Progressive Era: Vorgeschichte des imperialistischen Sozialstaats

von Stefan Blankertz

 

Über zwanzig Jahre nach dem Tod von Murray Rothbard ist ein wesentliches Manuskript von ihm aufgetaucht. Über viele Jahre, schwerpunktmäßig 1978 bis 1981, hat er an einem Buch über die Progressive Era Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts gearbeitet. Teile aus dem Material sind zwar zu Lebzeiten publiziert worden, nicht jedoch das ganze Buch; Patrick Newman, der letztes Jahr seinen PhD an George Mason University erlangte, hat aus den nachgelassenen Aufzeichnungen von Rothbard den geplanten Aufbau rekonstruiert, Fußnoten und Quellen ergänzt und das 500-Seiten-Werk im Rahmen des Mises Institute, Auburn, publiziert.

 

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Die »Progressive Era« ist darum so entscheidend, weil sie der Ursprung ist des noch heute herrschenden politisch-ökonomischen Systems in den USA: des Systems, das aus der Kombination von einem verkrüppelten Restmarkt mit starken staatlichen Interventionen in die Wirtschaft, flankierendem Wohlfahrtsstaat, der die negativen Effekte des Interventionismus eher schlecht als recht mildert, Einschränkungen der Personenfreizügigkeit sowie einer imperialistischen Außenpolitik und der Entstehung des mit ihr zusammenhängenden militärisch-industriellen Komplexes besteht. Kurz: Die »Progressive Era« ist der Ursprung des Korporatismus in seiner spezifischen us-amerikanischen Form.

Schon vor Rothbard haben sich kritische Historiker mit der »Progressive Era« auseinandergesetzt. Besonders entscheidend für Rothbards Perspektive ist Gabriel Kolko,[1] ein marxistischer Historiker. Kolko hatte zu Beginn der 1960er Jahre die These formuliert und an verschiedenen Fallstudien durchgespielt, dass Monopolisierung, die Entstehung von Kartellen und Trusts – den heutigen »Konzernen« – nicht das Ergebnis der ungeregelten Marktkräfte gewesen sei (wie es neben vielen Marxisten auch und vor allem die »bürgerliche« Geschichtsschreibung in heiliger Eintracht darstellte), sondern das gezielte Ergebnis von staatlichen Maßnahmen; Maßnahmen, die der Öffentlichkeit jedoch als Schutz vor der Monopolisierung verkauft wurden. Rothbard integriert die vielen verstreuten Forschungsergebnisse zur »Progressive Era« zu einem Gesamtbild und stellt es auf die solide Basis der Österreichischen Schule der Ökonomie, die die damaligen Vorgänge zu erklären vermag.

Ob nun Eisenbahnen, Öl oder Zucker und andere landwirtschaftliche Produkte, die Versuche, angeblich wirtschaftlich rationale Monopole (meist in Form von Kartellen oder Trusts) zu errichten, führten auf dem Markt Ende des 19. Jahrhunderts zu katastrophalen Einbußen auf der Seite derjenigen, die sie anstrebten. Sie kauften die Konkurrenten auf, sie versuchten, die Konkurrenten durch Dumpingpreise aus dem Markt zu drängen, aber sobald sie dann nach ihrem scheinbaren Erfolg die Preise anhoben, um den von den Ökonomen versprochenen Monopolgewinn einstreichen zu können, erwuchsen unmittelbar neue Konkurrenten; die Kartellabsprachen brachen zusammen, die Trusts brachen wieder auseinander. In dieser Situation wandten sich die Akteure vom Unternehmertum ab und der Politik zu. Nun entwickelten sich die uns heute leider so geläufigen Instrumente, um die jeweiligen Konkurrenten mit politischen Mitteln zu bekämpfen. Kleinere Konkurrenten wurde man durch Regulierungen los, Hürden für den Markteintritt verhinderten die Entstehung von neuen Konkurrenten, Kartellabsprachen erhielten den Rang von staatlich-juristisch durchsetzbaren Verträgen usw.

Die Maßnahmen zur Bekämpfung von Trusts richteten sich immer selektiv gegen einen Trust, der im Moment politisch im Hintertreffen war. Es herrschte die politische Überzeugung, private Trusts seien zwar schädlich, aber sobald sie staatlich waren oder unter staatlicher Aufsicht standen, galten sie als Ausdruck fortschrittlicher und rationaler Wirtschaftlichkeit.

Der deutsch-amerikanische Bauingenieur Albert Fink,[2] Erfinder einer nach ihm benannten Bauweise von Eisenbahnbrücken, war vielleicht der erste, der erkannte, dass man, wenn man Kartelle nicht aus Basis von Freiwilligkeit formieren könne, sich an die Regierung wenden müsse, um das Vorhaben umzusetzen. 1875 formierte er eine Vereinigung, deren Aufgabe darin bestand, die Konkurrenz unter den Transportgesellschaften im Süden zu »mildern«, die Southern Railway and Steamship Association. 1876 notierte er: »Ob sich diese Kooperation [aller Spediteure der Region] durch freiwillige Übereinkommen erreichen lässt, ist zweifelhaft. Eine Überwachung durch die Regierungsautorität mag bis zu einem gewissen Grad notwendig sein, um das angestrebte Ziel zu erreichen.«

Großunternehmer und Konzernherrn spielen, lange vor Donald Trump, eine wichtige Rolle in der US-Politik, sowohl als Politiker wie auch als Berater oder Lobbyisten – durchaus nicht zum Vorteil des freien Marktes, ganz im Gegenteil: um ihn auszuhebeln und die (inländische oder ausländische) Konkurrenz zu schädigen.

 

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Der Begriff des Monopols, den Rothbard zugrundelegt, bezieht sich nicht auf einen Alleinanbieter, der die Kunden optimal versorgt, sondern der Preise höher oder die Qualität niedriger hält, als es möglich wäre. Seit dem Dokumentar-Film The Light Bulb Conspiracy[3] erhielt die alte, mir schon in meiner Jugend begegnete Behauptung neuen Auftrieb, die Lebensdauer von Glühbirnen werde aufgrund einer willkürlichen Setzung »der (kapitalistischen) Industrie« verkürzt, um den Umsatz anzuheizen.

