Stefan Blankertz
[Vortrag im Rahmen der freiheitliche Winterakademie Liberty Snowfall auf Schloss Martinfeld des Michael-Gartenschläger-Instituts (MGI) 24. bis 27. Februar 2022.]Der klassische Anarchismus: Proudhon
Darum geht es: Um den klassischen Anarchismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowie in der Zeit bis zum Zweiten Weltkrieg und um die 1968er: Darum, was sie verbindet, was sie trennt und was das mit Links-Sein zu tun hat oder nicht zu tun hat. Die Verzwicktheit der «Arschbacken»-Geographie einer politische Landschaft, die nur Links und Rechts kennt, beginnt damit, dass die klassischen Anarchisten sich mitnichten als «links» bezeichnet haben, ebenso wenig als «rechts»; übrigens hat auch Karl Marx (1818-1883) das nicht getan. Vielmehr stellten links und rechts die Verortungen innerhalb der bürgerlichen parlamentarischen Demokratie dar: auf der rechten Seite die Monarchisten oder Konservativen, auf der linken Seite die Republikaner oder Liberalen.
Der Anarchismus beginnt, als der Franzose Pierre-Joseph Proudhon (1809-1865) 1840 in einer fiktiven Diskussion mit einem möglichen Wähler diesen ihn fragen lässt:
— «Sie sind, natürlich, Republikaner.»
— Proudhon verneint.
— «Aber Sie sind Demokrat.»
— «Nein.»
— «Sind Sie etwa Monarchist?», wundert sich der fiktive Wähler.
— «Noch weniger», antwortet Proudhon.
— «Aber was um alles in der Welt sind Sie dann!», ruft sein Gesprächspartner aus.
— «Ich bin Anarchist», lautet Proudhons damals kryptische Auskunft.[1]
Die Republikaner oder Liberalen jener Tage waren in ihrem politisch einflussreichen Bereich nicht das, was Libertäre heute sich als den klassischen Liberalismus konstruieren: Sie waren Zentralisten, teils befürworteten sie den Kolonialismus, sie setzten dem Militarismus nichts entgegen, sie hatten keine Einwände gegen staatliche Interventionen zur Förderung der Großindustrie. Die berüchtigten 10 Forderungen des «Kommunistischen Manifests» aus dem Jahr 1848 von Karl Marx und Friedrich Engels (1820-1895) waren weniger «kommunistisch» als vielmehr Ausdruck des damaligen bürgerlichen Mainstreams; jede einzelne der 10 Forderungen hat Marx später ausdrücklich dementiert.[2]
Mit dem bürgerlichen Mainstream des Staatlichkeitswahns wollten die Anarchisten noch weit weniger zu tun haben als Marx. Als Pierre-Joseph Proudhon Anfang der 1860er Jahre die militärische Bewegung zur Herstellung der Einheit Italiens unter einem zentralistischen Staat kritisierte,[3] fiel die liberale Presse in Frankreich, Belgien und Italien über ihn her, beschuldigte ihn, mit Monarchisten und mit der Katholischen Kirche zu paktieren. Trotzig antwortete Proudhon, lieber würde er das tun, als die Entwicklung zu immer mehr Staat zu unterstützen. Proudhon wird übrigens heute immer noch gern von Linken mit seinem aus dem Zusammenhang gerissenen Diktum zitiert: «Eigentum ist Diebstahl.» Man meint, er habe damit die Existenz des Eigentums schlechthin abgelehnt und dessen Aufhebung propagiert. Nichts lag Proudhon ferner. Proudhon war Hegelianer und bediente sich gern des produktiven dialektischen Widerspruchs; das mag ab und zu anstrengend sein, doch in diesem Fall ist die Logik ziemlich eindeutig: Der Begriff «Diebstahl» setzt zwingend den Begriff des legitimen Eigentums voraus. Jeder Libertäre wird sofort zugeben, dass die Steuern, die sich die Staatsgewalt aneignet, Diebstahl sind; gleichwohl werden sie und alles, was die Staatsgewalt mit ihnen betreibt, geschützt wie Eigentum. Dieses Eigentum ist illegitim. Ist Diebstahl.[4]
Proudhon war ein ausgesprochener Intellektueller, kein charismatischer Führer, kein geschickter Verschwörer; und dennoch verfügte er in Frankreich über eine große Anhängerschaft. Sie nannten sich «Anarchisten», «Föderalisten», «Kommunalisten», «Munizipalisten» und «Mutualisten»; Proudhon beanspruchte darüber hinaus die Begriffe «Sozialismus«, gar «Demokratie» für sich, erklärte, die Revolution sei gegen Staat, Tugendterror und Zentralmacht gerichtet – jeder, der in der Tradition der berüchtigten Jakobiner der Großen Französischen Revolution mit diesen Prinzipien liebäugele, handele objektiv konterrevolutionär.
