Paul Goodmans kämpferischer Pazifismus

Stefan Blankertz

Vortrag im Berliner Gestaltsalon, Freitag den 14. Oktober 2022.

In den folgenden Überlegungen:

1 Aktualität des Themas.

2 Goodmans Kriegsdienstverweigerung im Zweiten Weltkrieg und der Ursprung der Gestalttherapie.

3 Gründe für einen kämpferischen Pazifismus.

1

Paul Goodman entdeckte ich vor ziemlich genau fünfzig Jahren. Das weiß ich darum so genau, weil 1972 ich in meiner kleinen Schülerzeitschrift den ersten Artikel über ihn veröffentlichte. Ich sage nicht, «Paul Goodman, der Mitbegründer der Gestalttherapie», denn dass er das war, wusste ich damals nicht, und mit Gestalttherapie beschäftigte ich mich auch lange Zeit später noch nicht. In meiner soziologischen Doktorarbeit 1982 zitiere ich zwar das Buch «Gestalt Therapy», aber nicht als therapeutische, sondern als gesellschaftswissenschaftliche Theorie. Ich entdeckte Goodman als Anarchisten und als einen radikalen Schulkritiker. Die gestalttherapeutische Seite Goodmans beschäftigt mich seit Mitte der 1980er Jahre, als ich von Hilarion Petzold gefragt wurde, ob ich auf einem von ihm organisierten Kongress von Gestalttherapeuten etwas über Paul Goodman berichten könne. Seit Mitte der 1990er Jahre habe ich die Chance, im Rahmen der Ausbildung von Gestalttherapeuten als Theorietrainer zu wirken und ich versuche, den Funken meiner Begeisterung für das Buch «Gestalt Therapy» auf angehende Gestalttherapeuten überspringen zu lassen. Fünfzig beziehungsweise dreißig Jahre führe ich also viele Diskussionen über Goodman und habe viel über ihn publiziert. Das Buch «Gestalt Therapy» kenne ich in- und auswendig, die Biographie Goodmans erzähle ich mitunter mehrmals im Jahr. Und doch gibt es ein Thema, das ich bisher nicht berührt habe, weder mündlich noch schriftlich, nämlich Goodmans Pazifismus.

Dabei habe ich häufig in Vorbereitung auf einen Workshops gedacht, es könnte zu einer Diskussion kommen, wenn ich erwähne, dass Goodman 1944/45, gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, den Kriegsdienst verweigern wollte. Zu Goodmans Kriegsdienstverweigerung gleich noch mehr, denn sie hängt biographisch unmittelbar mit der Entstehungsgeschichte der Gestalttherapie zusammen. Ich erwartete kritische bis empörte Rückfragen, wie denn die kriegerische Aggressionen des deutschen Faschismus und des japanischen Feudalismus anders als durch Waffengewalt hätten besiegt und in die Schranken verwiesen werden können.

Kriegsdienstverweigerung hatte in der Bundesrepublik Deutschland einst einen guten Klang und war moralisch sakrosankt, jedenfalls in der subgesellschaftlichen Nische, in der die Gestalttherapie zu Hause ist; so erkläre ich mir das Ausbleiben einer Diskussion. 1983 sagte Heiner Geißler, damals Generalsekretär der CDU und zugleich Gesundheitsminister, der Pazifismus habe Auschwitz erst möglich gemacht.[1] Diese Aussage löste damals einen Skandal aus, der heute «Shitstorm» genannt werden würde. Das ist seit ein paar Monaten genau anders herum. Stellvertretend unter anderen nenne ich den Schriftsteller Ralf Bönt,[2] den Sänger Campino von der linken Punkband «Die Toten Hosen»,[3] sowie last not least den sozialdemokratischen Bundeskanzler Olaf Scholz,[4] alle drei Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen, die erklärt haben, dass sie heute nicht mehr verweigern würden. Meine Frage lautet, was sich denn inzwischen geändert habe. Ist Krieg heute weniger menschenverachtend als damals? Oder andersherum: War damals die moralische Verteilung von Gut und Böse weniger eindeutig als heute? Bereits 1999  begründete Joschka Fischer als grüner Außenminister die Entscheidung, dass die Bundesrepublik sich am Einsatz im Kosovo beteilige, mit der Parole «Nie wieder Auschwitz!».[5] Wenn wir dies als Begründung akzeptieren, dann wäre Pazifismus in der Tat ein Instrument des Teufels: In Friedenszeiten müsste man sich rüsten, um das Böse, wenn es denn angreift, bekämpfen zu können, und Kriegszeiten würden verlangen, sich auf der moralisch richtigen Seite militärisch zu engagieren, egal ob man selber betroffen ist oder der Konflikt sonstwo stattfindet. Der Aussage, es sei darum aktuell so viel schlimmer als früher, weil Putin mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine einen «Kulturbruch» begangen habe, ist nur ein zynisches Mundverziehen entgegen zu halten. Wo gab es in Geschichte oder Gegenwart kriegführende Parteien, die keinen Kulturbruch begehen? Oder andersherum: Kriegerische Brutalität ist leider Teil der Kultur in Geschichte und Gegenwart, des Westens wie des Ostens, des Nordens wie des Südens. Man kann das als natur- oder gottgegeben hinnehmen.