Die Behauptung ist so einleuchtend, dass sie nur selten angezweifelt wird: Wenn ein Produkt, egal ob ein teures Auto oder ein Pfennigsartikel wie eine Glühbirne, schneller verschleißt, wird es eher nachgekauft, also macht der Hersteller mehr Umsatz.[4] Aber wenn die Lebensdauer einer Glühbirne von 2.000 auf 1.000 Stunden willkürlich um die Hälfte herabgesetzt werden kann, warum nicht gleich auf 500 Stunden? Oder wem das allzu kühn klingt, auf 750? Damit ließe sich doch ein noch höherer Umsatz erzielen! Auch für Autos wurde die Behauptung geplanten Verschleißes just in den 1950er und 1960er Jahren vorgebracht, wo in den USA Autos gebaut wurden, die noch heute auf Kuba fahren. Ende 1999 wurde in New York das letzte Checker-Cab-Taxi ausgemustert, 21 Jahre alt und 1,5 Mio. Gesamtlaufleistung. Wenn die Angehörigen der Mittelschicht damals sich alle zwei Jahre ein neues Auto kauften, dann nicht wegen der angeblich eingebauten Verschleißteile mit Sollbruchstellen. Denn die Autos führten nach ihrem Erstbesitzer meist ein langes Leben in zweiter, dritter und vierter Hand. Die Autoindustrie hätte doch genau doppelt so viele Autos absetzen können, wenn sie die Lebensdauer auf ein Jahr »begrenzt« hätte, oder? Diese Überlegungen allein reichen aus, um ein Fragezeichen hinter die Behauptung der Glühbirnenverschwörung zu machen. Aber der Reihe nach.

Ein Kartell der großen Glühbirnenhersteller hat es tatsächlich gegeben. Es wurde 1924 in Genf u.a. von General Electric, Osram sowie Philips gegründet und unter dem Namen Phoebuskartell bekannt, weil die Kartellmitglieder zu ihren Zwecken in der Schweiz die Firma Phoebus S.A. gründeten. Ziel des Kartells waren Gebiets- und Preisabsprachen sowie die Definition gemeinsamer Normen, um den Wettbewerb zu beschränken. Zu den Normen gehörte auch die von der Lebensdauer. Das Kartell hat offiziell bis 1941 bestanden, die Verfechter einer Bulb Conspiracy gehen jedoch davon aus, dass es inoffiziell sehr viel länger weitergeführt wurde und möglicherweise bis heute fortbesteht.

Das Kartell war mächtig, aber nicht allmächtig. Von Anfang an gab es kleinere Hersteller, die nicht dem Kartell angehörten. Sie stellten langlebigere, aber auch teurer und vor allem mehr Energie fressende Glühlampen her, die sich auf dem Markt nicht durchsetzen. In den 1930er Jahren endeten die Patente von General Electric, und japanische Hersteller forderten das Kartell heraus. In den USA antwortete General Electric mit einer gegen die Kartellabsprachen verstoßenden Preissenkung plus der politisch durchgesetzten Maßnahme eines Importzolls auf Glühbirnen. 1936 urteilte ein US-Gericht, dass trotz abgelaufener Patente deren Schutz fortgestehe. Außerhalb der USA gelangen Maßnahmen des politischen Schutzes nicht und der Marktanteil der dem Kartell angehörenden Unternehmen am Verkauf von Glühbirnen sank um mehr als ein Drittel.

Eine spätere Herausforderung für die 1.000-Stunden-Glühbirne des Phoebus-Kartells war die »Ewigkeitsglühbirne« von Dieter Binninger.[5] Für die Berlin-Uhr (»Mengenlehreuhr«) auf dem Mittelstreifen des Kürfürstendamms, Ecke Uhlandstraße, entwickelte er 1976 Glühbirnen, die die extrem lange Lebensdauer von 150.000 Stunden haben, weil das Auswechseln einen großen Aufwand bedeutete. Nach der Wende plante er, das Narva Glühlampenwerk in Ostberlin zu übernehmen, starb aber bei einem Flugzeugabsturz, bevor er dort die Produktion umstellen und aufnehmen konnte. Die lange Hand des Kartells? Das ist wenig glaubwürdig. Denn die von Binninger erfundene Technologie war patentiert, lag also vor und ist durch seinen Tod nicht aus der Welt geschafft. Dass die Binninger-Glühbirnen nicht in großem Umfang produziert wurden, liegt daran, dass weder Herstellung noch Betrieb wirtschaftlich ist, abgesehen von Sonderfällen, in denen der Birnentausch höhere Kosten verursacht als der Mehrverbrauch an Strom. Inzwischen haben LED-Lampen die Haltbarkeitsfrage sowieso erledigt. Warum hat das angeblich so mächtige Kartell, das vor Mord nicht zurückschreckt, bei der Entwicklung und Einführung der LEDs nicht nur einfach zugesehen, sondern selber kräftig mitgemischt?

Noch eine weitere Frage tut sich auf. Der Legende nach waren bereits die Narva-Glühbirnen deutlich haltbarer, es wird eine Lebensdauer von 2.500 Stunden genannt. Warum wurden sie nicht weiter produziert? Nun, hier werden Äpfel mit Birnen verglichen. Bei der Lebensdauer von 1.000 Stunden der ollen West-Birnen handelte es sich um einen Durchschnittswert, der im Alltag sowohl deutlich unter- als auch überschritten werden konnte. Bei den 2.500 Stunden Lebensdauer der hochwertigen Narva-Glühbirnen handelte es sich um den politisch vorgegebenen Soll-Wert, vom dem zweifelhaft ist, ob er als Durchschnitt jemals eingehalten wurde. Darüber hinaus nennt die Legende für chinesische Glühbirnen der Zeit vor der Reformphase 5.000 Stunden Lebensdauer. Auch wenn China und die Staaten des Warschauer Paktes keine Freunde waren, frage ich mich, warum Narva die Technologie der feindlichen Brüder nicht einfach kopiert hat. Das sollte laut der Bulb Conspiracy kein Problem gewesen sein, denn die Technologie war ihr zufolge jedem bekannt und hätte ohne Mehrkosten eingesetzt werden können.

