicherzustellen, sollten sich vor allem klar machen, dass, wenn ihre Gegner die politische Macht erlangen, sie den Spieß herumdrehen können. Da Ruritanien eine Demokratik ist, heißt das: Solange die Mehrheit für Integration und Sexualkundeunterricht eintritt, wird es nur eine Minderheit sein, die ihre Kinder zu den neuen privaten Schulen senden, die das nicht bieten (und die Rechte der Minderheit zu wahren, haben sich die ruritanischen Demokraten verpflichtet). Sobald sie aber die Minderheit sind und die Mehrheit Integration und Sexualkundeunterricht ablehnt, werden sie nicht einmal für ihre eigenen Kinder Integration und Sexualkundeunterricht ermöglichen können, sofern Alternativen nicht zugelassen sind.
  2. Justiz. Diejenigen, die aus dem Justizwesen Ruritaniens ausgetreten sind, werden ihre Konflikte untereinander regeln, wie auch immer sie es wollen. Niemand, der Mitglied des ruritanischen Justizwesens ist, wird benachteiligt, behelligt, ja, er wird es auch gar nicht mitkriegen. Wie aber regelt sich das Verhältnis, wenn ein Mitglied des ruritanischen Justizwesens mit einem Nicht-Mitglied in Konflikt gerät? Das ist recht einfach. Dies regelt sich genauso wie Konflikte sich derzeit zwischen Ruritaniern und Bürgern der Bundesrepublik, Chinas oder den USA regeln, also zwischen Ländern, über die es keine gemeinsame Oberhoheit eines Gerichts gibt. Gerade in dem Bereich, in welchem die Verfechter der Notwendigkeit der übergeordneten Herrschaft die höchste Stufe der einer Alternativlosigkeit behaupten, ist der Austritt vermutlich verwaltungstechnisch am leichtesten zu bewerkstelligen.
  3. Sozialpartnerschaft. Ich gehe davon aus, dass Ruritanien über ein Gesetz zu einem beträchtlichen Mindestlohn verfügt. Nun tritt ein Unternehmen aus der Sozialpartnerschaft aus und braucht darum keinen Mindestlohn zu bezahlen. Damit haben, wie die (Staats-) Sozialisten meinen, die Arbeiter das Nachsehen und das Unternehmen realisiert einen unfairen Vorteil gegenüber den Konkurrenten, die in der ruritanischen Sozialpartnerschaft verbleiben und gezwungen sind, den Mindestlohn zu gewähren. Allerdings kann das Unternehmen nur Mitarbeiter einstellen, die ebenfalls aus der ruritanischen Sozialpartnerschaft ausgeschieden sind, denn das Mindestlohngesetzt zwingt nicht so sehr den Unternehmer, den Mindestlohn zu zahlen (denn wenn es auf der Position niemanden einstellt, braucht es gar nichts zu zahlen), sondern vor allem den Arbeitsuchenden, kein Angebot unterhalb des Mindestlohns anzunehmen bzw. er erhält ein solches Angebot gar nicht erst. Mögliche Mitarbeiter werden der ruritanischen Sozialpartnerschaft demnach nur dann den Rücken kehren, falls sie innerhalb der Rechtshoheit des ruritanischen Staats mit seinem Mindestlohngesetz kein Arbeitsangebot finden. Hieran zeigt sich sehr deutlich, dass die Personen, die das Mindestlohngesetz schädigt, nicht die Unternehmer sind, sondern die Arbeitssuchenden, deren Lohnsatz unterhalb des Mindestlohns liegt.

Dieses Gedankenexperiment in Ruritanien zeigt, dass die Zulassung von Konkurrenz zum herrschaftlichen System nicht allen zum Vorteil gereicht. Es gibt Opfer. Allerdings sind die Opfer die Personen, die von der Herrschaft profitieren und die mit ihr ihre eigenen Ziele, Ideen und ökonomischen Interessen durchsetzen wollen, es sind gerade nicht die, die ihren Mitmenschen dienen, die die Armen besser stellen, den Benachteiligten auf die Sprünge helfen wollen.

