Murray Rothbards revolutionäre Theorie

Aus: Murray Rothbard, Conceived in Liberty, 4 Bände 1975 bis 1979, den Bänden 3 (#1) und 4 (#2). A four-volume hardback edition was published by the Ludwig von Mises Institute in 1999. Single-volume edition © 2011 Ludwig von Mises Institute and published under the Creative Commons Attribution License 3.0. http://creativecommons.org/licenses/by/3.0. Published by the Ludwig von Mises Institute, 518 West Magnolia Avenue, Auburn, Alabama 36832. www.mises.org. ISBN: 978-1-933550-98-5. Übersetzung: Stefan Blankertz.

 

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Murray Rothbards Theorie der revolutionären Dynamik

»Wir stellen fest, dass die primären Motivationen [für eine Revolution] dazu tendieren, aus zwei entgegengesetzten Arten politischer Handlungen zu entspringen: den Handlungen des Staats, der seine Macht über die Bevölkerung ausdehnt, und den Handlungen der Bevölkerung, die sich gegen die Staatsmacht stellt oder gegen sie rebelliert. Wir stellen fest, dass die Handlungen des ersteren primär durch ökonomische Interessen motiviert sind, während die der letzteren primär durch mehr abstrakte ideologische oder moralische Anliegen.

Lassen Sie uns schauen, warum das so ist. Das Wesen des Staats durch die Geschichte hindurch ist das einer Minderheit der Bevölkerung, die eine Machtelite oder ›herrschende Klasse‹ bildet. Sie lebt von der Mehrheit oder den ›Beherrschten‹, die sie regiert. Da die Mehrheit nicht von der Minderheit leben kann, ohne dass Wirtschaft und Sozialsystem schnell zusammenbrechen, und da die Mehrheit niemals fortwährend gemeinsam handeln kann, sondern von einer Oligarchie geführt werden muss, wird jeder Staat so beschaffen sein, dass er die Mehrheit zum Nutzen der herrschenden Minderheit ausplündert. Ein weiterer Grund für die Unausweichlichkeit der Minderheitenherrschaft liegt im durchgängigen Faktum der Arbeitsteilung: die Mehrheit der Öffentlichkeit muss die meiste Zeit des Lebens damit verbringen, den Lebensunterhalt zu verdienen. Darum müssen die tatsächlichen Regierungsgeschäfte vollzeitbeschäftigten Profis überlassen bleiben, die notwendig eine Minderheit der Gesellschaft bilden.

Durch die Geschichte hindurch bestand der Staat aus einer Minderheit, die eine Mehrheit ausplündert und tyrannisiert. Dies bringt uns zu der großen Frage, dem großen Geheimnis der politischen Philosophie: dem Geheimnis des zivilen Gehorsams. Von Etienne de la Boetie[1] über David Hume[2] bis zu Ludwig von Mises[3] haben politische Philosophen gezeigt, dass kein Staat – keine Minderheit – die Macht lange behalten kann, wenn es nicht wenigstens passiv von der Mehrheit eine Unterstützung gibt. Warum aber fährt die Mehrheit fort, den Staat zu akzeptieren oder zu unterstützen, obwohl dies eine offensichtliche Zustimmung zur eigenen Unterdrückung ist?

An dieser Stelle stoßen wir auf die alt hergebrachte Rolle der Intellektuellen, der Meinungsmacher in der Gesellschaft. Die herrschende Klasse – bestehe sie nun aus Kriegsherren, Adelige, Bürokraten, feudalen Großgrundbesitzern, Wirtschaftsmonopolisten oder einer Koalition einiger dieser Gruppen – muss Intellektuelle beschäftigen, um die Mehrheit der Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass deren Regierung wohltätig, unvermeidlich, notwendig oder gar göttlich sei. Die führende Rolle des Intellektuellen durch die Geschichte hindurch ist die des Hofintellektuellen, der, um als Juniorpartner an der Macht und am Mammon der herrschenden Klasse einen ›Anteil‹ zugestanden zu kriegen, Rechtfertigungen der staatlichen Herrschaft ausspinnt und die Öffentlichkeit fehlleitet. Dies ist das alt hergebrachte Bündnis von Kirche und Staat, von Thron und Altar, wobei die Kirche in modernen Zeiten größtenteils durch säkulare Intellektuelle und ›wissenschaftliche‹ Technokraten ersetzt wurde.