Weiter zurück datiert ein vermeintlicher zusätzlicher Beweis für die Möglichkeit der langlebigen Glühbirne (vor der LED): Seit 1901 brennt das »Centennial Light«[6] in der Feuerwache der Stadt Livermore bei San Francisco, eine Glühbirne, die in den 1890er Jahren hergestellt wurde. Sicherlich stellt dies ein bemerkenswertes Phänomen dar. Die Glühbirne des »Centennial Light« emittiert allerdings ein Licht von nur noch gerade mal vier Watt, was nicht sehr vielversprechend für eine Alltagsbeleuchtung aussieht. Wenn es sich bei ihrer Konstruktion um ein für die Massenherstellung geeignetes und im Betrieb kosteneffizientes Prinzip handelte, warum haben es weder die chinesischen Kommunisten noch die ostdeutschen Sozialisten kopiert? (Das Prinzip der Konstruktion ist nicht geheim.) Auch hat »das Kartell« nie versucht, diesen angeblichen Beweis für seine Schuld zu unterdrücken und vor der Öffentlichkeit geheim zu halten. Im Gegenteil. Techniker von General Electric untersuchten die Glühbirne und bestätigten ihre Authentizität.

Am Rande notiert: Im Rahmen der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre wurde in den USA vorgeschlagen, alle Produkte mit einem Verfallsdatum zu versehen, nach dessen Ablauf sie bei einer Behörde abgeliefert und zerstört werden müssten. Auf diese Weise sollten der Konsum angeregt sowie Arbeitsplätze geschaffen werden. Das Buch Ending the Depression Through Planned Obsolescence des Autors Bernard London wird von Cosima Dannoritzer in Kaufen für die Müllhalde als ein weiterer Beleg für die Existenz geplanten Verschleißes[7] auch bei Glühbirnen herangezogen. Ganz abgesehen von der Frage, ob bzw. wie die Vorschläge tatsächlich umgesetzt wurden (nicht alles, was je geschrieben wird, wird auch realisiert), handelt es sich bei dem Vorschlag eindeutig um eine durch staatliche Intervention herbeizuführende Wegwerfwirtschaft, die sich offensichtlich gerade nicht von allein auf dem Markt etablieren würde: Denn wenn dem so wäre, bedürfte es des Eingriffs nicht.

 

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Von ihrer Formierung Ende der 1820er Jahre an bis kurz vor Ende des 19. Jahrhunderts war die Demokratische Partei in den USA die Partei der persönlichen und wirtschaftlichen Freiheit, des harten Geldes, kurz des Laissez Faire – »mit der einzigen, allerdings schwerwiegenden Ausnahme der Sklaverei«, wie Rothbard bedauernd hinzufügt. Die Republikanische Partei bzw. ihre Vorgängerpartei, die kurzlebige Whig Party, war hingegen die Partei des Zentralismus und Protektionismus sowie der Bevormundung in Fragen der persönlichen Lebensführung (zum Beispiel Alkohol-Prohibition und Verbot der Polygamie für die Mormonen), mit der einzigen Ausnahme, wie man hinzufügen müsste, in Punkto Sklaverei. Diese prinzipielle inhaltliche Entgegensetzung, in der die beiden dominanten Parteien um die Gestaltung der us-amerikanischen Gesellschaft rangen, hatte auch einen ethno-kulturellen (religiösen) Aspekt. Die Demokraten wurden hauptsächlich getragen von irischen und italienischen Einwanderern, Katholiken, lutheranischen deutschen Einwanderern sowie ostjüdischen Einwanderern, ökonomisch meist Angehörige der Arbeiterklasse. Die Demokratische Partei repräsentierte die Koalition derjenigen, die am meisten auf die wirtschaftliche Freiheit angewiesen waren und von ihr profitierten, sowie für die Aufrechterhaltung ihrer kulturellen Identität am meisten die Religionsfreiheit und die Freiheit benötigten, eigene Schulen gründen zu können. Aufgrund der falschen Parteinahme der Demokraten für die Sklaverei fehlten in dieser Koalition die Schwarzen von dem Zeitpunkt an, an dem sie wählen durften. Die Republikaner demgegenüber vertraten vor allem die WASPs.[8] Sie wurden im wesentlich unterstützt und finanziert von Industrie und Handwerk, die Schutzzölle nach außen und Monopolschutz nach innen anstrebten (wogegen die mächtigen Finanziers bis Ende des 19. Jahrhunderts eher die Demokraten unterstützen und dann erst auf das korporatistische Programm umschwenkten); das Fußvolk der protestantischen Fundamentalisten wünschte sich das Verbot von Alkohol und anderen Lastern sowie eine »Amerikanisierung« der Einwanderer mittels der öffentlichen Schule. Vor allem traten sie ein für eine Beschränkung oder gar gänzliche Verhinderung weiterer Einwanderung. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts hatte es eine gegen Einwanderung im Allgemeinen und Katholiken im Besonderen gerichtete Bewegung gegeben, die sich bezeichnenderweise Know-Nothing nannte und dann in der Republikanische Partei aufging. Ende des 19. Jahrhunderts fragte der Prediger einer mächtigen Vereinigung, die für Alkohol-Prohibition eintrat: »Wie lange wird die Republik noch dulden, dass ihre Seele zur Müllhalde wird von ungarischen Grobianen, böhmischen Banditen und italienischen Mördern?«

Seit Ende des 19. Jahrhunderts wird dieses republikanische Programm Progressivismus genannt, weil es gegenüber dem traditionellen amerikanischen Freiheitsideal »fortschrittlich« sei. »Die Katholiken christianisieren!«, war ein gängiger, gegen die überkommene Religionsfreiheit gerichteter Schlachtruf. Der Ku-Klux-Klan wütete nicht nur gegen Schwarze, sondern mit gleicher Gewalttätigkeit auch gegen Katholiken. Auf den wechselnden und instabilen Zusammenhang von Religion und politischen Prinzipien in der Entstehung des amerikanischen Korporatismus und dem weiteren Kontext der Geschichte der USA gehe ich weiter unten ein.