Der Einfluss der Proudhonisten in der europäischen Arbeiterbewegung war so stark, dass der damals nahezu einflusslose Karl Marx 1870, als Preußen gegen Frankreich zu Felde zog, um die Deutsche Einheit auf den Weg zu bringen, frohlockte, endlich sei es möglich, dass die deutsche zentralistische und straff organisierte Arbeiterbewegung über die französischen, chaotischen Proudhonisten obsiege.[5] Zwar siegte tatsächlich Preußen, doch in den Wirren der Niederlage Frankreichs entstand 1871 die Pariser Kommune. Sie währte nur wenige Wochen, bevor sie niedergeschlagen wurde, doch befeuerte sie die revolutionären Bewegungen in ganz Europa – und sie stand den kommunalistischen Ideen Proudhons deutlich näher als den zentralistischen Vorstellungen von Marx und anderen autoritären Sozialisten. Der Ruhm der Pariser Kommune war so groß, dass Marx nicht umhin kam, sie ebenfalls zu feiern und Dezentralisierung, Abschaffung von Armee, Bürokratie sowie Steuern zu fordern.[6] Für Lenin (1870-1924) und sein Konzept des «demokratischen Zentralismus» wurde Marx’ Schrift zur Pariser Kommune zum Ärgernis.[7]
Der klassische Anarchismus: Bakunin
1870/71, da war Proudhon bereits über fünf Jahre tot. Ein Russe hatte Proudhons Stelle als Sprecher und Identifikationsfigur der Anarchisten übernommen: Michael Bakunin (1814-1876). Bakunin umranken mehr noch als Proudhon die abenteuerlichsten Legenden von einem unbezähmbaren Revolutionär, dem es um nichts anderes als um Zerstörung ging. «Die Lust an der Zerstörung ist eine schöpferische Lust», ein harmloser Satz, psychologisch richtig, eines jungen Hegelianers, der 1842 noch nicht im Traum daran dachte, Anarchist zu sein oder zu werden. 1849 stand Bakunin mit Richard Wagner (1813-1883) in Dresden auf den Barrikaden. Auch zu dieser Zeit alles andere als ein Anarchist. Wir erinnern uns: 1840 erst begründete Proudhon in Frankreich die Theorie des Anarchismus und niemand in Deutschland kannte den Begriff und schon gar nicht den Inhalt. Bakunin verbrachte viele Jahre in deutschen, österreichischen und russischen Kerkern, wurde gefoltert, bis er 1861 über Sibirien fliehen konnte. Die erste explizit anarchistische Schrift Bakunins, zu Lebzeiten freilich nie veröffentlicht, stammt aus dem Jahr 1866, ein Jahr nach Proudhons Tod. In den zehn Jahren zwischen diesem Datum und seinem Tod entfaltete Bakunin eine bemerkenswerte Wirksamkeit, nicht durch Bücher – die meisten seiner Schriften publizierte man erst nach seinem Tod –, vielmehr durch Präsenz, durch persönliche Kontakte und durch ein schier unglaubliches Pensum an umfangreichen Briefen, die er quer durch Europa sandte. Marx hasste Bakunin mehr noch als Proudhon, während beide, Proudhon und Bakunin, versuchten, in ein sachliches Gespräch mit Marx zu kommen. Nicht umsonst, aber vergeblich.
War schon Proudhons Einfluss größer als der von Marx, so wuchs der Einfluss der Anarchisten unter Bakunins Ägide weiter. Marx’ Einfluss blieb weitgehend auf die deutschen Sozialdemokratie beschränkt, mit der allerdings auch Marx wenig glücklich war. 1875 zerriss er deren «Gothaer Programm», das im Wesentlichen ein Echo der Marx-Engels’schen 10 Forderungen aus dem «Kommunistischen Manifest» von 1848 war.
Der klassische Anarchismus: Sein Untergang
Dies änderte sich erst 1917: Die Bolschewisten, selbst unter der russischen Sozialdemokraten eine kleine Minderheit (die sich aber selbstherrlich als «Mehrheit» deklarierte), übernahmen im Oktober 1917 die Staatsgewalt nach der Revolution und schlugen mit größter Brutalität alle Nebenbuhler am Busen des Volks nieder. Die russisch-amerikanische Anarchistin Emma Goldman (1860-1940), die die US-Behörden 1919 nach Russland deportierten ließen, floh 1921 aus dem neuen Russland und erklärte die Leninisten zur Konterrevolutionären. Aber erst 1922 gelang es der Roten Armee unter Leo Trotzki (1879-1940), die anarchistischen Bauernrebellen von Nestor Machno (1888-1934) in der Ukraine endgültig zu vernichten. Ein Detail beleuchtet die Ursache der Niederlage Machnos: Die Anarchisten ließen gefangene Rotarmisten laufen und Trotzki sammelte sie wieder ein. Er dagegen exekutierte gnadenlos jeden von den Machnoleuten, der ihm in die Finger fiel.
Ein Jahr später, 1923, siegte in Italien, einer weiteren Hochburg der Anarchisten in Europa, die Faschisten unter Mussolini (1883-1945). Ein wichtiger Sprecher der italienischen Anarchisten, Errico Malatesta (1853-1932), den manch einer schon als «Lenin von Italien» titulierte, sagte 1924, wenn man, um zu siegen, Guillotinen errichten müsse, werde er auf den Sieg verzichten,[8] und das war dann auch das Ende vom Lied. Rund fünfzehn Jahre später, 1939, fiel die letzte Heimstädte des europäischen Anarchismus im spanischen Bürgerkrieg mit dem Sieg von des Putsch-Generals Franco (1892-1975). Stalin (1878-1953) hatte im Hintergrund kräftig an der Niederlage seiner Widersacher mitgewirkt: Die durch ihn finanzierten und bewaffneten Kommunisten beauftragte er damit, vor allem Anarchisten und Trotzkisten zu jagen. Dass auf diese Weise Franco unweigerlich siegen musste, war ihm klar. Denn ein Dummkopf war er nicht.