Wenn staatliche Herrscher die staatliche Macht nutzen und mehren, ist dabei ihre primäre Motivation ökonomisch: ihre Plünderung auf Kosten der Unterdrückten und Steuerzahler zu erhöhen. Die Ideologie, die sie einsetzen und die von den Hofintellektuellen formuliert und in der Gesellschaft verbreitet wird, ist eine ausgearbeitete Rationalisierung ihrer ökonomischen Interessen. Die Ideologie ist Verkleidung für ihre Raubzüge, die fiktive Kleidung, die die Intellektuellen spinnen, um die nackten Plündereien des Herrschers zu bedecken. Das ökonomische Motiv hinter der ideologischen Tracht des Staats ist das Herz der Angelegenheit.

Jedoch, was ist mit den Handlungen der Rebellen gegen die Staatsmacht? – jenen seltenen, aber lebendigen historischen Situationen, wenn Unterdrückte aufstehen, um die Staatsmacht zu verringern, abzuschütteln oder abzuschaffen. Was, kurz gesagt, ist zu sagen von solchen großen Ereignissen wie der amerikanischen Revolution oder wie den klassischen liberalen Bewegungen im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert? Sicherlich gibt es auch hier ein ökonomisches Motiv, in diesem Fall die Verteidigung des Privateigentums der Unterdrückten gegen die Abzüge durch den Staat. Aber unsere Feststellung ist hier, das hauptsächliche Motiv der Opposition oder Revolutionäre sei eher ideologisch als ökonomisch, selbst wenn beide wie in der amerikanischen Revolution miteinander in Beziehung stehen.

Grundsätzlich entspringt diese Behauptung der Analyse, dass die herrschende Klasse – klein und spezialisiert – ein Motiv hat, vierundzwanzig Stunden am Tag über ihre ökonomischen Interessen nachzudenken. Fabrikanten wollen Zoll, Händler wollen ihre Konkurrenz schädigen, Bankiers wollen Steuern, damit der Staat ihnen die Anleihen zurückzahlen kann, öffentliche Bedienstete wollen einen starken Staat, der ihnen ihr Gehalt zahlt, Bürokraten wollen ihren Machtbereich ausdehnen – sie alle sind Profi-Etatisten. Sie arbeiten beständig daran, ihre Privilegien zu erhalten und auszuweiten. Deshalb der Vorrang ökonomischer Motive für ihr Handeln. Die Mehrheit dagegen hat es zugelassen, dass sie fehlgeleitet wird, weil ihre Interessen meist unklar und schwer durchzusetzen sind, und weil die Mehrheit eben nicht aus professionellen ›Anti-Etatisten‹ besteht, vielmehr aus Leuten, die ihren täglichen Geschäften nachgehen. […]