Ende des 19. Jahrhunderts kommt es zu einer schweren Wirtschaftskrise. Der Demokrat Grover Cleveland ist Präsident.[9] Obwohl die Krise eine Wirkung der zunehmenden Staatsinterventionen darstellt, die wohlgemerkt, teilweise auch die Demokraten mitgetragen oder wenigstens nicht wieder verringert hatten, wird sie von den Wählern dem Laissez Faire angelastet. Die Demokraten fahren eine Serie von katastrophalen Niederlagen ein, die Partei steht vor dem Aus. In dieser Situation sehen starke Kräfte der Partei die einzige Chance darin, sich von ihren traditionellen Werten zu trennen und den Republikanern anzunähern. Die Republikaner werden herausgefordert durch die neu entstandene People’s Party, den »Populists« – Ursprung des heute wieder überall gebräuchlichen Begriffs »Populismus«. Die »Populists«, im Wesentlichen eine Farmerpartei, vertreten ein Gemisch aus Forderungen nach mehr Freiheit auf bestimmten, weniger Freiheit, also Progressivismus, auf anderen Gebieten, je nach dem, wie es den Interessen ihrer Klientel am besten entspricht. Die Demokratische Partei ergreift die sich bietende Möglichkeit und übernimmt die Forderungen der Populisten weitgehend; die People’s Party verschwindet daraufhin wieder von der Bildfläche, während sich von nun an Demokraten und Republikaner kaum noch voneinander unterscheiden.

Mit der Präsidentschaft von Theodore Roosevelt,[10] Republikaner, triumphiert der Progressivismus. In der Zeit des Ersten Weltkriegs regiert der Demokrat Woodrow Wilson[11] und führt das Werk seiner republikanischen Vorgänger nahtlos fort. Der Seitentausch zwischen Republikanern, den zunächst radikaleren Progressivisten, und Demokraten, den zunächst noch konservativeren Kräften, findet dann im Übergang von Herbert Hoover[12] zu Franklin D. Roosevelt[13] statt. Der Republikaner Hoover wird in der Geschichtsschreibung meist dem Laissez-Faire-Lager zugerechnet, das sich mit der Großen Depression geschichtlich erledigt habe. Rothbard zeichnet in The Progressive Era genau nach, dass dies falsch ist. Hoover ist ein glühender Progressivist, der im Ersten Weltkrieg schon in anderen führenden Positionen die Einführung der Planwirtschaft vorangetrieben hat. Da die Interventionen zu einer immer höheren Arbeitslosigkeit führen, nimmt Hoover schließlich zu dem Mittel Zuflucht, die für Nordamerika konstitutive Freizügigkeit aufzuheben. »Durch Regierungsdekret verbannt Hoover im Effekt jede weitere Immigration in das Land. Um diese Politik, die Arbeitslosigkeit durch den Ausschluss von Menschen vom Arbeitsmarkt zu heilen, aufrecht zu erhalten, beschleunigt er mit aller Kraft die Deportation ›unerwünschter‹ Arbeitskräfte«, notiert Rothbard. Allerdings geht Hoover die Entwicklung, die er selber angestoßen hat, schließlich doch zu weit, und er will den Zug zum Interventionismus etwas abbremsen. Der Demokrat F.D. Roosevelt übernimmt 1933 das Steuer und beschleunigt wieder. Ein prinzipieller Unterschied besteht nicht. F.D. Roosevelts Feindschaft gegen Immigration geht so weit, dass er 1939 persönlich entscheidet, dass die St. Louis, ein Schiff mit knapp 1.000 jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland, keine Landeerlaubnis erhält und nach Europa zurückkehren muss.

Eine weitere wichtige Erkenntnis ergibt sich aus Rothbards detaillierte Rekonstruktion der Progressive Era. Der heute so gern als Ursache des Übel angeprangerte (Kultur-) Marxismus hat an ihr keinen Anteil. Von allen Personen, die bei der Entstehung und Durchsetzung des Progressivismus eine Rolle gespielt haben, identifiziert Rothbard nur eine als Marxistin. Vielmehr ist die treibende Kraft hinter dem Progressivismus eine Überzeugung, von der führenden Vertreter von Wirtschaft, Politik und Wissenschaft ausgehen, nämlich dass nur eine zentralstaatlich verwaltete Gesellschaft rational und verschwendungsfrei zu gestalten sei; und wenn dies nicht durch den Progressivismus gelinge, dann drohe eine (marxistische) Revolution; deshalb sprach der marxistische Historiker Gabriel Kolko, auf dessen Vorarbeiten Rothbard sich in The Progressive Era stützt, von der Durchsetzung des progressivistischen Programms als einem »Triumph des Konservativismus«. Ich habe vor einigen Jahren vorgeschlagen, es »Sozialismus der Eigentümer« zu nennen.[14] Die treibende Kraft waren ideologisch gesehen technokratischer Pragmatismus und wertfreie Wissenschaft, gewürzt mit einer Prise Nationalismus, und ökonomisch gesehen die Interessen von Großindustrie und Großfinanz.

 

4

Von Anfang an ist die Staatsschule ein Instrument zur Unterwerfung der Minderheiten sowie Abweichler und Homogenisierung im herrschenden Interesse, sei es in religiöser, sei es in sprachlicher, sei es in kultureller Hinsicht. In diesem Sinne ist das Konzept von den Vätern des Protestantismus, Luther und Calvin, erdacht worden und so wurde es von Fürsten und demokratischen Parlamenten umgesetzt. Selbst der in anderer Hinsicht konsequente Liberale Thomas Jefferson trat für einen (allerdings zeitlich beschränkten) verpflichtenden Besuch einer öffentlichen Schule als Mittel der politischen Bildung ein. Um »Qualifikation«, die heute im Fokus der erziehungs- und wirtschaftswissenschaftlichen Rechtfertigung der Staatsschule steht, ging es nicht, denn tatsächlich gab es andere Wege, auf denen sich die Menschen qualifizierten, wenn es ihnen denn nützlich erschien.