Dem Faschismus irgendetwas in der Richtung auf ein Gegengewicht zum Bolschewismus zuzusprechen, ist meines Erachtens eine krasse Fehlkonzeption.[9] Die deutschen Nationalsozialisten trugen es bereits im Namen: Zentralismus, Militarismus und ein Sozialismus, der dem russischen nur wenig nachstand. Die Faschisten in Italien und Spanien wüteten vielleicht nicht ganz so schlimm wie die Deutschen,[10] aber doch bar jeden Tröpfchens an Liberalismus im Sinne von wirtschaftlicher und sozialer Freiheit.
Zwischenbilanz: Merkposten zu den Lehren aus der Geschichte
Die klassischen europäischen Anarchisten ließen sich mit den falschen ein: Nestor Machno kämpfte mit der Roten Armee gegen die Weiße Konterrevolution, nur um dann von den Roten verraten zu werden. Die spanischen Anarchisten kämpften mit den Kommunisten, die ihnen den Tod wünschten, und den sozialdemokratischen Republikanern, die sich von tiefsten Herzen wünschten, dass die Anarchisten untergehen. In Italien bot sich Errico Malatesta erst gar niemand als möglicher Bündnispartner an. Mit wem hätte man in der Ukraine oder in Spanien koalieren können? Es gab schlicht keine politisch einflussreichen Liberalen, wie wir sie uns gewünscht hätten. Das Problem stand bereits an der Wiege des Anarchismus: Proudhon kam aus der Tradition der Sozialisten und Demokraten; aber die von ihm den Liberalen hingehaltene Hand schlugen sie aus. Die Liberalen gingen größtenteils sang- und klanglos in den Nationalismus, Kolonialismus, Militarismus und dann auch wirtschaftlichen Interventionismus über. Sezessionsrecht? Fehlanzeige. Selbstbestimmung? Fehlanzeige. Antimilitarismus? Fehlanzeige. Wirtschaftliche Freiheit? Fehlanzeige.
Wiedergeburt des Anarchismus in der 1968er-Rebellion
Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Anarchismus, wie so manche andere wertvolle Tradition, durch die Orgien der Staatsgewalt vernichtet und in Europa so tot wie nur irgendetwas; zur Sondersituation der USA komme ich später noch. Doch der Anarchismus feierte seine Wiederauferstehung in der Rebellion der 1960er Jahre: Die Jugendlichen, speziell die in den staatnächsten Institutionen der Schulen und der Universitäten eingeschlossenen Jugendlichen, hatten die Bevormundung satt und sie entdeckten solche Themen wie Eigenverantwortung, Selbstverwaltung, Lokalismus und Kommunalismus, Sezessionsrecht, Antimilitarismus und Antikolonialismus, Aufbau von alternativen Institutionen außerhalb und womöglich gegen den Staat. Diese Bewegungen, heterogen und widersprüchlich, wurden generell als «linksradikal» bezeichnet und bezeichneten sich dann selber auch so. Ihren höchsten europäischen Ausdruck erhielt dieses linksradikale Gemisch in der Person von Daniel Cohn-Bendit, ja, richtig gehört, dem heutigen Grünen Erzetatisten.
Daniel Cohn-Bendit war Leitfigur der französischen Studentenproteste, die, anders als in Weltdeutschland, zeitweise auch von den Gewerkschaften unterstützt wurden. In seinem Buch «Linksradikalismus: Gewaltkur gegen die Alterskrankheit des Kommunismus» (1968) bezieht Daniel Cohn-Bendit sich auf die anarchistische Tradition als Korrektiv zu dem bürokratisch erstarrten System des sozialistischen Ostblocks. Diese Art der Bezugnahme veränderte die klassisch anarchistische Tradition in bezeichnender Weise: Die anarchistische Tradition verlor ihre eigenständige Position, sie war vielmehr nur noch die militant radikalisierte Variante des Marxismus-Leninismus. Dass Proudhon und Bakunin keineswegs radikale, gewaltbereite Revolutionäre waren, sondern zur Vorsicht mahnten und vor allem darauf drangen, dass keine Revolution, die diesen Namen verdiene, irgendeinem Teil des Volks, irgendeinem Mitglied des Volks auch nur die geringsten Vorschriften zu machen habe,[11] das fiel schlicht unter den Tisch. Dass Proudhon das Eigentum als die revolutionäre Kraft begriff, die dem Staat entgegen gesetzt sei und ihn letztlich überwinden werde, wurde nicht rezipiert. Dass es der anarchistischen Analyse nach keiner staatlichen und keiner anderen gewaltsamen Aktionen gegen die verhassten «Reichen» bedürfe, weil ihr unerwünschter und unsozialer Einfluss nur auf der Existenz des Staatsapparates beruhe, ließ man stiekum unter den Tisch fallen. Auf einmal waren die Anarchisten nichts als Marxisten mit «revolutionärer Ungeduld», wie der stalinistische Ideologe der DDR, Wolfgang Harich (1923-1995), es 1971 formulierte.[12] Daniel Cohn-Bendit hatte es ihm leicht gemacht, die Anarchisten als nicht ernst zu nehmende Kinder oder Halbstarke abzuhaken.