In der Natur der Massen der Unterdrückten liegt es, dass es ihnen unmöglich ist, von selber zur oppositionellen oder revolutionären Ideologie zu finden. Sie sind an ihre engen täglichen Routinen gewohnt, haben normalerweise kein Interesse an Ideologie; deshalb ist es für die Massen unmöglich, sich selber an den Haaren aus dem Sumpf zu ziehen und die Ideologie für eine Bewegung herauszuhauen, die in Opposition zum existierenden Staat steht. Hier gelangen wir zur lebendigen Rolle des Intellektuellen. Nur Intellektuelle, die professionell und vollzeitlich (oder nahezu vollzeitlich) mit Ideen beschäftigt sind, haben die Zeit, die Fähigkeit und die Neigung, um eine oppositionelle Ideologie zu formulieren und dann die Botschaft unter die Menschen zu bringen. Im Gegensatz zu den etatistischen Hofintellektuellen, deren Rolle darin besteht, als Juniorpartner ökonomische Inter­essen der herrschenden Klasse zu rationalisieren, ist es die richtungweisende Rolle der radikalen oder oppositionellen Intellektuellen, die oppositionelle oder revolutionäre Ideologie zu formulieren und die Ideologie dann in den Massen zu verbreiten, wodurch sie sie zur revolutionären Bewegung umformen.«[4]

 

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Murray Rothbards Theorie der revolutionären Radikalität

»Besonders seit den frühen 1950er Jahren strebt Amerika an, Revolutionen in der ganzen Welt entgegenzutreten. Der Prozess brachte eine Geschichtsschreibung hervor, die die eigene revolutionäre Vergangenheit in Abrede stellt. Solch eine neokonservative Sicht auf die amerikanische Revolution ist wie ein Echo des reaktionären Autors Friedrich von Gentz,[5] der im Dienst der österreichischen und englischen Regierungen stand. Sie beabsichtigt, die amerikanische von den anderen Revolutionen der westlichen Welt zu isolieren, die vorher und nachher stattfanden. Die amerikanische Revolution ist, dieser Sichtweise zufolge, einzigartig; sie allein von allen modernen Revolutionen war nicht revolutionär; stattdessen war sie moderat, konservativ, darauf bedacht, die bestehenden Institutionen vor britischer Einmischung zu schützen. Hierüber hinaus fand sie, wie alles in Amerika, wunderbar harmonisch und einvernehmlich statt.

Diese Sichtweise offenbart nun als erstes eine extreme Naivität bezogen auf die Natur der Revolution. Keine Revolution ist je wie Athene ausgewachsen und in voller Montur der Stirn der bestehenden Gesellschaft entsprungen; keine Revolution ist je aus einem Vakuum hervorgegangen. Keine Revolution je ist geboren worden aus Ideen allein, sondern aus einer langen Kette von Machtmissbrauch und einer langen Geschichte der ideologischen und institutionellen Vorbereitung. Und keine Revolution, selbst die radikalste, von der englischen Revolution des siebzehnten zu den vielen Revolutionen der dritten Welt im zwanzigsten Jahrhundert, ist je gezündet worden ohne eine Reaktion zu sein auf eine zunehmende Unterdrückung durch den bestehenden Staatsapparat. Alle Revolutionen stellen derart eine Reaktion dar auf Verschlimmerungen der Unterdrückung; und in diesem Sinne könnten alle Revolutionen ›konservativ‹ genannt werden; das aber würde Hackfleisch aus der Bedeutung ideologischer Konzepte machen. Wenn die französische und die russische Revolution ›konservativ‹ zu nennen sind, so könnte es auch die amerikanische Revolution. […]

Es bedarf einer langen Reihe von Machtmissbrauch, bis die Masse des Volkes überzeugt ist, dass sie die eingeschliffenen Gewohnheiten und Loyalitäten über Bord wirft und eine Revolution macht. Darum ist es absurd, die amerikanische Revolution als eine ›konservative‹ Ausnahme zu bezeichnen. Tatsächlich ist dieser Durchbruch gegen die existierenden Gewohnheiten, dieser genuine Akt der Revolution an und für sich ein außergewöhnlich radikaler Akt. Alle Massenrevolutionen sind für sich genommen hochgradig radikale Vorkommnisse, weil sie im Unterschied zu bloßen Staatsstreichen die Massen zu einem gewaltsamen Handeln antreiben.