Der Anarchist Paul Goodman war einer von denen, die eine Kultur des Kriegs nicht hinnehmen wollten. Und ohne seine pazifistische Weigerung, den Krieg als natur- oder gottgegeben hinzunehmen, wäre die Gestalttherapie nicht entstanden. Es gibt eine enge biographische Verbindung von Goodmans Pazifismus und der Entstehung der Gestalttherapie, die ich nun umreißen werde.

2

Das politische Engagement des 1911 geborenen Paul Goodman vor 1944 liegt im Dunkeln, ganz einfach weil er Kurgeschichten, Romane, Theaterstücke und Gedichte verfasste, keine politischen Texte. Goodman gehörte irgendwie und irgendwo der linken Künstler-Bohème an. Anfang des 20. Jahrhunderts brodelte es in den USA, es gab die Wirtschaftskriese, es gab vielfältige revolutionäre und reformistische Bestrebungen. Sein Freund und Nachlassverwalter Taylor Stoehr meinte 2011, also hundert Jahre nach Goodmans Geburt, er sei schon mit rund zwang Jahren Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre Anarchist gewesen.[6] Paul Goodmans älterer Bruder, der Architekt Percival Goodman, stellte es 1986 in einem Interview so dar: Mitte der 1940er Jahre sei er selber Stalinist und Paul Trotzkist gewesen; während ihrer Arbeit an einem gemeinsamen Buch hätten sie sich in Richtung Anarchismus entwickelt.[7] Fest steht, dass Paul Goodman zu denen gehörte, die eine Beteiligung der USA an einem weiteren Weltkrieg ablehnten. Sie werden heute abschätzig als «Isolationisten» bezeichnet, ein Begriff, der nicht sinnentstellender sein könnte. Denn das Ziel der «Isolationisten» bestand und besteht in der friedlichen Zusammenarbeit unter Einbeziehung möglichst aller Völker. Der abschätzige Begriff «Isolationisten» unterstellt, dass es die Aufgabe der USA sei, überall auf der Erde mit militärischer Präsenz für Ruhe und Ordnung zu sorgen; und es sei dementsprechend eine Form von Selbstisolation, wenn sie sich vor dieser Rolle als Weltpolizist drücken würden. Mitunter können die gleichen Leute, die abschätzig gegen die Isolationisten reden, ebenfalls den US-Imperialismus anklagen, dem die Isolationisten sich entgegen gesetzt haben. In den 1930er Jahren sympathisierte unzweifelhaft die große Mehrheit der US-Bürger mit der isolationistischen Haltung. Zu der isolationistischen Koalition gegen eine erneute Kriegsbeteiligung gehörten neben Anarchisten, Pazifisten, Stalinisten und Trotzkisten auch jene konservativen Patrioten, die an den liberalen Idealen der Gründungsväter der USA festhielten. Nach dem Überfall des Dritten Reichs auf die UdSSR Mitte 1941 scherten die Stalinisten aus der isolationistischen Koalition gegen den Krieg aus, ebenso die Trotzkisten, die die Seite der alliierten Kräfte für das «kleinere Übel» erklärten, und das obwohl Leo Trotzki im August 1940 von einem Auftragsmörder Stalins erschlagen worden war. Mit dem Angriff des japanischen Kaiserreichs gegen Pearl Harbor Ende 1941 schwenkten die meisten Konservativen und mit ihnen die meisten US-Bürger um. Es blieb ein kleiner Haufen, zu dem Paul Goodman gehörte.