Aber wie viel geschickter wäre es, Daniel Cohn-Bendit seine Aussagen von damals entgegen zu halten und damit seinen Verrat am Ideal der individuellen Freiheit nachzuweisen, als zu behaupten, er sei schon immer ein durch und durch verderbter, der Verachtung werter Ideologe des Staatlichkeitswahns gewesen?
Trotz des (Wieder-) Geburtsfehler des Anarchismus in der 1968er-Bewegung wäre es meines Erachtens falsch, den gegen die Staatsgewalt gerichteten Impuls von damals zu ignorieren und diese Tradition denen unwidersprochen zu überlassen, die heute genau das Gegenteil dessen vertreten, worum es damals ging. Der heutige Typus des herrschenden links-grünen Bevormundermenschen[13] steht objektiv dem faschistischen Führerkult näher als den von ihnen immer wieder beschworenen Wurzeln in der 1968er-Bewegung. Vier Beispiele:
— Damals demonstrierte die Neue Linke gegen Notstandsgesetze, heute implementiert die alt gewordene Pseudo-Linke Notstandsgesetze.
— Damals attackierte die Neue Linke die Wissenschaftsgläubigkeit, heute fordert die alt gewordene Pseudo-Linke Wissenschaftshörigkeit.
— Damals kämpfte die Neue Linke gegen militärische Interventionen, die die westliche Hoheit über die moralischen Standards für sich beanspruchen, heute erklärt die alt gewordene Pseudo-Linke militärische Interventionen zum moralischen Standard.
— Damals sah die Neue Linke den Faschismus und den Holocaust logisch aus dem System der bürgerlichen Demokratie entstehen, heute erklärt die alt gewordene Pseudo-Linke, jede Kritik an Staat und Demokratie sei «rechtsradikal».
Ich verweise stellvertretend auf Theodor W. Adorno (1903-1969), von unseren rechten Genossen gern als «Kulturmarxist» diffamiert, der den Holocaust keineswegs als einzigartig bezeichnet wissen wollte, sondern als die Kulmination des bürgerlichen Nationalismus;[14] der im Kollektivismus den Keim von Antisemitismus und Faschismus sah, und demzufolge den kommunistischen Kollektivismus als inhärent faschistisch kennzeichnete.[15]
Ich verweise stellvertretend auf Emmanuel Levinas (1905-1995), der seine Aufgabe als Philosoph darin sah, gegen die Vorstellung anzukämpfen, den Anderen sich anzugleichen und, falls er Widerstand leistet, zu eliminieren.[16] Levinas war übrigens explizit kein Sozialist, er knüpfte mit Hochachtung an die liberale Tradition an – aber rezipiert wird er nur von Linken. In den Annalen unserer Freunde findet man seinen Namen nicht (korrigiert mich, wenn ich falsch liege). Levinas war kein Sozialist, aber auch kein Anarchist, selbst wenn sein «postmoderner» Freund Jaques Derrida (1930-2004) ihn als Anarchisten bezeichnete.[17] Jacques Derrida, auch einer, den wir, anstatt ihn zu verteufeln, entdecken und für uns nutzen sollten.[18]
Aus aktuellem Anlass möchte ich noch einen Namen nennen: Paul K. Feyerabend (1924-1994). Auch er kein expliziter Sozialist, kein bekennender «Linker», der vielmehr kurz mit dem Anarchismus liebäugelte.[19] Damals aber war er der Star der linken Öffentlichkeit. Heute wird er totgeschwiegen. Warum? Feyerabend, «von Hause aus», wie man so schön absurd sagt, Physiker, zeigte auf, dass die Wissenschaft als staatliches System nichts sei als ein Ausdruck von stalinistischer Herrschaft. Warum gibt es nicht jeden Tag Feyerabend-Memes in den Posts der Kritiker von Klimawandel oder Coronamaßnahmen?
Sondersituation USA: Geburt des Libertarismus
Die Situation in den USA differierte stark von der Europas. Der Liberalismus äußerte sich dort deutlich radikaler und staatsskeptischer. Thomas Jefferson (1743-1826) war keineswegs der radikalste, dennoch lesen heute seine Warnungen von der Staatsgewalt sich wie die eines verwirrten Anarchisten und Querdenkers. Henry David Thoreau (1817-1862), in den USA Ausdruck eines liberalen Mainstreams, Erfinder des von Mahatma Gandhi (1869-1948) aufgegriffenen «zivilen Ungehorsams»,[20] radikalisierte Mitte des 19. Jahrhunderts Jeffersons Staatsskepsis zur Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat.[21] Benjamin Tucker (1854-1939) ist es, der die radikalliberale amerikanische Tradition Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts erstmalig mit dem in Europa neu durch Proudhon begründeten Anarchismus verbindet in einer Zeit, in der die offizielle Politik der USA sich immer mehr dem Etatismus zuwendet. Auch ein anderer, ein konservativer Jeffersonianer, Albert Jay Nock (1870-1945), erkannte zur Zeit des «New Deals» der 1930er Jahre die eigentliche Verbindung seiner Tradition mit dem Anarchismus. Paul Goodman (1911-1972), sozusagen der Daniel Cohn-Bendit der USA,[22] stand im Gegensatz zu Cohn-Bendit 100% in der Tradition des Anarchismus, ebenso wie 100% in der Tradition des Jeffersonianismus; er konnte sich also während der Protestbewegung der 1960er Jahre viel selbstsicherer der Perspektive eines Lebens ohne Staatsgewalt zuwenden.