Auto-Bibliographischer Abriss

Der vorliegende Essay ist das zweite Ergebnis meiner Übersetzung von Murray Rothbards Power and Market (1970), 2020. In einem der Abschnitte zur Demokratie präsentiert Rothbard einen Gedankengang, der mir zunächst als Slapstick erschien, bis ich seine Tiefe begriff (ich erinnere mich nicht daran, ihn beim ersten Mal in den 1980er Jahren gelesen zu haben, während ich andere Passagen so verinnerlicht hatte, dass ich gar nicht mehr wusste, dass ich die Ideen aus diesem Buch bezogen hatte): Er behandelt das Argument zur Rechtfertigung der Demokratie, diese ermögliche einen »friedlichen Machtwechsel«, anstatt dass die Regierung bei Verlust der Unterstützung durch die Mehrheit per Straßenkampf blutig niedergerungen werden müsste. Demokratie als Ersatz für Straßenkampf, wendet Rothbard ein, sei nicht einsichtig, denn schließlich würden bei der Wahl auch die kampfuntüchtigen und kampfunerfahrenen sowie die nur mäßig an einem Machtwechsel interessierten Bürger mit der gleichen Stimme Einfluss nehmen, sodass das Ergebnis des Straßenkampfes nicht deckungsgleich mit dem Ergebnis einer Wahl sein würde. Aber diese Deckungsgleichheit hat niemand als Kriterium aufgestellt. Rothbards Gedankengang scheint auf den ersten Blick völlig abstrus zu sein.

Doch untersuchen wir das Argument der Rechtfertigung. Wenn es nicht besagt, das Kriterium für das Gerechtfertigt-Sein der Demokratie sei, dass sie das gleiche Ergebnis wie ein Straßenkampf hervorbringe nur eben ohne Straßenkampf und ohne Blutvergießen, was besagt es dann? Es müsste dann besagen, Demokratie vermeide nicht nur Blutvergießen, sondern führe darüber hinaus zu besseren politischen Ergebnissen. Aber was würde eine solche Überlegenheit der demokratischen Abstimmung gegenüber einem Straßenkampf prinzipiell und grundsätzlich garantieren? Es gibt keinen theoretischen Anhaltspunkt, dass der Vergleich immer zugunsten der Demokratie ausfällt.

Tatsächlich befürworten demokratische Sozialisten die Ergebnisse von Revolutionen wie in Cuba oder drücken bei Wahlmanipulationen wie in Venezuela ein Auge zu. Die westlichen Demokratien waren erleichtert über die Staatsstreiche in einigen arabischen Staaten gegen gewählte Islamisten. Konservative Demokraten zeigten Sympathie für den Staatsstreich von General Pinochet in Chile. Es ist also überhaupt nicht sicher, dass die Mehrheit »besser« entscheidet als ein Aufstand – denn das »Besser« lässt sich gar nicht objektiv oder wertfrei qualifizieren, sondern nur im Rahmen eines bestimmten inhaltlichen Standpunkts. Insofern trifft Rothbards Satire genau den wunden Punkt des Arguments: Es vermag der Demokratie keine Rechtfertigung zu verleihen, außer es würde reduziert auf das Kriterium, sie verwirkliche auf unblutige Weise, was anderweitig auf blutige Weise gesehen würde. Da sie dieses Kriterium jedoch auch nicht erfüllt, ist das Argument in sich selber antagonistisch und hinfällig.

An diese Einsicht anschließend hatte ich die Idee zu dem vorliegenden Essay, der die Argumente zur Rechtfertigung der Demokratie in einer praxeologischen Weise auf innere Folgerichtigkeit hin überprüft. Damit führte ich meine früher vorgelegten Untersuchungen zur Demokratie fort:

– In »Katastrophe der Befreiung: Faschismus und Demokratie« (2012; ursprünglich »Therapie der Gesellschaft«, 1998) lege ich die ökonomische Analyse der Machtübergabe an die Nationalsozialisten als »Schmach der Demokratie« vor (S. 85-118) und gebe eine Übersicht über Demokratiekritische Ansätze: »Demokratie: Kollektiv irrationale Entscheidungen« (S. 119-129).

– In »Anarchokapitalismus: Gegen Gewalt« (2015) zeige ich, inwiefern es etwas Besseres als Demokratie gibt (S. 29-59).

– In »Politik macht Ohnmacht: Demokratie zwischen Rechtspopulismus und Linkskonservativismus« (2017) wird die Demokratiekritik an konkreten laufenden politischen Ereignissen exemplifiziert, besonders in dem Kapitel »Dialektik der Demokratie« (S. 173-202).

– In »Verschwinde Staat: Weniger Demokratie wagen« (2019; mit Beiträgen von Emma Goldmann und Gustav Landauer) fasse ich die Einwände gegen die Demokratie als Mehrheitsherrschaft zusammen.

– In »Wilhelm Reichs Massenpsychologie des Faschismus« (2020) ergänze ich die ökonomische durch die psychologische Dimension in der Analyse des Faschismus als mehrheitsfähiger Massenbewegung.

[1] Inflation kann grundsätzlich niemals durch eine unternehmensseitige allgemeine Preissteigerung erfolgen (es sei denn, die Produktion ist rückläufig). Der Grund ist ganz einfach der, dass, wenn alle Anbieter die Preise anheben und die Käufer nicht weiteres Geld zur Verfügung haben, nicht mehr alles, was produziert wurde, sich verkaufen lässt.