Murray Rothbard gibt in The Progressive Era Anhaltspunkte, um die Geschichte des us-amerikanischen Bildungswesens im Sinne seines Lehrers Ludwig von Mises zu analysieren. Als einen wesentlichen Punkt, um den Frieden und die Offenheit einer Gesellschaft zu sichern, sah Mises die Schulfrage an. Mises verortete das Problem vor allem in der Sprache, vermutlich weil er die belgischen und andere Sprachenkonflikte Europas im Blick hatte. Nicht etwa die von den Minderheiten sich bedroht fühlenden Mehrheiten erheischten das Mitleid von Mises, vielmehr die Drangsale der Minderheiten. »Es ist fürchterlich, in einem Staate zu leben, in dem man auf Schritt und Tritt der – sich unter dem Scheine der Gerechtigkeit verbergenden – Verfolgung durch eine herrschende Mehrheit ausgesetzt ist«, schrieb er in seinem bahnbrechenden Essay Liberalismus 1927. Zentrales »Mittel der nationalen Vergewaltigung« war für Mises die staatliche Zwangsschule, in der die Mehrheitskultur (bei ihm: Sprache der Mehrheit) gelehrt werde. Hier wird klar ersichtlich, dass Mises nicht nur keine Angst vor Parallelgesellschaften hatte, sie im Gegenteil in das Recht auf Sezession mit einschloss. Ohne Schulpflicht müsste »keine Sprachinsel es sich« mehr »gefallen lassen, sich bloß darum national vergewaltigen zu lassen, weil sie mit dem Hauptstamm des eigenen Volkes durch keine von Volksgenossen besiedelte Landbrücke in Verbindung steht«.

In Nordamerika war die Ausgangslage in der Schulfrage wie auch in vielen anderen Hinsichten der von Europa entgegengesetzt. Gegen den aus Europa mitgebrachten Spätfeudalismus und das Streben nach theokratischer Hegemonie der geflüchteten religiösen Dissidenten entwickelte sich schnell eine Form von pragmatischer Selbstbestimmung der Siedler, das Fundament des liberalen amerikanischen Freiheitsideals. Die religiösen Gruppierungen waren zu heterogen, als dass es einer gelang, mehr als nur eine lokale Tyrannei zu errichten. Im Zuge der kapitalistischen Entwicklung brachen die lokalen Tyranneien zunehmend zusammen und wichen der Erkenntnis, dass man nur in Frieden zusammenleben könne, wenn man sich gegenseitig in Ruhe ließe. Dies galt auch in der Frage von Erziehung, Schule und Bildung.

Dieser religiöse Burgfrieden hielt bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, obgleich es eine immer stärker werdende »wissenschaftliche« Forderung nach zentralstaatliche regulierten Bildungseinrichtungen gab. Was bewirkte nun die Veränderung? Es kam zu einer massiven Einwanderung von Iren und Italienern, die zumeist Katholiken waren. Sie verhielten sich, wie es Tradition in den USA war, indem sie Erziehung und Bildung für ihre Kinder weitgehend selber organisierten. Ihnen gesellten sich auch die aus Deutschland kommenden Lutheraner zu. Rothbard fasst diese Gruppe von Einwanderern als »Liturgiker« zusammen: Menschen, deren Kirche sie mit Geselligkeit und Seelenheil versorgt und die sich zudem auf ein gewisses Wohlleben verstehen, also dem Laster gegenüber relativ tolerant sind. Von den alteingesessenen religiösen Gruppierungen zählt er die Anglikaner zu den »Liturgikern«.[15] Sozioökonomisch sind diese Einwanderer die eher einfachen Leute und gehören mehrheitlich der Arbeiterklasse an. Sie sehen ihre Interessen durch die Partei des Laissez Faire, die Demokraten, vertreten. Gegen die »Liturgiker« stehen die evangelikalen »Pietisten«.[16] Die evangelikalen Gruppierungen haben sich seit den Kolonialzeiten stark verändert. Die Kirchen spielen eine nur noch geringe Rolle, an Stelle dessen muss sich jeder Einzelne um sein Seelenheil kümmern. Als Verbündeten im Kampf um das Seelenheil und der Ausmerzung vom Laster wünschen sie sich den starken Staat. Sie sehen ihre Interessen durch die Partei des Progressivismus, die Republikaner, vertreten.

In dieser Situation verbünden sich die »Pietisten« mit den »wissenschaftlichen« Schulreformern. Sie sind bereit, ihre Eigenständigkeit aufzugeben für das Ziel, die Einwanderer einer »Amerikanisierung« zu unterwerfen und nur Schulen zuzulassen, die in denen ausschließlich Englisch gesprochen wird – Ludwig von Mises lässt grüßen. Erste Versuche in Richtung auf die Abschaffung der Bildungsfreiheit finden Mitte des 19. Jahrhunderts statt, etwa in San Francisco: Nur mit öffentlichen Schulen sei es möglich, die »chaotischen« katholischen Einwanderer zu Amerikanisieren und ihnen den Geist »unserer Institutionen einzuhauchen«. Bis 1870 wurden die Einwanderer jedoch zur Mehrheit und sie konnten ihre Bildungsfreiheit wiedergewinnen.