Mitte der 1960er Jahre fusioniert ein Schüler Ludwig von Mises’ (1881-1973), nämlich Murray Rothbard (1926-1995), erneut die radikalliberale und die anarchistische Tradition: Er nimmt einerseits die höchste Stufe der Entwicklung kapitalistischer Ökonomie, wie Ludwig von Mises sie formulierte, und stellt sie in die ihr angemessene Tradition des Anarchismus: Pierre-Joseph Proudhon, Benjamin Tucker, Paul Goodman. Andererseits nimmt er die Tradition des Anarchismus und gibt ihr die ihr angemessene ökonomische Theorie: die des Kapitalismus; wobei «Kapitalismus» hier als Theorie des Handelns unter der Bedingung der Freiwilligkeit verstanden wird, nicht als die Realität eines Systems, das durch staatliche Interventionen geschaffen wurde.[23]
Lehren aus der Geschichte
Meine Lehre aus der Geschichte: Falsche Koalitionen führen zum Falschen. Wenn die Anarchisten aus Furcht vor den Faschisten mit den Bolschewisten koaliert haben, haben die Bolschewisten gewonnen und sind zu Faschisten geworden. Wenn die Liberalen aus Furcht vor den Bolschewisten mit den Faschisten koaliert haben, haben die Faschisten gewonnen und sind zu Bolschewisten geworden. Die Behauptung, in Zeiten der Gefahr müsse man eben Kompromisse eingehen, bedeutet nichts weiter, als dass man die Gefahr zur Wirklichkeit macht. Oder von der anderen Seite her gesehen: Wenn die Zeit nicht reif ist für eine Aktion der Freiheit, gewinnt man nichts, indem man sich mit den Falschen einlässt; im Gegenteil: Das macht die Idee der Freiheit erst recht verdächtig. Gedankenspiele:
1. Hätte die Anarchisten der Ukraine sich mit den Weißen statt mit den Bolschewisten verbunden (kulturell ist das ein sicherlich unmöglicher Gedanke), wäre das Ergebnis nicht besser gewesen: Die Weißen wären nach einem möglichen Sieg über die Bolschewisten mit den Anarchisten genauso verfahren wie Trotzki.
2. Hätten die Anarchisten in Spanien sich den Kommunisten untergeordnet und Franco wäre besiegt worden, so hätten die Kommunisten sie genauso kaltblütig liquidiert wie Trotzki es in Russland tat. Die Vorstellung, ein kommunistisches Regime in Spanien wäre weniger schrecklich geworden als das faschistische, entbehrt jeder Grundlage.
Auf diesem Hintergrund sehe ich die einseitige Orientierung vieler Libertärer heute in Europa an der politischen Rechten mit Sorge. Sicherlich ist die Rechte heute nicht die Rechte wie damals. In den USA ist die Rechte heute im Gegensatz zu vor 1964[24] extrem etatistisch. In Europa ist die Rechte heute im Gegensatz zu vor 1945 weniger etatistisch. Aber dies ändert sich jeweils nach macht- und wahlpolitischen Gegebenheiten. An sechs Politikfeldern will ich zeigen, was ich damit meine:
1. Aktuell scheint der Kampf gegen den Impfzwang (euphemistisch: Impfpflicht) eine vordingliche Aufgabe von Freiheitskämpfern. Doch wie will man das glaubwürdig vermitteln, wenn man sich verbunden hat mit klerikal-faschistischen Kräften, die Abtreibung re-kriminalisieren wollten, also meinen, die Staatsgewalt habe das Recht, den Köper einer jeden Frau gegen deren Willen danach zu untersuchen, ob sie eine Schwangerschaft ggf. abgebrochen habe (eine Praxis, die es in dieser Form vor allem in dem sozialistisch-faschistischen Regime von Nicolae Ceaușescu [1918-1989] in Rumänien gegeben hat)?
2. Vor der sogenannten Pandemie war es das Hauptanliegen der rechten Kräfte, die Migration zu unterbinden. Dieses Anliegen zu unterstützen mit dem Argument, die Migration sei eine Belastung des Sozialsystems – so wie die Pandemie eine Belastung des Gesundheitssystems sei – bedeutet, dass wir die Existenz des Sozialsystems sanktionieren. Wenn die Migration unterbunden ist, ist das Sozialsystem demnach absolut legitim, oder? Und wie kann man logisch konsistent gegen die Grenzschließung zur Prävention des Eindringens von Viren sein, aber diejenige zur Prävention des Eindringens von Migranten bejubeln?