Ein paar Worte zur Wehrpflicht in den USA aus historischer Perspektive. Die erste Wehrpflicht auf Bundesebene führten die beiden Kriegsparteien im amerikanischen Bürgerkrieg ein. In New York kam es 1863 deswegen zu schweren Unruhen, den «Draft Riots», die bis heute schwersten Unruhen in New York überhaupt. Im Ergebnis führten sie dazu, dass kaum New Yorker zum Dienst im Bürgerkrieg auf der Seite der Nordstaaten gezwungen wurden. Zu einer zweiten Wehrpflicht auf Bundesebene kam es zu Beginn des Kriegseintritts der USA in den Ersten Weltkrieg 1917. Und zur dritten 1940 rund ein Jahr vor Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg. Zu keinem Zeitpunkt war die Armee der USA in der Lage, alle Wehrpflichtigen unterzubringen. Es handelte sich immer darum, dass durch ein Verfahren der Lotterie diejenigen jungen Männer ausgewählt wurden, die sich bei einer Musterungsstelle zu melden hatten. Um ein Beispiel der Größenordnung zu geben: Zum Ersten Weltkrieg wurden weniger als zehn Prozent der Wehrpflichtigen eingezogen. Die Lotterien richteten sich nach den jeweils benötigten Mannstärken der Armee. Die Zahl der Verweigerer aus Gewissensgründen im Zweiten Weltkrieg wird auf 72.000 geschätzt.[8] Das FBI deckte hunderttausende Fälle von versuchtem Ausweichen vor der Einberufung auf und brachte sie zur Anklage. Gewaltsame Vorführung im Musterungsbüro oder bei der zugeteilten Einheit, Erzwingungshaft und bei fortgesetzter Weigerung mehrjährige Gefängnis- und hohe Geldstrafen drohten den Verweigerern. Viele tausende Männer landeten im Gefängnis. Einige starben aufgrund von Misshandlung während der Haft.[9] Seit 1863 gab es auch die Möglichkeit, sich von der Wehrpflicht freizukaufen; dies wurde zum fortwährenden Streitpunkt, da diese Möglichkeit bedeutete, dass tendenziell nur junge Männer aus armen Familien zwangsweise eingezogen wurden. Eine vierte Wehrpflicht galt im Kalten Krieg, und die Auseinandersetzungen um sie eskalierten im Vietnamkrieg. Seit 1972 ist die Wehrpflicht abgeschafft, es gibt jedoch für junge Männer ab 1980 eine Registrierungspflicht, um die Wiedereinführung einer neuen Wehrpflicht jederzeit möglich zu machen.

Das war die Situation, als Paul Goodman 1944 das Los traf und er aufgefordert wurde, sich mustern zu lassen. Er überlegte, wie er sich verhalten solle: Mitmachen oder Widerstand leisten? Dazu schrieb er eine Serie von Essays, die er in kleinen Avantgarde-Blättern veröffentlichte. 1946 fasste er sie unter dem Titel «The May Pamphlet» zusammen; «The May Pamphlet», weil er die Texte im Mai 1945 fertig gestellt hatte, im Monat der Kapitulation des Dritten Reiches und ein viertel Jahr vor dem Sieg über Japan. 1962 überarbeitete er die Texte und publizierte sie erneut unter dem Titel «Drawing the Line» (die Grenze ziehen).[10] Warum «Drawing the Line» (die Grenze ziehen) wird gleich klar werden. – Goodman wurde übrigens ausgemustert, sodass es zu keinem Konflikt kam.