Vorreiter eines weiteren Versuchs werden die Bundesstaten Illinois und Wisconsin, in denen von republikanischen Politikern durchgeboxte Gesetze 1889 die Schulpflicht verlängern und Englisch als Sprache auch in Privatschulen vorschreiben, »um die Gesellschaft zu einen und zu homogenisieren«. Den Einwanderern wird »römische Aggression« vorgeworfen. Gruppen deutschstämmiger Lutheranern und Katholiken führen den Protest an, an dessen Spitze sich demokratische Politiker stellen. Der demokratische Bewerber für den Gouverneursposten in Wisconsin ergänzte die Aussage seines republikanischen Widersachers: »Hände weg vom Schulhaus« mit: »… von allen Schulen«.[17] In den nächsten Wahlen feierten die Demokraten erdrutschartige Siege und 1892 wurde nicht nur der Demokrat Grover Cleveland erneut Präsident, sondern die Demokraten errangen außerdem die Mehrheit im Repräsentantenhaus; dass sie sowohl den Präsidenten stellten als auch die Mehrheit im Parlament hielten, war das erste Mal seit dem Bürgerkrieg. Aufgrund der Wirtschaftskrise, die Clevelands liberaler Wirtschaftspolitik angelastet wurde, verloren die Demokraten allerdings die nächste Wahl und wurden in der Folgezeit zum Schatten ihrer selbst.

Heute stehen wir in Deutschland und Europa bezogen auf die Schulfrage vor einem ähnlichen Phänomen wie die US-Amerikaner Ende des 19. Jahrhunderts: Aus Angst vor »Parallelgesellschaften« und ganz speziell vor der »Islamisierung« wird der Widerstand der Opposition gegen die staatliche Zwangs- und Einheitsbeschulung immer schwächer. Aber Zwangs- und Einheitsbeschulung ist mit Frieden inkompatibel, egal um welchen Konflikt es inhaltlich geht. Damals wie heute.

 

5

»Dies Land braucht einen Krieg«, schrieb 1895 Theodore Roosevelt (, später der erste Präsident mit einer voll ausformulierten Agenda des progressiven Korporatismus, an Senator Henry C. Lodge. Murray Rothbard zeigt auf, dass Kriegshetze und Progressivismus nicht im Gegensatz zueinander standen und nur etwa in einem bedauerlichen Ausnahmefall wie Roosevelt in einer Person vereinigt waren, sondern inhaltlich zusammengehören.[18]

Die Verkehrung der us-amerikanischen Außenpolitik begann,[19] in der zweiten Amtszeit von Grover Cleveland, im Unterschied zu Theodore Roosevelt ein Demokrat. Er erklärte den gesamten mittel- und südamerikanischen Kontinent zum militärischen Interessensgebiet der USA und modernisierte die us-amerikanische Marine, die er unter anderem mit angriffstauglichen Kriegsschiffen ausrüstete. Der Republikaner William McKinley,[20] unmittelbarer Vorgänger von Theodore Roosevelt, zettelte 1898 den Spanisch-Amerikanischen Krieg an, der zur Kontrolle der USA über die Philippinen, Hawaii, Kuba und Puerto Rico führte. Theodore Roosevelt, der während des Spanisch-Amerikanischen Kriegs sein Amt als Stellvertretender Marineminister niedergelegt hatte, um als Oberst eines Kavallerieregiments an der Front dienen zu können, hatte als Präsident nicht das »Glück«, einen größeren Krieg zu führen,[21] aber er knüpfte an die Linie von Cleveland an, indem er das Recht der USA erklärte, jederzeit in Mittel- und Südamerika militärisch einzugreifen, wenn dies im nationalen Interesse sei. Schließlich erhielt Theodore Roosevelt 1906 sogar (wie dann später andere Kriegstreiber auch, zuletzt Barack Obama) als erster US-Amerikaner den Friedensnobelpreis, weil er im Russisch-Japanischen Krieg erfolgreich vermittelt hatte.

Der Erste Weltkrieg und der Eintritt der USA in ihn 1916 kam für die Durchsetzung des progressiven Programms wie gerufen, und diese Phase beschreibt Rothbard in The Progressive Era eingehend. Industrie, Landwirtschaft und Handel wurden aufgerufen, sich unter die Hoheit von selber geschaffenen zentralen Planungsstäben zu stellen; wo dies nicht auf Anhieb klappte, halfen Gesetze nach. Es gab Preiskontrollen und Produktionsvorgaben, der Konsum von gewissen Waren wurde reguliert. Grosvenor B. Clarkson,[22] der während des Kriegs den Nationalen Verteidigungsrat geleitet hatte, schrieb 1923, der Weltkrieg sei »eine wunderbare Schule« gewesen, um die USA zu reformieren und zu verbessern. Vor allem ging es darum, dass Waren standardisiert und angeblich nutzlose Varianten vom Markt genommen wurden sowie den aufgrund von Konkurrenz hervorgebrachten Verschwendungen entgegengewirkt wurde. Am Ende stand nach Ansicht der Progressivisten eine geordnete und durch zentrale Planung effizient gemachte Wirtschaft, die sich in Harmonie mit dem Staat befinde. Noch 1964 bildete Herbert Marcuse sich ein, es sei kritisch gegen das herrschende System gerichtet, als er schrieb »Selbstbestimmung bei Produktion und Verteilung lebenswichtiger Güter und Dienstleistungen wäre verschwenderisch«, während in Wahrheit dies die Weisheit der kriegerischen repressiven Toleranz seit dem Ersten Weltkrieg darstellte.

Eine gute Illustration für die Unausweichlichkeit der Interventionsspirale und deren repressiven Auswirkungen ist die Zuckerversorgung im Krieg. Die kubanischen Zuckerlieferanten sollten zu einem niedrigen Preis gezwungen werden, wogegen sie sich zunächst wehrten. Mit einem Embargo von Weizen und Kohle wurde die Regierung von Kuba gefügig gemacht und sie zwang ihre Zuckerproduzenten, auf den niedrigen Preis der USA einzugehen. Um die einheimischen Zuckerproduzenten nicht in den Ruin zu treiben, wurde der billig in Kuba eingekaufte Zucker allerdings zu weit höheren Preisen in den USA verkauft. Doch auch die einheimischen Zuckerproduzenten wurden dazu angehalten, den Preis konstant zu halten. Als Folge des künstlich niedrig angesetzten Preises für Zucker kam es zu einer schwerwiegenden Zuckerknappheit, die die Regierung der USA mit der Rationierung von Zuckerkonsum beantwortete.