3. Und ein Datum noch vor der sogenannte Flüchtlingskrise. Damals, also kaum mehr als fünf Jahre alt, war es die «rechte» Behauptung, die EU sei eine Bedrohung der nationalen Souveränität («Schuldenunion»). Heißt dies, die Inflationspolitik einer nationalen Zentralbank sei legitim, während nur diejenige der EZB kritikwürdig?
4. Oder nehmen wir die sogenannte Klimakrise. Wollen wir etwa behaupten, dass die Oberhoheit des Staats über die natürlichen Ressourcen keine negativen Konsequenzen habe? Dass ein globalisierter Staat keine globalisierten Krisen auch bezogen auf Umweltschäden hervorrufen wird? War es nicht unser Argument, die Naturkatastrophen, die die Planwirtschaft in der UdSSR, der DDR, der VR China, in Rumänien etc. etc. verursachte, seien Beweise für ihr Versagen?
5. Die Demokratie lässt sich auf verschiedene Weise kritisieren. Die einen beweinen, dass eine Partei, sei es die AfD, sei es Donald Trump, benachteiligt werde oder dass Wahlfälschung vorliege. Soll das heißen, alles sei in Ordnung, wenn die Wahlzettel richtig gezählt werden? Dann darf die Mehrheit über die Minderheit herrschen? (Einschließlich der Nichtwähler, einschließlich der Wähler von Kleinparteien?) Proudhon kritisierte, bei einer Abstimmung gebe der Wähler seiner Souveränität ab. Und dies hielt er für «undemokratisch». Eine völlig andere Art der Kritik.
6. Und noch weiter zur Demokratie: Es ist etwas völlig anderes, die Demokratie anzuklagen, den reibungslosen Ablauf der Staatsgewalt zu behindern, wie es die Faschisten tun, als ihr vorzuwerfen, sie führe im Teufelskreis der Interventionsspirale zu immer mehr Interventionen. Zwischen diesen beiden Arten der Demokratiekritik gibt es keinerlei Verbindung, keinerlei Möglichkeit einer Koalition. Gegenüber der faschistischen Demokratie-Kritik ist die libertäre Antwort unumgänglich: Wenn die Demokratie die Staatsgewalt tatsächlich effektiv begrenzt, sei ihr dafür unendliche Dankbarkeit geschuldet.
Die Liste ließe sich mit weiteren Beispielen anfüllen. Klar geworden sollte sein, dass man die inhaltlichen Positionen nicht mit dem formalen Prinzip der Freiwilligkeit als sozialem Ordnungskriterium vermischen sollte. Jeder Libertäre kann wie jeder andere Bürger auch seine Meinung zu Abtreibung, Atomkraft, Geschwindigkeitsbegrenzung, Klima, Migration, Plastikmüll, Virusbekämpfung und was weiß ich haben. Aber alles, was freiwillig zustande kommt, ist legitim; und alles, was sich nicht freiwillig organisieren lässt, muss bleiben gelassen werden. Das, was legitim zustande kommt, darf übrigens jeder so heftig kritisieren, wie er will, nur verbieten darf er es nicht.
Libertäre werden oft mit der Frage konfrontiert, wie in einer Gesellschaft, die von Freiwilligkeit regiert ist, das eine oder andere Problem gelöst werde. Weil das Zugeständnis, dies nicht zu wissen, umgehend dazu führt, als ignoranter Utopist abgestempelt zu werden, überlegen viele Libertäre krampfhaft, wie sie auf möglichst alle Probleme eine Antwort finden. Und genau das ist die Falle der «totalitären Inhaltlichkeit», wie ich es nenne.
Ein Gedankenspiel zeigt, was ich mit «totalitärer Inhaltlichkeit» meine: Stellen wir uns eine Diktatur mit Planwirtschaft vor. Sie befindet sich in einer Krise und eine demokratische Opposition beginnt, sich zu artikulieren. Nun fragt ein Bürger dieses gedachten Landes einen der Demokraten: «Wie wird in deinem System der Brotpreis festgelegt?» – «Hm», antwortet der Demokrat, «keine Ahnung. Vielleicht entscheidet die Mehrheit, eine Preisregulierung vorzunehmen, vielleicht aber will sie es auch den Bäckern, dem Markt überlassen.» – «Du weichst einer Antwort aus», kontert der Andere, «auf diese Weise werdet ihr elenden Utopisten niemanden überzeugen.»
Demokratie und Anarchie sind zwei alternative formale Methoden der Entscheidungsfindung. Sie können nicht auf eine inhaltliche Position festgelegt werden. Nur Diktatur kann das. Der Sündenfall der Linken war es, ein bestimmtes Ergebnis gesellschaftlicher Interaktion zu erwarten, sodass sie meinten, zur Gewaltanwendung legitimiert zu sein, wenn dieses inhaltliche Ergebnis sich nicht auf Grundlage der Freiwilligkeit von selber einstelle. Die klassischen Anarchisten kämpften gegen die «totalitäre Inhaltlichkeit»; sie waren nicht immer konsequent,[25] aber sie haben sich zumindest bemüht. Wir sollten ihre Bemühungen honorieren und an sie anknüpfen.