Den Hintergrund der Essays bildete das Ideal einer freiwilligen Gemeinschaft; dieses Ideal bezeichnete Goodman als «libertär» und «anarchistisch». Er verwies darauf, dass freiwillige Gemeinschaften nicht konfliktfrei seien. Einer der Essays trägt die Headline «Natürliche Gewalt»,[11] die konfliktbereinigend sei, im Gegensatz zur «unnatürlichen Gewalt» des Kriegs. Später wird Goodman Mahatma Gandhi und dessen Konzept der Gewaltlosigkeit vorwerfen, Schuldgefühle zu intensivieren:[12] Da der Lebensvollzug notwendig aggressive Elemente beinhalte, könne man dem Ziel der «dogmatischen Gewaltlosigkeit», wie Goodman es nannte, nicht entsprechen. Goodman verwarf das Ziel Gandhis, als Einübung in die Gewaltlosigkeit sich jeglicher aggressiver Impulse auch im Alltag zu enthalten; er hielt ein solches Ziel ganz im Gegenteil dafür geeignet, die natürliche Aggressivität zu steigern, bis sie in die Bereitschaft mündet, einen Krieg zu führen. Darüber hinaus lehnte er nicht jede Form des bewaffneten Widerstands ab; vielmehr hatte er eine romantisch-idealisierte Vorstellung vom Partisanen- oder Guerilla-Kampf[13] – «romantisch-idealisiert» nenne ich sie, weil zumindest ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Guerilla-Kampf nirgendwo erfolgreich sein kann, wenn er nicht massiv von einer der Großmächte unterstützt wird. Wogegen Goodman sich strikt wandte, war die großangelegte, militärische Kriegsführung mit disziplinierten Armeen und Massenvernichtungswaffen.

Einen wichtigen Aspekt seiner Essays bildete die Frage, warum die Menschen als Kanonenfutter in den Krieg ziehen. Es mag ja sein, präzisierte er, dass die Herrschenden ein ökonomisches oder sonst ein Interesse am Krieg haben, aber warum um alles in der Welt machen diejenigen mit, deren Leben, deren Wohlstand, deren Glück der Krieg zerstört? Hier griff Goodman die Theorie Wilhelm Reichs auf, der sich seit Anfang der 1940er Jahre in New York, Goodmans Heimatstadt, im Exil befand. Die Menschen sind aufgrund der herrschenden Verhältnissen so unglücklich, lautete die an Reich angelehnte Auskunft, dass sie den Wunsch nach Veränderung als Destruktion erleben. Wie kommt das zustande? Jeder Mensch sei, sagte Goodman, so mit den herrschenden Verhältnissen verwoben, dass kein Unterschied mehr zwischen «wir» und »sie», zwischen den Unterdrückten und den Unterdrückern, zwischen den Menschen und dem System gemacht werden könne. An dieser Stelle kam die Formulierung «drawing the line» ins Spiel: die Grenze der Kooperation mit dem System ziehen. Immer das «kleinere Übel» zu wählen, bedeutet letztlich, das Übel zu stabilisieren.[14] Aufgrund der eigenen Verwobenheit mit den herrschenden Verhältnissen wäre jede Grenze der Kooperation, die man zieht, freilich stets willkürlich. Sie kann nicht konsistent, nicht konsequent sein. Jeder fängt irgendwo an. Aber eine Grenze stand für Goodman fest: Sich so weit wie möglich von allem fernhalten, was mit Krieg zu tun hat. Beim Krieg mitzumachen, wie moralisch er auch begründet sein mag, verewigt den Krieg. Der Krieg lässt sich nicht durch Krieg beenden. Es ist leicht nachzuvollziehen, dass diese Argumentation in den 1960er Jahren bei denen, die gegen den Vietnamkrieg protestierten und sich zu der Zeit dem Kriegsdienst verweigerten, auf fruchtbaren Boden fiel und dass Goodman zu ihrem Helden wurde.