Was nun stellt die innere logische Verbindung zwischen Progressivismus und Krieg dar? Als erstes ist zu nennen, dass in einem Krieg sich zentrale wirtschaftliche Planungen und Regulierungen sowohl der Produktion und Löhne als auch der Preise durchsetzen lassen, ohne starken Widerstand der Betroffenen befürchten zu müssen, und darüber hinaus sogar Rationierungen, wenn es aufgrund der Regulierungen – und natürlich auch der Verschwendung von Ressourcen durch die Kriegshandlungen selber – zu Versorgungsengpässen kommt. Der Krieg ermöglicht darüber hinaus auch die Wertschöpfung durch Eroberung und Plünderung anstatt durch Produktion und Handel in gegenseitigem Einverständnis. Im Progressivismus haben die Plünderungen nicht mehr die hässliche Fratze wie in früheren Zeiten, sondern nehmen die Gestalt von Verträgen an, die angeblich den »fairen« Handel fördern, aber letztlich vor allem den ökonomischen Interessen der Sieger entsprechen.

Schließlich hat sich im Progressivismus eine Moralisierung der Politik herausgebildet, die nicht nur nach innen, sondern auch nach außen gerichtet ist. Der Staat ist nach progressiver (»pietistischer«) Ansicht dazu da, das Laster zu bekämpfen, die Sünde zu bestrafen und aus der Welt zu schaffen sowie eine moralisch geordnete Gesellschaft hervorzubringen. Wo immer eine Ungerechtigkeit oder ein Verstoß gegen die gesellschaftlichen Gebote zu beklagen ist, muss der Staat eingreifen und notfalls mit Gewalt die göttliche (oder, in säkularisierter Formulierung: soziale) Ordnung wiederherstellen. Dieses Verhältnis des Staats zur Moral soll nun auch für die internationale Ordnung gelten. Hatte Immanuel Kant in seiner Schrift zum Ewigen Frieden 1795 als Vorbedingung (»Präliminarartikel«) genannt, dass Staaten darauf verzichten, sich in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einzumischen, trug man nun den USA die Rolle als »Weltpolizist« an. So sehr ist diese Rolle verinnerlicht, dass die Welt, auch und gerade die progressiv denkende Welt mit Panik darauf reagierte, als es mit dem Amtsantritt von Donald Trump so schien, dass die USA diese ihre Rolle ablegen wolle. Inzwischen ist eine solche Gefahr allerdings zum »gottlob abgewendet und Trump zur Normalität des Interventionismus zurückgekehrt, zum Ewigen Krieg für den Ewigen Frieden.

 

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Wie nun ist dieser Zusammenbruch des Laissez Faire zu erklären, wenn man nicht der Linie der Standardgeschichtsschreibung folgen will, dass dessen Schwäche und dessen Krisenanfälligkeit die Ursache seien? Rothbard sagt, für eine Erklärung müssten wir »Ideologien (einschließlich der religiösen Doktrinen) und wirtschaftliche Interessen« betrachten.

Die wirtschaftlichen Interessen, die den Progressivismus konstituieren, sind entgegen der landläufigen Meinung nach Rothbards Rekonstruktion gerade nicht die Interessen der Arbeiter, Farmer, kleinen Handwerker und Händler, sondern die der Großindustrie und der Finanzwelt. Sie wollen Konkurrenten im In- und Ausland mittels staatlicher Mittel ausschalten, sofern und weil dies auf dem Markt nicht gelingt. Sie wollen staatliche Aufträge. Sie wollen, dass der Staat die Märkte überall auf der Welt zu ihrem Vorteil bereitet. Sie wollen vor Marktschwankungen geschützt werden. Die großen Gewerkschaften wollen die Löhne für ihre Mitglieder hoch halten, gerade dann, wenn weitaus ärmere und bedürftigere Arbeitskräfte auf den Markt drängen. Diese sind dann die gelackmeierten.

Allerdings können sich gesellschaftlichen Gruppen nur darum an den Staat wenden, um ihre Interessen zu bedienen, weil der Staat prinzipiell schon die Macht erlangt hat, solche Maßnahmen zu ergreifen. Diesen Aspekt vernachlässigt Rothbard in The Progressive Era etwas, weil er in diesem Buch sehr darauf bedacht ist, das Bild einer guten Zeit des Laissez Faire vor dem Progressivismus zu zeichnen. Wenn wir dagegen seine Geschichte des kolonialen Amerikas bis zur Amerikanischen Revolution, die vier Bände von Conceived in Liberty,[23] hinzunehmen, wird schnell klar, dass die USA von Beginn an gemischt sind aus Etatismus und Liberalismus. Die Zunahme der Staatstätigkeit folgt der Interventionsspirale. Sowohl die Krise, die zum Amerikanischen Bürgerkrieg 1861-1865 führt, als auch die, die 1893 den Zusammenbruch der Demokratischen Partei als Bollwerk des Laissez Faire nach sich zieht, gehen aus vorangegangenen Interventionen hervor.

Als ideologischen Gegensatz, der die Zeit des Progressivismus prägte, beschreibt Rothbard den zwischen »Liturgikern«, zu denen die katholischen und lutheranischen Einwanderer aus Irland, Italien und Deutschland, von den Einheimischen Amerikanern nur die Anglikaner zählten, auf der einen Seite, sowie den einheimischen evangelikalen »Pietisten«, zu denen unter den Einwanderer einige Gruppen aus Skandinavien zu rechnen waren. Die »Liturgiker« ordneten ihre gesellschaftlichen Angelegenheiten durch die Kirche und wollten vom Staat vor allem in Ruhe gelassen werden. Ihre Partei war die Demokratische. Die »Pietisten« sahen im Staat die Möglichkeit, ihre Vorstellung einer geordneten und sündenfreien Gesellschaft als Vorbereitung auf die Wiederkunft von Jesus Christus durchzusetzen. Ein zentrales Anliegen der »Pietisten« war das generelle Verbot von Alkoholkonsum, also die Prohibition. Darüber hinaus fochten sie für eine »Reinerhaltung« des Blutes und in diesem Sinne gegen Einwanderung. Die Beispiele für frühe eugenische Argumentationen, die Rothbard bringt, sind schockierend. Die Partei der »Pietisten« war die Republikanische. Eine Ausnahme von dieser Regel bildeten die Südstaaten, wo die Weißen zwar zu den »Pietisten« zählten, jedoch aufgrund der Rolle der Republikaner im Bürgerkrieg diese niemals gewählt hätten.[24]