[1] Pierre-Joseph Proudhon, Qu’est-ce que la propriété (1840), Paris 1849, S. 237. (Den Dialog habe ich von Anspielungen auf die damaligen politischen Lagern etwas bereinigt und stilisiert.)
[2] Vgl. Stefan Blankertz, Mit Marx gegen Marx, Berlin 2014 (edition g. 111).
[3] Erstmalig auf deutsch dokumentiert in: Pierre-Joseph Proudhon, Für dezentrale Nationen (Essays aus den Jahren 1862 und 1864), Berlin 2022 (edition g. 122).
[4] Dass Proudhon eine im Lichte der Theorie Ludwig von Mises’ falsche Zinstheorie vertrat, tut hier nichts zur Sache. Er forderte jedenfalls nicht die Abschaffung der Zinsen durch staatliches Dekret, sondern meinte, sie in einer Art Genossenschaftsbank umgehen zu können. Sogar einen eigenen Versuch startete er in dieser Richtung, doch sein Bankprojekt wurde als Verstoß gegen das Geldmonopol gewertet und verboten. In «Human Action» wirft Mises Proudhon vor, als eine Art Vorläufer von Lord Keynes (1883-1946) für unbegrenzte öffentliche Ausgaben eingetreten zu sein (zitiert nach der Ausgabe Washington, DC 1966, S. 234; in der deutschen Ausgabe 1940 war der Passus noch nicht enthalten), was natürlich schon darum abwegig ist, weil Proudhon – anders als Mises! – gegen alle Staatsausgaben protestierte.
[5] Brief an Engels, 20. Juli 1870, MEW33, S. 5.
[6] «Sobald die kommunale Ordnung der Dinge einmal in Paris und den Mittelpunkten zweiten Ranges eingeführt war, hätte die alte zentralisierte Regierung auch in den Provinzen der Selbstregierung der Produzenten weichen müssen. In einer kurzen Skizze der nationalen Organisation … heißt es ausdrücklich, dass die Kommune die politische Form selbst des kleinsten Dorfs sein … sollte.» Karl Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich (1871), MEW17, S. 339f. Und: «Emanzipation von der Blutsteuer: Schluss machen mit dem stehenden Heer, der Quelle für Besteuerung und Staatsschulden.» (S. 544.) «Abschaffung der unproduktiven, schädlichen Tätigkeit der Staatsparasiten, denen ein riesiger Anteil des Nationalprodukts für die Sättigung des Staatsungeheuers zum Opfer gebracht wird.» (S. 546.)
[7] Lenin will wissen, dass «Marx hier [in Der Bürgerkrieg in Frankreich (1871)] gar nicht vom Föderalismus im Gegensatz zum Zentralismus» spreche (Staat und Revolution [1917], Werke 25, Berlin 1974, S. 441).
[8] Errico Malatesta, «Revolutionärer Terror» (1924), in: ders., Gesammelte Schriften, Band 2, Berlin 1980, S. 173.
[9] Ich erwähne das aus zwei Gründen. 1. hat im Gefolge der Thesen von Ernst Nolte («Historikerstreit») sich eine Linie etabliert, die den Nationalsozialismus im Rahmen des von Nolte so genannten «Europäischen Bürgerkriegs» seit 1917 (Russische Oktoberrevolution) als Reaktion erklärt. Dies ist gar nicht so weit entfernt von der gängigen marxistischen Deutung des Faschismus als «Reaktion» des verschreckten Bürgertums. Allerdings ist es deutlich sinnvoller, den Beginn des «Europäischen Bürgerkriegs» 1914 anzusetzen, denn ohne 1914 hätte es auch die Russische Oktoberrevolution nicht gegeben: Der biedermeierische Etatismus hat sich selbst zerstört. Insbesondere der Nationalsozialismus ist die Biedermeier-Version des Staatskommunismus, ein «Sozialismus der Eigentümer» (vgl. Stefan Blankertz, Die Katastrophe der Befreiung: Faschismus und Demokratie, Berlin 2015 [edition g. 107], S. 85ff). 2. hat Ludwig von Mises in seinem ansonsten wunderbaren Buch «Liberalismus» von 1927 die unglückliche Bemerkung platziert, der italienische Faschismus habe die «europäische Gesittung» gerettet (Liberalismus, St. Augustin 1993, S. 45), eine Einschätzung, die er später korrigiert: Auch der italienische Faschismus sei «ein totalitäres System ruchloser Unterdrückung» (Omnipotent Government [1944], Auburn 2010, S. 11). Mit «gerettet» meinte Mises vermutlich: gerettet vor dem Bolschewismus. Damit unterstellte er 1927 dem Faschismus eine irgendwie geartete Entgegensetzung zu diesem, was eine völlige Fehleinschätzung war. Viel eher trifft die Analyse Ernst Jüngers (1895-1998) zu (Der Arbeiter, 1930; Der Waldgang, 1951), dass Bolschewismus und Faschismus dem gleichen totalitär-demokratischen Impuls entspringen.