Aber zuvor kommen noch Laura und Fritz Perls ins Spiel. Auf einem der wunderlichen Bahnen des Weltgeistes gerieten Goodmans Essays zur Kriegsdienstverweigerung nach Südafrika in die Hände von Laura und Fritz Perls, die sich dort auf der Flucht vor Faschismus und Rassismus in Deutschland befanden. Goodmans Ideen, besonders sein Anknüpfen an Wilhelm Reich und seine Vorstellung von «natürlicher Gewalt», passten hervorragend zu den Gedanken, die sie dabei waren, in «Ich, Hunger und Aggression» zu formulieren. Sie beschlossen, dass sie den Autor aufsuchen müssten, wenn sie jemals in die USA kämen. Sie kamen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA und sie suchten ihn auf. Die weitere Geschichte der Entstehung der Gestalttherapie lasse ich an dieser Stelle auf sich beruhen, um nun zu Goodmans kämpferischen Pazifismus zu kommen.

3

Auf drei Dinge möchte ich im Kontext der Bewertung der Zusammenarbeit von Laura und Fritz Perls mit Paul Goodman vor allem aufmerksam machen:

1. Laura und Fritz Perls störten sich nicht an Goodmans Kriegsdienstverweigerung. Sie hätten sie auch ablehnen können mit den Worten: ‹Nun, der hat gut reden, er sitzt im sicheren Amerika, während Andere unter dem Faschismus leiden, und weigert sich, gegen diesen zu kämpfen.› Wie gesagt: Sie lasen Goodmans Begründung für seine Kriegsdienstverweigerung, während der Zweite Weltkrieg noch nicht zuende ist. Sie müssen Goodmans Überlegung, dass Mitmachen beim Krieg dessen Verewigung bedeutet, jedenfalls so weit zugestimmt haben, dass sie ihn nicht als «Drückeberger» und «Feigling» im Kampf gegen die Mächte des Bösen sahen.

2. Laura und Fritz Perls und Paul Goodman formulierten ihre Theorie der notwendigen Aggression oder «natürlichen Gewalt» als Kontrapunkt zur unnatürlichen Gewalt des Kriegs nicht in den muffigen und gesellschaftlich starren 1950er Jahren, sondern gerade in der Zeit des Kriegs selber. Ihre gestalttherapeutische Theorie ist der meines Erachtens wichtigste Beitrag, die Dynamik des Kriegs zu verstehen. Ohne ein solches Verständnis kann keine sinnvolle oder in Neudeutsch: «nachhaltige» Strategie entwickelt werden, die den Krieg beendet. Der Ursprung der Gestalttherapie ist die Frage: Wie lässt Krieg sich verhindern?

Wichtig ist, sich vor Augen zu halten: Goodman legte keine geostrategischen Überlegungen zum Zweiten Weltkrieg vor. Er stellte keine Forderungen an die Regierung, dieses zu tun oder jenes zu unterlassen. Alles, was er sagte, war: Ich mache nicht mit. Einer muss anfangen aufzuhören. Einer muss anfangen, die Bedingungen, die zum Mitmachen beim Krieg führen, zu verändern.

3. Pazifismus, wie Goodman ihn entwarf und vorlebte, bedeutet ausdrücklich nicht Unterwerfung, bedeutet nicht Verzicht auf Gegenwehr und Verzicht auf Widerstand. Goodmans kämpferischer Pazifismus ist die Aufforderung, nach besseren, sinnvolleren, «nachhaltigeren» Wegen zu suchen, sich gegen Krieg und Tyrannei zu wehren. Nicht ducken, sondern mucken!, lautet seine Aufforderung. Aber diese Aufforderung formuliert Goodman nicht im Sinne der Bevormundung oder Besserwisserei Anderen gegenüber: Er sagt nicht, das er wisse, wie jemand Anderer sich zu verhalten habe, was dessen Antwort auf Krieg und Unterdrückung zu sein habe, sondern gibt eine Anleitung, sich selber darüber klar zu werden, was zu tun sei. Er sagt nicht, dass die Partisanen im Kampf gegen Hitler ihre Waffen niederlegen sollen. Er gibt eine Antwort für sich, für seine Person.