Rothbard streift nur das Problem, dass diese ethnoreligiöse Zuordnung zu politischen Visionen keineswegs über die Zeit hinweg stabil ist. Wiederum Conceived in Liberty zu Rate ziehend können wir schnell sehen, dass die Quäker, im 19. Jahrhundert »Pietisten«, von denen nur ein kleiner Teil die Demokraten wählte, in der kolonialen Zeit radikale Libertäre, ja Anarchisten waren. Sie zahlten keine Steuern, beteiligten sich nicht am Militär und erkannten nichteinmal die staatlichen Gerichte an. Sie lehnten sowohl wirtschaftliche Eingriffe ab, wie sie zum Beispiel als Lohn- und Preiskontrollen bei den Puritanern üblich waren, als auch das Verbot von Lastern für die Mitmenschen, selbst wenn sie selbst streng asketisch lebten. Umgekehrt waren die Anglikaner naturgemäß eng mit der quasi-feudalistischen Kolonialverwaltung der britischen Krone verbunden. In Europa hatten die »Liturgiker« keine Probleme damit, die Staatsgewalt in ihrem Sinne einzusetzen, weder die Katholiken noch die Lutheraner.

Das auch von Rothbard häufig eingesetzte Beispiel des Bündnisses von »Thron und Altar« führt uns schnell zur Einsicht in die Ursache für die wechselnden Koalitionen religiöser Doktrinen mit der Staatsgewalt oder ihre Stellungnahme gegen sie: Man verbündet sich als Religiöser aus dem gleichen Grund mit dem Staat wie die Wirtschaftsvertreter, nämlich sobald man annimmt, die eigenen Anliegen durch Zuhilfenahme seiner Gewaltmittel umsetzen zu können. Man wendet sich gegen den Staat, wenn man kalkuliert, dass sich die eigenen Vorstellungen nicht machtpolitisch durchsetzen lassen. Damit ist der Kampf gegen den Staat, sofern er mit dem eigenen Interesse begründet wird, immer in der schwächeren Position; denn sobald man sich als der Stärkere fühlt, fördert es das eigene Interesse bedeutend mehr, seine Gewaltmittel auch zu nutzen. Dies ist das Geheimnis hinter den wechselnden Koalitionen, die die gesellschaftlichen Gruppen, ob ökonomische Interessen oder religiöse Eiferer, für oder gegen den Staat eingehen. Dies ist das Geheimnis, welches die zunehmende Staatstätigkeit erklärt.

Dies war der Vorbote des Unheils, das da kommen sollte. »Der Progressivismus«, fasst Rothbard zusammen, »brachte den Triumph des institutionalisierten Rassismus, der Entrechtung der Schwarzen im Süden, der Begrenzung der Immigration, des Ausbaus der Gewerkschaften durch die Zentralregierung zu einem starken Staat, der Großunternehmen, der großen Gewerkschaftsallianzen, der Verherrlichung militärischer Tugenden und der Wehrpflicht sowie des Drangs der USA ins Ausland. Kurz, die Progressive Ära etablierte das moderne amerikanische polit-ökonomische System.«

Aus diesem Kreislauf gibt es nur ein Entkommen, wenn man sich für die Durchsetzung der eigenen Interessen und Anliegen, egal worauf sie sich beziehen, nicht mehr an die Staatsgewalt wendet. Das ist die Lehre, die wir aus der allgemeinen Geschichte der Re-Etatisierung in den USA und besonders derjenigen des Progressivismus ziehen müssen. Das ist das Programm des Libertarismus.

[1] 1932-2014.

[2] 1827-1897.

[3] 2010, dt. Kaufen für die Müllhalde.

[4] Ob er auch einen größeren Gewinn macht, steht dann noch auf einem anderen Blatt.

[5] 1938-1991.

[6] Hundertjährige Licht.

[7] »planned obsolescence«.

[8] White Anglo-Saxon Protestants.

[9] Grover Cleveland, 1837–1908. Präsidentschaft 1893-1897, zuvor 1885-1889.

[10] Theodore Roosevelt, 1858-1919. Präsidentschaft 1901-1909.

[11] Woodrow Wilson, 1856-1924.

[12] Herbert Hoover, 1874-1964. Präsidentschaft 1929-1933.

[13] F.D. Roosevelt, 1882-1945.

[14] Stefan Blankertz, Die Katastrophe der Befreiung: Faschismus und Demokratie, Berlin 2015.

[15] Man könnte über Rothbard hinaus auch die einwandernden Ostjuden den »Liturgikern« zurechnen.

[16] Gemeint sind hier, wohlgemerkt, nicht die deutschen Pietisten des 18. und 19. Jahrhunderts, sondern es handelt sich wie bei dem Begriff »Liturgiker« um ein analytisches Kunstwort.

[17] Das heißt: auch von den privaten Schulen.

[18] Der Herausgeber von The Progressive Era, Patrick Newman, der das Buch aus Rothbards Notizen rekonstruiert hat, schreibt, Rothbard habe beabsichtigt, mehr über die Entwicklung der Außen- und Kriegspolitik in der Zeit des Progressivismus vor dem Ersten Weltkrieg zu schreiben, dies aber leider nicht getan.

[19] … wie Newman im Sinne von Rothbard skizziert …

[20] 1843-1901.

[21] Allerdings galt es, die Philippinische Widerstandsbewegung zu vernichten.

[22] 1882-1937.

[23] Veröffentlich sukzessiv 1975-1979.

[24] Bei den Begriffen Liturgiker und Pietisten handelt es sich wohlgemerkt um analytisch gebildete Kategorien, nicht um die Eigenbezeichnung der jeweiligen Gruppen. Rothbard greift hier zurück auf die Vorarbeiten von Paul Kleppner (1935-2016), Historiker und Politologe der Northern Illinois University.