[10] Einerseits wird stets angemahnt, den deutschen Nationalsozialismus als «einzigartig» zu bezeichnen (den man nicht durch Vergleiche «relativieren» oder «verharmlosen» dürfe), andererseits bringen einem Bemerkungen wie diese, der italienische und spanische (portugiesische, argentinische, später chilenische usw.) Faschismus sei nicht ganz so schlimm gewesen, schnell den Vorwurf der Relativierung und Verharmlosung des Faschismus ein. Castro war nicht so schlimm wie Stalin, Stalin nicht so schlimm wie Mao, Mao nicht so schlimm wie Pol Pot. Das rechtfertigt Castros Verbrechen nicht.
[11] Vgl. neben Pierre-Joseph Proudhon, Für dezentrale Nationen (siehe oben Fn. 3), Michael Bakunin, Unterschied ist Leben, Harmonie der Tod: Brief 1872, Berlin 2021 (edition g. 117), ebenfalls erstmals ins Deutsche übertragen.
[12] Wolfgang Harich, Zur Kritik der revolutionären Ungeduld: Eine Abrechnung mit dem alten und dem neuen Anarchismus, Basel 1971.
[13] Ein Begriff von Jens Bjørneboe (1920-1976). «Vi er endelig ankommet til formyndermenneskets tidsalder.» (Wir sind endlich angekommen im Zeitalter des Bevormundermenschen. – Rede an Abiturienten, Oslo 1956; abgedruckt in: Jens Bjørneboe, Norge, mitt Norge: Essays om formyndermennesket, Oslo 1968.) Gilles Deleuze (1925-1995) sprach 1990, weniger poetisch, doch genauso zutreffend von der »Kontrollgesellschaft«. Aber im Gegensatz zu Deleuze wusste Bjørneboe, dass der Staat die treibende Kraft dahinter ist. Bjørneboes Gedanken habe ich aufgegriffen in: Rothbard denken, Berlin 2021 (edition g. 120).
[14] «Schon im ersten Weltkrieg haben die Türken – die sogenannte Jungtürkische Bewegung unter der Führung von Enver Pascha und Talaat Pascha – weit über eine Million Armenier ermorden lassen. … Der Völkermord hat seine Wurzel in jener Resurrektion des angriffslustigen Nationalismus, der seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts in vielen Ländern sich zutrug.» Theodor W. Adorno, Erziehung nach Auschwitz (1966), in: ders., Stichworte, Frankfurt/M. 1970, S. 86.
[15] Erziehung nach Auschwitz, ebd., S. 92: «Die für die Welt von Auschwitz charakteristischen Typen … bezeichnet … die blinde Identifikation mit dem Kollektiv. … Für das Allerwichtigste gegenüber der Gefahr einer Wiederholung [von Auschwitz] halte ich, der blinden Vormacht aller [sic] Kollektive entgegenzuarbeiten, den Widerstand gegen sie dadurch zu steigern, dass man das Problem der Kollektivierung ins Licht rückt.»
[16] Vgl. Stefan Blankertz und Cornelia Muth, Husserls Intuition und Levinas’ Beitrag, Berlin 2018 (edition g. 404).
[17] Jacques Derrida, Adieu (1997), München 1999, S. 122, S. 170.
[18] Vgl. Stefan Blankertz, Derrida liest, Berlin 2018 (edition g. 112).
[19] So publizierte er in der von seinem Schüler Hans-Peter Duerr herausgegebenen Schriftenreihe «Unter dem Pflaster liegt der Strand» des anarchistischen Karin-Kramer-Verlags. Zu meinem eigenen Briefaustausch Anfang der 1980er Jahre mit PKF vgl. den Anhang in Die Katastrophe der Befreiung, Berlin 2015 (edition g. 107).
[20] Natürlich ist der eigentliche Erfinder Etienne de al Boetie (1530-1563) Mitte des 16. Jahrhunderts, Discours de la servitude volontaire, dt. Von der freiwilligen Knechtschaft, verschiedene Ausgaben, z.B. hg. und eingeleitet von Heinz-Joachim Heydorn (Frankfurt/M. 1968: EVA) oder in der Übersetzung von Gustav Landauer (Frankfurt/M 2009: Trotzdem-Verlag). Eine englische Ausgabe (»The Politics of Obedience: The Discouse of Voluntary Servitude«) wurde von Murray Rothbard eingeleitet (New York 1975: Free Life Editions).
[21] So der deutsche Titel.
[22] Was die Art des Einflusses betrifft, nicht die Jugendlichkeit.
[23] Vgl. Stefan Blankertz, Rothbard denken, Berlin 2021 (edition g. 120).
[24] Als Scheitelpunkt nehme ich die Präsidentschaftskandidatur von Barry Goldwater (1909-1998), der den traditionellen Antimilitarismus der Republikaner verriet. Seine innenpolitischen Reden ließ er freilich von dem Anarchisten Karl Hess (1923-1994) verfassen. Die Verwandlung der us-amerikanischen Rechten beschreibt Murray Rothbard detailliert in seinem posthum veröffentlichen Buch The Betrayal of the American Right.
[25] Ganz besonders problematisch ist der Fall Peter Kropotkins (1842-1921). Vgl. Stefan Blankertz, Minimalinvasiv, Berlin 2015 (edition g. 101), S. 125ff.