Ich komme noch einmal auf Gandhi zurück, den Goodman zwar wie gesagt kritisierte, jedoch auch für seinen gewaltlosen Widerstand bewunderte. Es wird behauptet, Gandhis gewaltloser Widerstand hätte nur bestehen können, weil die britische Kolonialmacht doch gewisse Zivilisiertheit an den Tag gelegt hätte, sei dagegen unwirksam bei Unterdrückern, die wie Stalin, Hitler oder Mao zu allem bereit sind. Ich will die Frage außen vor lassen, ob diese Einschätzung der britischen Kolonialmacht zutrifft, was man sicherlich bezweifeln kann. Denn die eigentliche Frage lautet: Was bringt der bewaffnete Kampf? Hat er mehr Erfolgsaussichten? Stalin hat der Suff erledigt, Mao ist friedlich im Bett entschlafen. Hitler wurde zwar militärisch besiegt, aber Hand aufs Herz, keiner der Alliierten führte gegen Hitler Krieg, weil Hitler ein Unterdrücker und Antisemit war; man führte Krieg um Territorien. Aber selbst wenn wir das unter den Tisch fallen lassen, ist die Bilanz des bewaffneten Kampfes, was diese drei Menschenschlächter betrifft, nicht so gut, als dass man ihm unumschränkt den Vorzug geben sollte.

Ein weiterer Einwand gegen die Strategie des gewaltlosen Widerstands oder zivilen Ungehorsams lautet, er sei nur möglich, wenn eine große Masse sich ihm anschließe. Aber gilt das nicht auch für den bewaffneten Kampf? Auch der bewaffnete Kampf verspricht nicht als Aktion einzelner Partisanen Erfolg. Ein Einzelner kann ein Attentat verüben, das ist richtig. Doch wie viele Attentate haben Potentaten überlebt? Und wenn nach dem Attentat nicht eine große Masse aufsteht, geht es danach genauso weiter wie zuvor, oder noch schlimmer. Attentate hatten oftmals den Effekt, dass die große Masse sich in Abscheu abwendet und dem Regime, das bekämpft werden sollte, zuwendet. Der Einzelne, der sich verweigert, wie Goodman es tat, mag erfolglos bleiben, zumindest trägt er nicht dazu bei, dass die Repression sich in Reaktion auf den gescheiterten Versuch eines Umsturzes verschärft.

Goodman sagte in einem Interview, er sei nicht Pazifist aus moralischen Gründen, sondern allein aus Gründen der Logik.[15] Die Logik des Kriegs ist unerbittlich und wir sehen sie heute in dieser Unerbittlichkeit am Werk; dazu komme ich auf die gegenwärtige Neubewertung der Kriegsdienstverweigerung durch führende Politiker und Literaten zurück, die früher meinten, einem Pazifismus das Wort reden zu sollen: Wenn der Krieg da ist, der unerbittlich einfordert, dass man für die moralisch richtige Seite Partei ergreift, ist es zu spät, um eine Armee aufzustellen, zu trainieren und mit Waffen auszustatten. Man muss lange vorher in Friedenszeiten eine Armee bereit halten, man muss Verweigerer verfolgen, man muss militärischen Drill ausüben, man muss Militärgerät produzieren und die Militärstechnik weiterentwickeln, und schließlich muss man Verbündete mit Militärgerät ausstatten. Die Logik der Verbündung und die Ausstattung der Verbündeten mit Militärgerät dreht dann auch schnell die moralische Begründung für den Krieg um. Wenn bei dem Verbündeten ein politischer Wandel eintritt, kann das Militärgerät an den Feind fallen; so geschehen etwa, als 1979/1980 die Iranische Revolution stattfand und dem neuen Regime all das Militärgerät in die Hand spielte, mit dem die USA das verbündete Regime des Schah von Persien ausgestattet hatte. Übrigens dies ein Regime, das vor Folter nicht zurückschreckte. Feiner Verbündeter, moralisch sauber. Kurz drauf kam es zum Überfall des Irak auf den Iran, und die USA unterstützten den Irak, also nicht nur einen klaren Aggressor, sondern zudem ein Regime, das nicht davor zurückschreckte, mitunter Giftgas gegen eigene, unliebsame Bevölkerungsteile einzusetzen. Feiner Verbündeter, moralisch sauber.