Aber der tiefsitzende Radikalismus der amerikanischen Revolution geht hierüber weit hinaus. Sie ist eng verknüpft mit den radikalen Revolutionen, die ihr vorauf gingen und die ihr folgten, speziell der französischen. Aus den Forschungsarbeiten von Caroline Robbins[6] und von Bernard Bailyn[7] ist uns diese unverbrüchliche Verschränkung der radikalen Ideologie bekannt, die eine gerade Linie bildet von den englischen republikanischen Revolutionären des siebzehnten Jahrhunderts zu den Commonwealthmen[8] des späten siebzehnten und des achtzehnten Jahrhunderts zu französischen und amerikanischen Revolutionären. Und diese Ideologie des Naturrechts und der individuellen Freiheit war bis ins Mark revolutionär. Wie Lord Acton[9] bezogen auf radikalen Liberalismus betonte, setzte dieser einen Standard für die Revolution, indem er ein rigoroses ›Sollen‹ formulierte, an welchem das ›Ist‹ gemessen wird.

Die Amerikaner waren gegenüber Unterdrückung immer halsstarrig, rebellisch und ungeduldig, wie es zahlreiche Rebellionen des späten siebzehnten Jahrhunderts bezeugen; sie haben auch ihr eigenes individualistisches und libertäres Erbe, ihre Ann Hutchinson und die Quasi-Anarchisten von Rhode Island, einige mit direkter Verbindung zum linken Flügel der englischen Revolution. Gestärkt und angeleitet von der entwickelten libertären Ideologie des Naturrechts im achtzehnten Jahrhundert, machten und gewannen die Amerikaner ihre Revolution als zunehmend eskalierende und sich radikalisierende Reaktion auf die verstärkte Herrschaft des britischen Reichs in den Bereichen der Wirtschaft, der Verfassung und der Religion. […] Ein Licht für alle unterdrückten Völker der Welt!

Die amerikanische Revolution war auch noch in vielerlei weiterer Hinsicht radikal. Sie war der erste erfolgreiche Krieg zur nationalen Befreiung gegen westlichen Imperialismus. […] Wie jeder Volkskrieg teilte auch die amerikanische Revolution die Gesellschaft unvermeidlich in zwei Lager. Die Revolution war keine friedliche Verkörperung eines amerikanischen ›Konsens‹; sie war […] im Gegenteil ein Bürgerkrieg. […] Während man die konstituierte Regierung entweder ignorierte oder über den Haufen warf, fanden die Amerikaner zurück zu neuen quasi-anarchistischen Formen der Regierung: spontane lokale Komitees.«[10]

 

[1] 1530 -1563. Englische Ausgabe mit einer Einleitung von Murray Rothbard (The Politics of Obedience: The Discourse of Voluntary Servitude, New York 1975), deutsche Ausgabe mit einer Einleitung von dem konservativ-anarchistischen Marxisten Heinz-Joachim Heydorn (Über die freiwillige Knechtschaft des Menschen, Wien 1968).

[2] 1711-1776.

[3] 1881-1973. Interessant, dass Rothbard hier Mises, der sich stets als Ökonom verstand, einen »politischen Philosophen« nennt.

[4] Bd. 3, übersetzt nach der Originalausgabe S. 351- 353.

[5] 1764 -1832.

[6] 1903-1999. Caroline Robbins, The 18th-Century Commonwealthman, Cambridge 1959.

[7] Bernard Bailyn, The Ideological Origins of the American Revolution, Cambridge 1967.

[8] Eine Gruppe von britischen Republikanern mit großem Einfluss auf die amerikanischen Kolonien (insbesondere durch die Cato’s Letters zwischen 1720 bis 1723). Sie werden, wohlgemerkt, auch von Staatssozialisten als ihre Vorläufer in Anspruch genommen.

[9] 1824-1902.

[10] Bd. 4, S. 44-443. Diese Passagen belegen, dass Rothbard weder von Linkskonservativen noch Rechtspopulisten zu vereinnahmen ist.