Wer sich aufs moralisch hohe Ross setzt und behauptet, es sei tatsächlich möglich, moralisch saubere militärische Bündnisse zu schmieden, verkennt die Logik des Kriegs. Der Feind meines Feindes muss mein Freund sein, zumindest vorübergehend. Um auf den Zweiten Weltkrieg zurückzukommen: Egal ob man die Moral auf der Seite der UdSSR oder auf Seite der Westalliierten sieht, es haben zwei Seiten sich aufgrund der Logik des Kriegs verbündet, die sich spinne Feind sind. Am Ende des Kriegs gegen den Krieg stand dann ein fortgesetzter Krieg. Und, ich muss es hinzufügen, was das moralisch saubere Bündnis der Westalliierten angeht, waren zwei der drei Beteiligten Kolonialmächte, die in ihren Kolonien die schlimmsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit begingen.

Dies alles ist zwar bekannt, wird aber in Zeiten des Kriegs verdrängt. Es erneut aufzuzählen, führt nicht zu einer Antwort auf die Frage, wie anders als durch Krieg man sich gegen kriegerische Angriffe und verbrecherische Regime zur Wehr setzen kann. Die Antwort auf diese Frage blieb Gandhi schuldig, Goodman blieb sie schuldig und auch ich kann sie nicht präsentieren. Doch es ist eine Aufgabe, sie zu finden. Nicht nach einer Antwort zu suchen und sich der Logik des Kriegs zu unterwerfen, bedeutet, den Krieg zu verewigen. Wir sollten lernen, Frieden zu führen statt Krieg zu führen,[16] so lautete Goodmans Überlegung.


[1] Heiner Geißer im Bundestag, 15. Juni 1983. www.youtube.com/watch?v=A2mxydZe09M

[2] Ralf Bönt in «der Freitag», online Ausgabe 22/2022. www.freitag.de/autoren/der-freitag/ralf-boent-zum-ukrainekrieg-ich-wuerde-den-wehrdienst-heute-nicht-mehr-verweigern

[3] Campino, dpa-Meldung vom 15. Mai 2022. www.zeit.de/news/2022-05/15/wegen-ukraine-campino-zweifelt-an-wehrdienstverweigerung

[4] Olaf Scholz, Meldung vom 04. Mail 2022. www.rtf1.de/news.php?id=32631

[5] Joschka Fischer, Parteitag der Grünen am 13. Mai 1999. www.swr.de/swr2/wissen/archivradio/joschka-fischer-nie-wieder-auschwitz-als-begruendung-fuer-kosovo-kriegseinsatz-100.html

[6] Dokumentarfilm Paul Goodman Changed My Life, 2011.

[7] Dennis Dollens, Interview with Percival Goodman, in: Peter Parisi (Hg.), Artist of the Actual: Essays on Paul Goodman, Metuchen, NJ 1986: The Scarecrow Press, S. 138.

[8] Anna M. Wittmann, Talking Conflict: The Loaded Language of Genocide, Political Violence, Terrorism, and Warfatre, Santa Barbara, CA 2016: ABC-CLIO, S. 116.

[9] www.iwm.org.uk/history/conscientious-objectors-in-their-own-words Vgl. auch John W. Chambers, To Raise an Army: The Draft Comes to Modern America. New York 1987: Free Press.

[10] In: Art and Social Nature, 1946. Drawing the Line, 1962. Drawing the Line (hg. Tayor Stoehr), 1977. Drawing the Line once again (hg. Taylor Stoehr), 2010.

[11] Deutsch im Goodman-Reader: Einmischung (hg. Stefan Blankertz).

[12] Designing Pacifist Films, 1961. Deutsch im Goodman-Reader.

[13] Paul Goodman, Five Years: thoughts during a useless time (Notizen der 1950 er Jahre), New York 1969: Vintage, S. 41. Ders., Die schwarze Fahne des Anarchismus (1968), in: Einmischung (hg. Stefan Blankertz, Bergisch Gladbach 2011: EHP, S. 104f.

[14] Parallele zu Adorno: Die bürgerliche Demokratie ist nicht die adäquate Alternative zum Faschismus, weil sie den Faschismus in sich trägt.

[15] Ausschnitte dokumentiert in: Paul Goodman Changed My Life, 2011. Datum des Interviews ist nicht bekannt. Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre.

[16] Designing Pacifist Films, 1961.